Deutschland ist auf dem Weg zu einem modernen Einwanderungsland. Das ist die Einschätzung des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), der am Dienstag in Berlin seinen Jahresgutachten 2014 vorstellte. Damit legt der SVR eine bilanzierende Bewertung der Migrations- und Integrationspolitik der letzten fünf Jahre vor.
Ein positives Fazit ziehen die Wissenschaftler bei der Zuwanderungssteuerung, vor allem bei der Arbeitsmigrationspolitik sei ein Paradigmenwechsel verzeichnet worden. „Deutschland hat sich hier vom ‚Außenseiter‘ zum ‚Musterschüler‘ entwickelt: Die gesetzlichen Zuzugsmöglichkeiten für Fachkräfte und Hochqualifizierte sind 2012 weitgehend gelockert worden und gehören nun zu den liberalsten in den westlichen Industriestaaten“, sagte SVR Vorsitzende Prof. Dr. Christine Langenfeld. In wenigen Jahren sei hinsichtlich der Gesetzgebung ein Wandel von einem restriktiven zu einem liberalen Einwanderungsland erfolgt. Allerdings fehle Deutschland eine zuwanderungspolitische Gesamtstrategie, die die unterschiedlichen Wanderungsmotive wie Arbeit, Studium, Flucht, Familiennachzug in der Gesamtschau betrachtet und steuert.
Integrationspolitik mit Licht und Schatten
Licht, aber auch viel Schatten erkennt der SVR im Integrationsbereich. Vor allem im Bildungsbereich fällt die Bilanz des SVR ernüchternd aus: Bei Schülern mit Migrationshintergrund zeigen sich immer noch deutliche Leistungsrückstände, auch wenn sie inzwischen besser abschneiden. „Der Institution Schule gelingt es noch zu wenig, die Startnachteile von Schülern mit Migrationshintergrund auch nur annähernd auszugleichen“, betonte Langenfeld. „Diese Herausforderung muss noch entschiedener angegangen werden“, sagte die SVR Vorsitzende. Hierfür müsse der Unterricht stärker individualisiert gestaltet werden und Lehrer müssten besser auf den Umgang mit einer heterogenen Schülerschaft vorbereitet werden.
Eine gemischte Bilanz zieht das Expertengremium beim Anerkennungsgesetz. Damit besteht erstmals ein Rechtsanspruch auf eine Prüfung, ob ein im Ausland erworbener Berufsabschluss gegenüber einem deutschen Abschluss gleichwertig ist. Dies soll Zuwanderern eine ihrer Qualifikation entsprechende Integration in den Arbeitsmarkt erleichtern. „Das Gesetz selbst ist ein Meilenstein, allerdings hakt es noch bei der Umsetzung“, sagte Langenfeld. Es fehlt an einheitlichen Regelungen und in Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt ist das Gesetz auch nach zwei Jahren nicht umgesetzt. Zudem ist unklar, inwieweit die Bundesländer die Anerkennung eines Abschlusses wechselseitig akzeptieren. „Dies muss sichergestellt sein. Alles andere wäre widersinnig“, so Langenfeld.
Pragmatisch-positives Integrationsklima
Insgesamt zeigt das SVR-Integrationsbarometer „ein pragmatisch-positives Integrationsklima und damit die Chance und die Offenheit, auf dem eingeschlagenen Weg weiter voranzugehen“, so die Wissenschaftler. Das zeigt sich unter anderem auch bei der Fragen nach dem Wunsch nach mehr Zuwanderung von Hochqualifizierten aus Drittstaaten. Dies wird mehrheitlich befürwortet. Vergleichsweise niedrig fällt diese Zustimmung allerdings bei Befragten mit türkischen Wurzeln (56,2 %) und bei Spätaussiedlern (jeweils rund 56 %) aus. Bei Befragten ohne Migrationshintergrund und aus anderen europäischen Ländern liegt die Zustimmungsquote durchweg bei weit über 60 %.
Integrationspolitischen Handlungsbedarf attestiert das Barometer auch bei der interkulturellen Öffnung. Personen mit und ohne Migrationshintergrund sind mit deutlicher Mehrheit der Ansicht, dass Zuwanderer im Bildungsbereich, im öffentlichen Dienst und auch in der Politik nicht ausreichend vertreten sind. Entsprechend sagt eine deutliche Mehrheit der Befragten, dass mehr Zuwanderer als Lehrer, Mitarbeiter in öffentlichen Behörden, Polizisten und Richter eingestellt werden und auch mehr Abgeordnete mit Migrationshintergrund im Deutschen Bundestag vertreten sein sollten.
