Rattenschwänze und frittierte Hühnchen

Eine vietnamesische Mutter, ein Student und das Abenteuer mit den Ämtern

Unzählige Anträge wurden ausgefüllt und Dokumente eingereicht, die es eigentlich gar nicht gab. Eine Odyssee eines Studenten mit einer alleinerziehenden vietnamesische Mutter durch den berliner Behörden-Jungle – Sándor Namesnik erinnert sich.

Es war ein typischer grauer Januartag in Berlin. Einige Kommilitonen und ich saßen im Café „die Krähe“ im Hauptgebäude der Humboldt-Universität und tranken Kaffee. Wir redeten wie meist über Auslandsaufenthalte, Faulheit im Alltag und ungewisse Zukunft. Mein Auslandssemester in Hanoi war nun schon ein Jahr her und statt meine Pläne zu realisieren, mich in Berlin einzubringen und zu engagieren, saß ich eben in Cafés. Statt meine Vietnamesischkenntnisse zu nutzen, verlernte ich sie stetig.

An diesem grauen Januartag aber bekam ich einen Anruf. Während die Frau am anderen Ende mir ihren Namen nannte und mich fragte, ob ich Zeit hätte, wusste ich weder meinen Kopf so schnell auf Vietnamesisch umzustellen, um eine ordentliche Antwort hervorzubringen, noch fiel mir schnell genug ein, woher ich diese Person kannte. Dennoch willigte ich ein. Erst Minuten nach meiner Zusage fiel es mir wieder ein.

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Ich erzählte meinen Kommilitonen von Linh Tran, die gerade mal ein Jahr älter ist als ich und mir im Sommer 2012 in einer E-Mail vorgestellt wurde: „Lieber Sándor, wir bedanken uns noch einmal herzlich bei dir, dass du dich bei uns angemeldet hast. Wir haben vor Kurzem von Frau Tran erfahren. Sie ist hochschwanger und kommt zu einer Beratung zu uns. Kannst du auch kommen, um zu übersetzen?“

Das Kennenlernen mit Linh
Ja, so habe ich Linh kennengelernt. Es war ein Freitagmorgen um 10 Uhr in der Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg in einer Bäckerei, als wir uns das erste Mal trafen. Während wir auf den Termin bei der Beratungsstelle warteten, hielten wir Smalltalk. Ich verstand nicht alles. Sie kam aus Hai Phong, einer Hafenstadt im Norden Vietnams. Fünf Jahre arbeitete sie als Nageldesignerin in Tschechien. Dann wurde sie schwanger. Der Erzeuger des Kindes – verheiratet mit einer anderen Frau und Vater – komplimentierte sie nach Berlin.

Vom Amtstermin – es ging um Kostenübernahmen bei schwangerschafts- und geburtsbedingten Arztterminen und Krankenhausaufenthalten – blieb nicht viel im Gedächtnis. Ich weiß nur, dass ich sehr enttäuscht war. Ich hatte den Eindruck, nicht helfen zu können und ärgerte mich über meine zunehmend mangelhaften Vietnamesischkenntnisse. Und darüber, dass ich eigentlich nur an das Fußball-Länderspiel der deutschen Nationalmannschaft am Abend dachte. Bier, Freunde und Fußball besiegten die Enttäuschung über diesen ersten bescheidenen Versuch, mich sozial zu engagieren.

Knapp zwei Jahre später
Linh lebte immer noch in Berlin. Ihre Duldung muss wohl verlängert worden sein und mehr noch: Sie hatte ihr Kind hier bekommen. Dieses musste schon an die 6 Monate alt sein. Jetzt wollten wir uns also ein zweites Mal treffen.

Direkt unter den S-Bahn Gleisen in Berlin-Spandau stand ich nun wie alle anderen, ein belegtes Brot in der linken und einen kleinen Kaffee in der rechten Hand. Normalerweise drehe ich mich um diese Zeit noch einmal aufs andere Ohr. Stattdessen hatte ich schon eine Stunde S-Bahnfahrt hinter mir. Linh und ich begrüßten uns sehr distanziert, sehr schüchtern, unwissend, worüber wir reden sollten. Ein kleiner flüchtiger Blick in den Kinderwagen zeigte mir, dass sie noch schlief, die kleine Tina Bich Thu. Linh erzählte mir, was sie vom Bürgeramt wollte. Und ich fühlte mich fast ohnmächtig. „Natürlich, das mit dem Übersetzen kriegen wir schon irgendwie hin….“ An mehr dachte ich auch nicht. Aber nun sollte ich behilflich sein, die kleine Tina zu einer Deutschen zu machen und so über das Schicksal dieser Zwei-Personen-Familie mit zu entscheiden. Es begann eine Odyssee, die ein Jahr andauern sollte.

