Der Triebtäter

Maro Temm

Die heiße Phase des Wahlkampfes hat begonnen – allerdings bleibt das einzig Heiße weiterhin die Außentemperatur. Lassen Sie uns darum die Sommerpause dafür nutzen, uns mal ganz anderen Dingen zu widmen. Lassen Sie uns reden über: Ungarn.

Ungarn, das ist mehr als der kleine Bruder des völkischen Nationalismus deutscher Prägung. Ungarn ist auch eine alte europäische Kulturnation mit tollen Landschaften, eine parlamentarische Republik und ein Mitglied der EU. Dennoch ist es vor allem Ersteres, mit dem das Land in den letzten Jahren internationale Schlagzeilen machte. Federführend war dabei Angela Merkels grenzübergreifender Fraktionskollege Victor Orbán – dem diese stets den Rücken gestärkt hat, statt ihm endlich ihr so verhängnisvolles vollstes Vertrauen auszusprechen.

Die Wurzeln dieser Freundschaft gehen zurück auf die frühmittelalterliche deutsche Ostsiedlung in Südosteuropa und später auf die Phase der Nationalisierung der Reiche, die beide, anders als die westlichen Staaten, auf dem völkischen Pfade begingen: Blut statt Bürger. Auch heute noch gibt es in beiden Ländern ein verbreitetes völkisches Verständnis davon, wer deutsch bzw. ungarisch ist – anhand der Vertriebenenpolitik wurde das an dieser Stelle bereits angedeutet. Gemein haben beide hierin auch die damit einhergehende Geringschätzung von behaupteten Fremdvölkern, für Deutsche wie für Ungarn sind das traditionell: Juden, Slawen, Sinti und Roma, sowie Muslime.

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Die vielfältigen personellen und ideologischen Verbindungen hier aufzulisten, sprengte die Grenzen und Möglichkeiten dieser Kolumne; jedoch es war ein Ungar (Andrássy), der als k.u.k.-Außenminister das Bündnis schmiedete, dass im Ersten Weltkrieg gipfelte; gemeinsam benutzte man im Anschluss an die Niederlage „Auslandsdeutsche“ und „Auslandsmagyaren“ als Interessenvertreter für jene völkisch-revanchistische Politik, die wiederum im Zweiten Weltkrieg mündete: Was Versailles für Deutschland ist Trianon für Ungarn, und mehr: Noch heute weht die ungarische Fahne am „Trianon-Mahnmal“ permanent auf Halbmast. Ganz nebenbei hatten die Ungarn das Münchener Diktat von 1938, dass die Grundlage für die nationalsozialistische Annexion des Sudetenlandes bildete, ihrerseits zum Einmarsch in die Südslowakei genutzt.

Mit dem Kalten Krieg erkaltete auch die Partnerschaft Deutschlands und Ungarns, wenn man mal davon absieht, dass man hierzulande NS-Kollaborateuren Asyl anbot, worauf auch die Gründung des „Ungarischen Instituts“ in München zurückgeht; nach dem Fall des Eisernen Vorhangs begannen aber beide erneut, ausländischen „Volksangehörigen“ Pässe auszustellen: Während Deutschland seinen langen Arm insbesondere nach polnischen Spätaussiedlern ausstreckte, greift Ungarn, nach demselben Muster und mit Hinweis auf Deutschland, insbesondere nach Rumänien.

Nach dieser kleinen Vorgeschichte komme ich nun endlich zur Gegenwart und zu jenen, von denen ich eigentlich reden will: Eine Volksgruppe, für die sich noch kein wirklich koscherer Sammelbegriff gefunden hat. Allgemein als Sinti und Roma addressiert (obwohl dieser Gruppe nicht nur Sinti und Roma angehören) und als Zigeuner beschimpft, wurde dieser Gruppe unlängst im schönen Norden dieses Landes der Status als anerkannte und schützenswerte Minderheit zuerkannt – wie auch Friesen und Dänen im Lande zwischen den Meeren: sehr zum Missfallen der CDU übrigens, seit die Partei der dänischen Minderheit in einer Koalition mit SPD und Grünen verhindert, dass die Union weiter an den finanziellen Leistungen für die Südschleswiger und ihre Schulen spart.

Im Süden der Republik hingegen – und da der Innenminister dieses Landes von dort kommt, ist es spätestens seitdem auch nationale Agenda – spielt man weiter das bewährte antizigane Pingpong mit der ungarischen Regierung: Dort diskriminiert man sie, macht Jagd auf sie, ghettoisiert sie, dreht ihnen das Wasser ab – und wenn sie dann fliehen, werden sie hier kriminalisiert und im Schnellverfahren als „Armutseinwanderer“ abgeschoben. Ein eigener ungarischer NSU, ein rechtsradikaler Mob, der durch das Land zog und sechs Roma exekutierte, wurde, ähnlich wie der NSU, wohl von der Polizei ignoriert, den Geheimdiensten gedeckt und der Politik verharmlost.

Wichtigstes Motiv dieser Achse München-Budapest ist offensichtlich die Stigmatisierung eines ganzen Volkes als asozial. Das Zigeunerpack sei nicht integrationsfähig, organisiere sich in kriminellen Banden mit Patriarchen, die reich wie Märchenkönige in Palästen aus purem Gold leben, die Bettlerbanden, Zwangsprostituierte und sonstige Gauner finanzierten. Und wessen Familie bereits seit Jahrhunderten hier lebt, der sei genau so schlimm und sorge für die notwendige Infrastruktur für Menschenhandel und Gaunerei.

Doch warum?

In beiden Fällen ist die Antwort so einfach wie universell übertragbar: Weil sie nicht ins völkische Konzept passten, wurden sie hüben wie drüben desintegriert. Es folgte eine Ghettoisierung, fehlender Zugang zu Bildung und Analphabetismus, überhaupt fehlende soziale Teilhabe und als notwendige Folge dessen, natürlich Armut und somit auch Kriminalität. Im Zuge des Holocaust wurden sie hierzulande genau so mit dem Ziele der vollständigen Vernichtung verfolgt, wie die Juden; für Ungarn gilt dies allerdings nur für die kurze Phase der deutschen Okkupation des vorherigen Verbündeten ab 1944. Wenn der Zustand der Segregation durch Desintegration erst einmal erreicht ist, verselbstständigen sich Vorurteile und Rassenhass von ganz allein und diese wiederum lassen sich hervorragend nutzen, um spezifische Wählerschichten einzufangen – sei es über konservative Ressentiments oder rassistische Gewalt.

Dennoch gibt es auch Lichtblicke: In Kiel entstand vor einigen Jahren das Modellprojekt „Maro Temm“, ein Wohnprojekt für ansässige Sinti und Roma, das ganz nebenbei klar aufzeigt, dass die Wurzeln der Problematik in der Diskriminierung selbst liegen und nicht in den herbeiphantasierten Gründen für diese Diskriminierung oder gar in irgendwelchen Genen. Es ist so erfolgreich, dass die Hauptstadt der Hobbygenetiker, der Sarrazins und Buschkowskis, Berlin, es nun adaptiert; auch in Ungarn sind erst am letzten Dienstag die drei Rechtsradikalen zu lebenslanger Haft wegen Mordes aus niederen Beweggründen, sowie ein Helfer wegen Mithilfe zu 13 Jahren, verurteilt worden, die jene bereits erwähnten sechs Roma ermordeten; und in der CDU finden sich inzwischen prominente Politiker, die Deutschland in aller Öffentlichkeit als Einwanderungsland bezeichnen und sich damit zu einer bürgerlichen Definition von Nationalität bekennen.