Diskriminierung betrifft einzelne Gruppen
„Auch wenn das Integrationsklima insgesamt positiv bewertet wird, kann und soll dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Zusammenleben in der immer vielfältigeren Gesellschaft nicht in jeder Hinsicht rosig aussieht“, heißt es in dem Gutachten. So weist das Integrationsbarometer darauf hin, dass Menschen mit Migrationshintergrund im Alltag unterschiedliche Formen von Diskriminierung wahrnehmen. Schauplätze solcher Diskriminierungserfahrungen sind insbesondere Bildungsstätten, der Arbeits- und der Wohnungsmarkt.
Download: Das Jahresgutachten 2014 des Sachverständigenrates für Integration und Migration „Deutschlands Wandel zum modernen Einwanderungsland“ inklusive Integrationsbarometer können Sie auf hier herunterladen.
Besonders Türkeistämmige sowie Befragte aus der „übrigen Welt“ fühlen sich auffallend häufig diskriminierend behandelt, während Befragte ohne Migrationshintergrund und jene aus einem EU-Mitgliedstaat sehr viel seltener über Diskriminierungserfahrungen berichten. So geben Befragte mit türkischem Migrationshintergrund in sieben von acht Bereichen des täglichen Lebens am häufigsten an, dass sie im vergangenen Jahr benachteiligt wurden. Auffällig ist insbesondere, dass sie in vergleichsweise hohem Maße Diskriminierung bei der Religionsausübung wahrnehmen. Da unter den Türkeistämmigen viele Muslime sind, liegt die Vermutung nahe, dass sie eine ‚Islamfeindlichkeit‘ erleben. „Das weist darauf hin, dass Personen mit bestimmten äußeren Erscheinungsmerkmalen häufiger diskriminiert werden“, so die Einschätzung der Experten.
Gleichstellung des Islam
Bei einer anderen zentralen integrationspolitischen Herausforderung, der institutionellen Gleichstellung des Islam, sieht der SVR Fortschritte, aber auch Rückschläge. „Die Anstrengungen der Politik haben an vielen Stellen Früchte getragen: Fortschritte konnten vor allem bei der Etablierung von islamischem Religionsunterricht als ordentlichem Lehrfach an Schulen und dem Ausbau islamischer Theologie an den Universitäten erzielt werden“, teilt der SVR mit. Zugleich zeige die aktuelle Debatte um die Besetzung eines Lehrstuhls für islamische Theologie und die Reichweite wissenschaftlicher Autonomie, dass ein offener und kritischer Diskurs über die Weiterentwicklung des Islam und seine Stellung im pluralen Staat dringend nötig sei. „Auch wenn Deutschland bei der institutionellen Gleichstellung des Islam vorangekommen ist, bleibt von Seiten des Staates, aber auch der islamischen Verbände noch viel zu tun“, sagte Langenfeld. Die islamischen Verbände müssten Anstrengungen zur Gründung einer oder mehrerer islamischer Religionsgemeinschaften mit transparenten Strukturen weiter vorantreiben.
„Insgesamt ist Deutschland in den letzten Jahren aber vorangekommen, auf der einen Seite die institutionelle Gleichstellung des Islam voranzutreiben und auf der anderen Seite gleichzeitig zu vermeiden, religiöse Sonderrechte zu etablieren. Diese Politik der ‚Gleichstellung ohne Sonderrechte‘ findet Unterstützung in der Bevölkerung“, so der SVR weiter. Das zeige das SVR-Integrationsbarometer, das sich in diesem Jahr erstmals der Frage der institutionellen Gleichstellung des Islam widmet. Danach ist die Mehrheit der Bevölkerung bereit, den Islam institutionell mit anderen Religionen gleichzustellen: Eine knappe Mehrheit der rund 5.660 Befragten mit und ohne Migrationshintergrund befürwortete den islamischen Religionsunterricht an Schulen (51,3 mit bzw. 55,1 % ohne Migrationshintergrund). Etwa zwei Drittel (63,3 bzw. 68,9 %) sprechen sich dafür aus, dass islamische Theologie an deutschen Universitäten gelehrt wird. Religiös begründete Wünsche nach einer „Sonderbehandlung“ stoßen hingegen auf Skepsis: Eine Befreiung vom Sport- bzw. Schwimmunterricht aus religiösen Gründen wird deutlich abgelehnt (68,0 % mit bzw. 75,9 % ohne Migrationshintergrund), ebenso wie eine Erlaubnis für muslimische Lehrerinnen, an staatlichen Schulen Kopftuch zu tragen (54,8 % mit bzw. 63,1 % ohne Migrationshintergrund).
Ist der Islam ein Teil Deutschlands?