Regelmäßig musste ich nun an Tagen, in denen ich nicht in die Uni, nicht zur Arbeit gehen brauchte, den Weg nach Berlin-Spandau auf mich nehmen. Linh wartete praktisch auf Tage, an denen ich frei hatte. Nach Stunden des Wartens in den eigentlich ganz schön anzusehenden Hallen des Spandauer Rathauses, nach peinlichem Füllen dieser Stunden mit Gesprächen über Studium, Familie und Vietnam, nach mehrmaligem Hin-und-her-geschickt-worden-Seins zwischen Bürger- und Standesamt, nach eben so vielen Anfragen an den leiblichen deutschen Vater Tinas, der Vollmachten abzugeben und dringend benötigte Unterlagen des Standesamtes einzureichen hatte, nach überhaupt endlosen Gesprächen mit den Frauen hinter den Schreibtischen, die nicht verstanden, weshalb Tina bei der Mutter wohnt, aber dennoch den Nachnamen des Vaters trägt („ach wissen Sie was, in Vietnam ist das halt so“), erfuhr ich etwa einen Monat nach unserem zweiten Treffen im S-Bahnhof per SMS, dass Tina den deutschen Pass bekommen hatte. Jetzt konnten die nächsten Schritte angegangen werden: Linh wollte Deutsch lernen und Tina sollte in den Kindergarten.

Losgetreten
Wir wussten nicht, was wir damit lostreten würden. Wir hatten keine Ahnung, wie kühn diese lapidaren Wünsche waren, welches Unheil sie mit sich bringen würden, welch Geduld und langen Atem sie erfordern würden. Um an einen Deutschkurs teilnehmen zu können, brauchte Linh noch eine Sozialversicherungsnummer, eine Steuer-ID, eine Krankenversicherung, Sozialgeld, Kindergeld, Elterngeld. All das musste beantragt werden. In jedem Computer von Finanz-, Bürger-, Standes- und Jugendamt mussten Linhs Name und der ihrer Tochter erst mal eine anerkannte, registrierte Zahl werden. Für das Jobcenter und die Krankenkasse mussten Anträge ausgefüllt, weitere Unterlagen besorgt, Umstände erklärt werden. Nie werde ich das sprachlose Gesicht der Frau im Jobcenter vergessen, als wir ihr begreiflich machen wollten, warum einige Felder im Antrag für Sozialgeld einfach nicht ausgefüllt werden konnten. „Worin bestand das vorherige Einkommen der Bezugsgemeinschaft?“ Der SGB II Antrag schien nicht gemacht für eine vietnamesische Nageldesignerin mit abgelaufenem Arbeitsvisum für Tschechien, schwanger von einem verheirateten Mann, der ihr sagte, in Berlin ließe sich ein Kind einfacher großziehen. Eine Frau, die das gesamte Jahr nach der Einreise bei Freunden und Bekannten untergebracht war und alles Lebensnotwendige von diesen Menschen vorgestreckt bekam. Auch das Feld des Unterhaltes gestaltete sich schwierig. Wie ich vermutet hatte, bezog sie keinen formalen Unterhalt vom leiblichen Vater. Der war immer da, wenn es brenzlig wurde und half mit Geld, Lebensmitteln oder Windeln aus. Aber wie sollten wir nun diese Anträge ausfüllen? Wir überschlugen einfach einen monatlichen Schätzwert und füllten ihn in das Feld für den Unterhalt.

Weiter ging es zum Jugendamt, wo wir weitere Antragsformulare für Eltern- und Kindergeld bekamen. Wir nahmen sie mit zu ihr nach Hause und versuchten sie auszufüllen. Linh bereitete gegrillten Tintenfisch zu, während ich versuchte, aus dem Behördendeutsch schlau zu werden und die aufgebrachte, übermüdete Tina zu beruhigen. Wieder brachten mich die Anträge an meine Grenzen. Unterlagen, von dessen Existenz ich nie wusste, sollten wie selbstverständlich beigefügt werden. Bei manchen Dokumenten – ich vergaß längst, um welche es sich handelte – wusste ich nicht einmal, wo man sie herbekommt. Bei anderen war es frustrierender. Zum Beispiel bei dem Schreiben des Standesamtes, das die deutsche Staatsbürgerschaft Tinas bestätigte. Dieses wird nur einmal als Original ausgehändigt und ist extra für das Jugendamt gedacht. Durch vorheriges Abgeben beim Jobcenter war es aber nicht mehr da. Außerdem stieß ich immer wieder auf Felder, die durch Linhs besondere Situation einfach nicht anzukreuzen waren. Für einen anderen Punkt mussten wir den leiblichen Vater Tinas einen handschriftlichen Zettel schreiben lassen, in dem er versichert, dass er regelmäßig unseren zuvor erfundenen Betrag an Unterhalt zahlt. Die Steuer-ID Nummer von Linh, die wir einfach online beantragen konnten, die aber Wochen benötigte, per Brief einzutreffen, gaben wir wie nachträglich beim Pförtner im Briefkasten ab.

Sympathiepunkte sammeln
Als nächstes stand die AOK auf unserer Liste, da Linh bis dato über keine Krankenversicherung verfügte. Dort wunderte man sich schwer, dass Tina bereits familienversichert, Linh als Mutter jedoch nicht einmal im System erfasst war. Hier begriff man glücklicherweise, dass es möglich ist, alleine bei der Mutter zu wohnen, aber beim Vater krankenversichert zu sein. Und als Tina begann zu schreien, begriff man noch schneller, schenkte ihr AOK-Bälle und Lutscher. Wir konnten nichts anderes, als sie überall mitzunehmen, was wegen des Kinderwagens nicht unbedingt leicht fiel, aber genau das brachte die nötigen Sympathiepunkte und Ablenkungen in den Wartesälen und Büros, die wir brauchten, um die Tortur zu überstehen. Mit der Zeit wurde es immer selbstverständlicher für mich, schon gegen 5.30 Uhr aufzustehen, um pünktlich in Spandau zu sein, weil man ohne Termin zu späteren Uhrzeiten einfach keine Chance mehr beim Kinderarzt hat.

Und auf jedem Amt das gleiche Ritual: Ein Lob für meine Sprachkenntnisse, wo ich denn eine so exotische Sprache erlernt hätte. Es lag wohl an der Sprachbarriere, dass Linh und Tina praktisch ignoriert wurden. Dennoch erschien es mir manchmal unverschämt, wie man sich nach meiner Person, meinem Studium erkundigte, während die eigentlichen Kunden Linh und Tina praktisch nie über das Objekt einer „Bezugsgemeinschaft“ hinaus wahrgenommen wurden.

Wie oft saßen wir im Kentucky Fried Chicken in den Spandau Arcaden, teilten uns die Rechnung, fütterten Tina mit kleinen Pommes, warteten darauf, dass dieses oder jenes Amt seine Pforten öffnete. Ein beliebtes Gesprächsthema: Hähnchen. Sie bemerkte, dass Deutsche Hähnchenflügel anders aßen als Vietnamesen, dass Deutsche die Knochen und die Knorpel nicht zu würdigen wüssten und ich hielt dagegen, dass ich das nicht so verallgemeinern würde. Schließlich nagte ich, wie sie, genüsslich alle vorhandenen Knorpel ab.

Und immer fehlten Unterlagen
Dennoch würde mich nie niemand für einen Vietnamesen halten. Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, doch die Tatsache, dass ich einen ungarischen Vater habe, so kam es mir vor, gab Linh den Grund, mich als „Neutrum“ wahrzunehmen, als nicht unbedingt „deutsch“. Bald begannen wir auch Eisbecher zu essen, bei Konditoren Kuchen und Kaffee zu bestellen und zwischen all den Rentnern Platz zu nehmen. Witzige Szenen waren das. Tina wurde meistens mit liebenden Blicken begutachtet, Fragen zum Kind stellte man gleich mir. Sie wussten nicht, dass ich nicht der Vater war, wohl aber, dass ich ihre Fragen wenigstens beantworten könnte, während Linh still neben mir saß.