Das SVR-Integrationsbarometer zeigt ebenfalls, dass es noch „Anstrengungen, Zeit und ein kluges Handeln der beteiligten Akteure erfordert“, bis der Islam als ein selbstverständlicher Teil der religiösen Vielfalt Deutschlands betrachtet wird. Die Bewertung des Satzes „Der Islam ist ein Teil Deutschlands“ ergibt jedenfalls eine knappe Verneinung. 53,2 % der Befragten ohne Migrationshintergrund lehnten die Feststellung „Der Islam ist ein Teil Deutschlands“ „eher“ oder „voll und ganz“ ab, 45,2 % stimmten der Aussage zu. Ein umgekehrtes Bild ergab sich bei den Befragten mit Migrationshintergrund: Hier bejahte eine knappe Mehrheit (54,0 %), dass der Islam „eher“ oder „voll und ganz“ ein Teil Deutschlands ist. Aber auch hier verneinten dies 44,0 Prozent.
Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoğuz, sieht nach diesen Umfrageergebnisse, „die Politik in der Pflicht, mehr Raum für tägliche Begegnungen zu schaffen, für mehr gegenseitiges Verständnis zu werben und die religiös-kulturelle Pluralität in Deutschland sichtbarer werden zu lassen“. Für den Zusammenhalt der Gesellschaft sei mitentscheidend, wie man mit immer größer werdender Diversität umgehe.
Langenfeld warnte davor, aus diesen Zahlen voreilige Schlüsse zu ziehen: „Wer glaubt, daraus eine generelle islamskeptische oder gar islamfeindliche Haltung der Bevölkerung ableiten zu können, der irrt. Wer jedoch die Augen vor diesem Thema verschließt und meint, es müsse in der Weiterentwicklung der institutionellen Gleichstellung und in den interreligiösen Beziehungen nichts geschehen, der irrt ebenfalls.“ Die Ergebnisse des Integrationsbarometers seien ein wichtiges Signal, das nicht ignoriert werden dürfe.
Flüchtlinge in Not unbürokratisch aufnehmen
Mit dem im Sommer 2013 auf europäischer Ebene verabschiedeten Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) sind vor allem verbesserte Regelungen für Asylverfahren und Schutzstandards festgelegt worden. Sie können zu mehr Rechtssicherheit für Flüchtlinge führen und die Grundlage für eine einheitliche europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik bilden. „Die gleichmäßige Durchsetzung dieser Standards in allen EU-Staaten bleibt allerdings weiterhin eine große Aufgabe“, sagte Langenfeld. Zudem sei das zentrale flüchtlingspolitische Problem einer ungleichen Verteilung von Asylsuchenden auf die einzelnen EU-Mitgliedstaaten nicht gelöst. Schließlich sollten Flüchtlinge in akuten Krisensituationen einen temporären Schutzstatus bekommen, der eine unbürokratische Aufnahme einer großen Zahl von Schutzsuchenden ermöglicht.
In die Kategorie der verpassten Chancen gehört laut SVR zudem der von der Bundesregierung vereinbarte Kompromiss zum Staatsangehörigkeitsrecht. Damit werde zwar die Optionspflicht abgeschafft. Allerdings werfe die Regelung zwei neue Probleme auf: Zwischen dem Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt einerseits und durch Einbürgerung andererseits entsteht eine nicht nachvollziehbare Asymmetrie. Ausgerechnet Zuwanderern, die sich einbürgern lassen wollen und die dazu nicht nur ein gesichertes Einkommen und Deutschkenntnisse nachweisen, sondern auch einen Einbürgerungstest bestehen müssen, bleibe die doppelte Staatsangehörigkeit verwehrt.
Politik weiterhin gefordert
„Außerdem bleibt mit dem Kompromiss das Problem einer unbegrenzten Vererbung der Staatsangehörigkeit des Herkunftslandes ungelöst. Die Folge sind politisch und rechtlich problematische Mehrfachstaatsangehörigkeiten. Einen Lösungsweg bietet das vom SVR propagierte Modell einer doppelten Staatsangehörigkeit mit Generationenschnitt“, so der SVR. Damit würde eine unbegrenzte Weitergabe der Staatsangehörigkeit und damit eine Anhäufung von Mehrfachstaatsangehörigkeiten vermieden.
Insgesamt kommt der SVR zu dem Ergebnis, dass Deutschland nach vielen Jahren einer migrations- und integrationspolitischen Lethargie weiter Tritt gefasst hat und sich auf dem Weg zu einem modernen Einwanderungsland befindet. Hier sei die Politik weiterhin gefordert, die anstehenden Fragen anzupacken. Bei der Integrationspolitik wäre mehr Dynamik geboten: „Vor allem bei der Bildungsintegration, im Staatsangehörigkeitsrecht und auch bei der institutionellen Gleichstellung des Islam besteht weiterhin politischer Handlungsbedarf“, so der SVR weiter. Das Gutachten zeige, dass mit Blick auf die demografische Entwicklung und die Veränderung der Gesamtgesellschaft durch Einwanderung die Integrations- und Migrationspolitik weiterhin zentrale Politikfelder bleiben werden. (eb)