Wie oft kamen Briefe ins Haus, die Linh mitteilten, dass noch Unterlagen fehlten, dass etwas unkorrekt oder unklar dargestellt sei, dass sie bitte noch einmal vorstellig werden sollte, dass sie bitte noch etwas nachreichen sollte? Wie oft bekam ich dann SMS, wie oft wurde ich dann angerufen, da die arme Linh diese Briefe nicht lesen, nicht verstehen konnte? Ironischerweise wanderte sie ja gerade deswegen durch diesen Rattenschwanz, um am Endpunkt irgendwann einmal einen Deutschkurs belegen zu können. Wie oft fragte ich mich, ob dieser Behörden-Wasserkopf sich vorstellen könne, dass deutsche Briefe für Antragsteller, die sich vor dem Integrationskurs befinden, schwer verständlich sein könnten. Dass Bekannte, Freunde und Partner tagsüber arbeiten gehen müssen, teilweise 12 Stunden am Tag weg sind und deshalb auch keine Hilfe sein können. War er wirklich so fantasievoll, dass er sich vorstellen konnte, dass es da einen Studenten gibt, der sich der Sache schon annehmen wird, übersetzen kann, begleiten kann, gerne am Tag zwei Stunden in der S-Bahn sitzt, Nebenjob und Studium mal etwas vernachlässigt? Wie oft sah ich ihren Namen auf meinem Handy und reagierte nicht, weil ich einfach nicht mehr die Zeit, die Lust hatte? Wie oft hatten Bier, Freunde und Frühling obsiegt und wie oft hatte ich ein schlechtes Gewissen kurz darauf? Wie oft rief ich dann die Ämter an, um mir die Zeit der Anfahrt zu sparen? Wie oft erläuterte ich ihnen die Umstände, die freilich nur Linh und ich so detailreich wissen konnten? Wie oft fand man das, was ich tat, löblich und sagte dann, dass man keine Aussagen machen könne, da ich kein direkter Verwandter von Linh sei? Und selbst, wenn ich am Telefon log, ich hätte eine Vollmacht, pochte das Gegenüber immer wieder auf den Datenschutz.

Die ersten Bewilligungen
Als Schritt für Schritt die Briefe und die Bewilligungen einflogen, kam dies einer Erlösung gleich. Unsere Freude wurde nur wenig getrübt durch vereinzelte Störungen. Beispielsweise beschwerte sich das Jugendamt immer noch über die fehlende Steuer-ID, natürlich genau diese, die wir längst beim Pförtner abgegeben hatten. So trafen wir vier uns – Linh, Tina und ich – eines schönen Sonntags zu einem gemeinsamen Essen im Dong Xuan Center in Berlin-Lichtenberg. Ich berichtete ihnen, dass ich hier schon einmal versucht hatte, angebrütete Enteneier zu besorgen, an den Kassen aber eiskalt abgeblitzt worden war. Der Verkauf dieser, ließ ich mir sagen, sei in Deutschland verboten. Wenn ich auf Vietnamesisch danach fragte, war das wohl so manchem Verkäufer zu heiß. Das wollte Linh nicht auf sich sitzen lassen. Aus Dankbarkeit mir gegenüber, sagte sie, würde sie mir helfen. Wir gingen in denselben Supermarkt, der mir einen Korb gegeben hatte. Auf ihre Frage nach Enteneiern erwiderte man nur: „Wie viele denn?“.

Es war ein schöner Nachmittag bei mir zu Hause, als ich die Enteneier kochte. Ich versuchte sie so anzurichten, wie ich sie aus Hanoi kannte und gab sie meinen Freunden zum Probieren. Ich freute mich, als ich sah, dass sie ernsthaft probierten. Denn ich muss zugeben, auch ich ekelte mich etwas vor dem nicht mehr so kleinen Embryo, das sich mir beim Öffnen des Eis mit dem Löffel entblößte. So groß kannte ich die Küken gar nicht. Sie mussten über die gesamte Zeit des Imports weiter gewachsen sein. Oft hörte ich Beschwerden über so manche kulinarische Spezialität aus Vietnam. So auch an diesem Tag, als ich Bilder des Kükens bei Facebook postete. Viele, wenn nicht alle, scheinen mir aus einfachen Gründen der Essgewohnheiten für berechtigt. Fairerweise gibt es aber auch deutsche Spezialitäten die genauso schwer bekömmlich sind, wie sie klingen. Mit ironischem Lächeln fällt mir da der berühmt-bürokratische, traditionell preußische „Rattenschwanz im Wasserkopf“ ein, den ich dank Linh und Tina sehr regelmäßig aufgetischt bekam.

Integrations- und Deutschkurs
Unabhängig davon, dass Linh und Tina nun endlich Sozialgeld, Kindergeld und Elterngeld erhielten, war es nun auch möglich, den Integrationskurs, den Deutschkurs zu beantragen, auf den die Ausländerbehörde doch schon so lange drängte. Dort war gefühlt gleich alles so anders. Nummer ziehen ja, aber kein Warten mehr. Wir mussten Tina hektisch aus dem Kinderwagen zerren und die Treppe hochrennen und schon saßen wir im Büro. Der zukünftige Lehrer von Linh sitzt dort persönlich und nimmt die Anmeldungen an. Er begrüßte sie auf Vietnamesisch, sprach mit mir Ungarisch, zwinkerte, lächelte und erzählte vom Eheleben mit seiner vietnamesischen Frau. Jetzt stand also auch der Deutschkurs. Und die Zeit bis dahin reichte, um unabhängig davon noch zwei letzte Sachen zu klären. Nur noch zwei Sachen. Wie das klang. Es hatte so einen wohligen Klang, einen Klang des Erfolges, des Bald-ist-es-geschafft. Doch die zwei Aufgaben entpuppten sich heimtückischerweise als nur eine weitere Fortführung unserer Odyssee.

Linh und Tina wollten umziehen. Bis dahin hatten sie sich ein Zimmer in der Wohnung eines Freundes geteilt. Der wollte nun heiraten und deswegen mussten sie raus. Vom Jobcenter erfuhren wir, wie hoch die Miete maximal sein dürfe. Die Miete für eine Wohnung, in der Mutter mit Tochter wohnt. So kam es dazu, dass ich wieder regelmäßige Anrufe und SMS von Linh erhielt. Wie gehabt, bat sie mich, nach Spandau zu fahren und sie auf Wohnungsbesichtigungen zu begleiten. Vermieter hatten sogar stets die Formulare dabei, die für Sozialgeldempfänger gedacht sind. Nach den ersten drei, vier Besichtigungen nahm jedoch die frustrierende Erkenntnis überhand, dass es keine Rückmeldung geben würde. Nicht nur der soziale Status, auch die Sprachbarriere wurde merklich negativ aufgenommen.

Alle fanden es großartig
Langsam wuchs mir die Sache über den Kopf. Ich gab Linh die Nummer für den Verein der Vietnamesen in Berlin und Brandenburg. Ich weiß nicht, ob sie dort anrief oder nicht. Und als ich es tat, schlug man mir vor, sie solle in die Sprechstunden kommen. Ich fühlte mich allein gelassen, verantwortlich für Linh und Tina und das, obwohl ich doch selbst keine Ahnung hatte. Ich hatte keinen Schimmer, wie dieses allmächtige Uhrwerk funktioniert, wie man am besten all diese Zahnräder ölt, damit die Maschine läuft. Warum tat ich mir das alles nur an? Ich geriet immer öfter in Gespräche mit Freunden, mit Kommilitonen. Alle fanden es großartig, was ich da tat. Manche fragten mich – wie ich mich selbst – warum ich das überhaupt auf mich nahm. Einige wenige schlugen vor, auch mal einzuspringen, wenn ich mal nicht die Zeit hätte. Mit diesen, aber auch allein, besuchte ich an Sonntagen Linh und Tina in ihrem Untermietzimmer. Wir genossen leckere Mahlzeiten. Dazu gab es Bier und Wodka. Wie schön waren diese Abende. Und wie verschieden von den grauen Episoden an den Werktagen, wo ich zwischen Frustration, billigem Geflügelfleisch, Wohngesellschaften und Besichtigungen nur das lachende Gesicht Tinas aus dem Kinderwagen hatte, um Hoffnung und Motivation zu schöpfen. Bald erzählte mir Linh von einer Freundin, die andernorts einen Job aufnehmen würde und umziehen müsse und dass sie sich einigten. Die Freundin werde Linh zu Liebe die Wohnung behalten und sie zur Untermiete aufnehmen. Somit hatten wir einen Vermieter, der auf unserer Seite war. Aufatmen. Formelles regeln. Einen Mietvertrag erstellen. Und wieder zum Jobcenter. Natürlich ist die Wohnung zu groß, natürlich ist die Miete viel zu hoch, aber bis das Jobcenter sich beschweren und sie zum Umzug bewegen wird, haben wir einige Monate gewonnen.

Der Umzug vollzog sich, während ich mich einige Wochen zurückzog, um an meiner Bachelorarbeit zu schreiben. Ich dachte, dass die letzte große Hürde, der Kitaplatz, kein Problem sein würde. Immerhin war ihr Kitagutschein noch gültig und ich müsste doch nur einige Einrichtungen anrufen, wovon ein nicht kleiner Teil auch „Integrationskindergärten“ waren. Weit gefehlt. „Wissen Sie, deutsche Mütter melden einen Platz an, wenn sie noch schwanger sind. Das Kind, worum es hier geht, ist schon ein Jahr alt. Wir nehmen Sie gern in die Warteliste auf, aber ich muss ihnen sagen, dass diese sehr lang ist. Es dauert Monate.“ Diese Worte hörte ich überall. Wir änderten unsere Taktik und riefen auch bei Tagesmüttern an. Einige nahmen uns auch in ihre Warteliste auf, andere fingen an zu schlucken, als sie hörten es handele sich um ein vietnamesisches Kleinkind, wiederum andere wurden richtig böse, als ich den Umstand am Telefon zu erklären versuchte. Man meinte zu mir, Tagesmütter seien für Familien, die das Format des Kindergartens nicht geeignet, nicht dienlich für die Erziehung fänden und nicht für Mütter, die ihre Kinder nur irgendwo unterzubringen versuchten.

Kitagutschein ohne Gut
Zusammen mit den Frauen im Rathaus Spandau, von denen wir auch den Kitagutschein erhielten, fanden wir eine Lösung. Eine Tagesmutter hatte noch einen Platz frei. Wochenlanges Bangen schien beendet, der Deutschkurs konnte doch noch pünktlich begonnen werden. Doch Linh erschrak, als die den Namen der Tagesmutter hörte. Sie meinte zu mir, es müsse eine Alternative geben. Im Jahr zuvor hatte eine Bekannte ihr Kind dort betreuen lassen und Linh berichtete, dass man ihr Kind anschrie und so grob war, dass es beim Anblick der Tagesmutter Angst hatte. Auch gab es Gerüchte, sie sei ausländerfeindlich. Diese Frau war die einzige Möglichkeit, aber wenn Linh das nicht wollte, was sollte man machen? Also gingen wir zur Volkshochschule, um den Start des Integrationskurses zu verschieben. Der Lehrer war sichtlich traurig, fragte woran es liege. Es müsse doch möglich sein, Tina bei Freunden oder Bekannten zu lassen, während Linh den Kurs besucht, so kenne er das von seiner Ehefrau. Das sei doch alltäglich bei den Vietnamesen. Anscheinend nicht. An diesem Abend aßen wir bei Burger King. Ich war müde, entnervt und fuhr nach Hause.

Wie eigentlich jedes Mal, wenn ich in Spandau in die S-Bahn einstieg, um den 60-minütigen Heimweg auf mich nahm, hatte ich auch an diesem Abend Kopfschmerzen. Vietnamesische Vokabeln drehten sich in meinem Kopf. Ich fühlte allgemeine Enttäuschung und Ohnmacht. Ähnliche Gefühlslagen trieben mich und meine Kommilitonen allzu oft in ergebnislose Café- und Biergespräche über Faulheit im Alltag und ungewisse Zukunft. Sekundenbruchteile, bevor ich anfing, mich selbst zu bemitleiden, ob dieser Ohnmacht, ob der Verständigungsschwierigkeiten Linh gegenüber, ob der Kopfschmerzen, fragte ich mich, wie sie sich fühlt. Die mitschwingende, aber nie zu Ende gedachte Angst, eine noch immer drohende Abschiebung letzten Endes durch mein Unvermögen nicht verhindern zu können, schwand schnell, als ich mich in der Bahn auf dem Weg nach Hause fragte, ob nicht vielleicht an diesem Abend ein Champions League Spiel liefe.