Seit Jahren beschäftigt sich auch Frau Kelek, Teilnehmerin der ersten Deutschen Islamkonferenz (DIK I), mit Fragen der Religion in ganz eigener Art und Weise. Wie sie Frauen und Mädchen dabei unterstützen könnte, ihre grundrechtlich garantierten Rechte wahrzunehmen, ist ihr nicht nur gleichgültig, nein, sie setzt auch alles daran, zu verschleiern, was den tatsächlichen Inhalt und Umfang dieser Rechte angeht.
In ihrem in der Welt veröffentlichten Essay liefert Frau Kelek nicht nur einen Einblick in ihr mangelhaftes Grundrechtsverständnis, sondern offenbart auch eklatante Gedächtnislücken in Bezug auf die inhaltlichen Diskussionen der AG 2 (Religiös begründete schulpraktische Fragen) der DIK I. Im Rahmen der dortigen Gespräche hatte Frau Kelek reichlich Gelegenheit, ihre Position darzulegen und das hat sie – wenn sie denn an den Sitzungen teilgenommen hat, was anzunehmen ist – sicherlich auch getan. Zudem war sie mit ihrer Sichtweise, insbesondere, was das Kopftuch angeht, keine Einzelkämpferin gegen die 4 Vertreter des KRM, denn auch Frau Ates, Frau Cezairli, Herr Kolat und wahrscheinlich auch die Alevitische Gemeinde teilten ihre Sichtweise 1 und auch von den staatlichen Vertretern dürfte kaum jemand im Verdacht stehen, ein Vorkämpfer für das Kopftuch zu sein.
In der Welt behauptet Frau Kelek:
1. „Mädchen vor dem 14. Lebensjahr mit dem Kopftuch in die Schule zu schicken hat nichts mit Religionsfreiheit oder dem Recht der Eltern auf Erziehung zu tun, sondern ist ein Verstoß gegen die im Grundgesetz garantierte Menschenwürde und gegen das Diskriminierungsverbot.“
In dem von der DIK I verabschiedeten Papier heißt es zur Rechtslage im Hinblick auf das Kopftuch von Schülerinnen: „In Ausübung ihrer Religionsfreiheit steht es Schülerinnen und Schülern an öffentlichen Schulen frei, Zeichen ihrer Religionszugehörigkeit zu tragen oder sich religiösen Vorschriften gemäß zu kleiden. […] Das elterliche Erziehungsrecht vor Eintritt der Religionsmündigkeit umfasst nach Art. 6 GG grundsätzlich auch die Befugnis, die Bekleidung ihrer Kinder zu bestimmen.“ 2
Frau Kelek weiter:
2. „Das Kopftuch ist nicht islamisch. Es gibt keine religiöse Verpflichtung, ein Kopftuch zu tragen. […] Wer das Kopftuch will, ist Traditionalist und interpretiert die Überlieferung im eigenen Interesse. In Deutschland gehört er damit zu der Minderheit von Muslimen, die diese Religion nicht spirituell, sondern als Gesetz begreifen und einen „Scharia-Islam“ vertreten.“
Unter Hinweis auf Thomas Bauer möchte man Frau Kelek darauf aufmerksam machen, dass derlei starre Kategorisierungen eher typisch sind für die von ihr kritisierte fundamentalistische Denkweise und nicht vereinbar mit liberalem Denken, das sie für sich reklamiert, aber das nur am Rande.
Zur Sinn- und Werthaltigkeit des sehr populären Arguments: „Das steht doch gar nicht im Koran!“ hat sich das Bundesverfassungsgericht eindeutig geäußert: „Auf die umstrittene Frage, ob und inwieweit die Verschleierung für Frauen von Regeln des islamischen Glaubens vorgeschrieben ist, kommt es nicht an. Zwar kann nicht jegliches Verhalten einer Person allein nach deren subjektiver Bestimmung als Ausdruck der besonders geschützten Glaubensfreiheit angesehen werden; vielmehr darf bei der Würdigung eines vom Einzelnen als Ausdruck seiner Glaubensfreiheit reklamierten Verhaltens das Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft nicht außer Betracht bleiben. Eine Verpflichtung von Frauen zum Tragen eines Kopftuchs in der Öffentlichkeit lässt sich nach Gehalt und Erscheinung als islamisch-religiös begründete Glaubensregel dem Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG hinreichend plausibel zuordnen.“ 3
Und schließlich argumentiert Frau Kelek in der Welt:
3. „Nur wenn sie [d.h. die Kinder] sich ohne Bevormundung und Eingrenzung durch religiöse Vorschriften entwickeln, werden sie zu verantwortungsbewussten Mitgliedern der Gesellschaft werden. Das Recht auf Schulbildung hat Vorrang vor der Religionsfreiheit der Eltern.“
Die Kelek`sche Grundrechtsinterpretation, nach der der staatliche Bildungsauftrag Vorrang vor dem Erziehungsrecht der Eltern hat, entbehrt jeder Grundlage. In dem von ihr mit verabschiedeten DIK-Papier heißt es demnach auch exakt der Gesetzeslage entsprechend:
„Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sind Pflege und Erziehung das natürliche Recht der Eltern und die in erster Linie ihnen obliegende Pflicht. Diese elterlichen Rechte und Pflichten haben auch im Schulbereich Geltung und sind dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag nach Art. 7 Abs. 1 GG gleichgeordnet. […] Das Erziehungsrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG umfasst auch das Recht der Eltern zur Erziehung in religiösen Belangen.
Bis zum Eintritt der Religionsmündigkeit des Kindes liegt die Entscheidung über die religiöse Erziehung bei den Eltern. Bei noch nicht religionsmündigen Kindern haben die Eltern also nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, ihre Kinder so zu erziehen, wie sie selbst es nach ihren religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen für richtig halten.“
Frau Kelek steht mit ihren eigenwilligen Grundrechtsinterpretationen nicht allein. Sie sind typisch für eine bestimmte Gruppe von Kulturmuslimen, die mit dem Islam, sei es im privaten Umfeld oder der Moschee, schlechte Erfahrungen gemacht haben. Das ist zu bedauern und soll auch nicht wegdiskutiert werden, ist und bleibt aber eine individuelle Erfahrung, die nicht dazu führen darf, dass daraus eine Legitimation zur Beschneidung von Grundrechten für praktizierende Muslime abgeleitet wird. Wäre das der Fall, dann wären im Endeffekt nicht „die Fundamentalisten“ eine Gefahr für den freiheitlich demokratischen Rechtsstaat, sondern „die säkularen“ Muslime.
In ihrem Essay fordert Frau Kelek einmal mehr die säkularen Muslime dazu auf, die Interpretation ihrer Religion nicht „den anderen“ zu überlassen, die Stimmen der „[…] über vier Millionen türkisch-/muslimischstämmigen Bürgern in Deutschland […] [von denen die] meisten nicht in einer Parallelwelt [leben]“, müssten endlich Gehör finden.
Zwei Dinge sind dabei erstaunlich: zum einen, dass Frau Kelek, immerhin Soziologin, das Muslimsein als Herkunft definiert (türkisch-/muslimischstämmig) und offensichtlich bisher keine Antwort auf die Frage gefunden hat, warum sich die säkularen Muslime nicht zusammenschließen, um sich für ihre Auslegung der Religion starkzumachen. Dabei gibt es darauf eine ganz einfache Antwort: In Deutschland gibt es eine grundgesetzlich verbürgte Religionsfreiheit und die ist sehr umfassend: Man kann glauben oder auch nicht, man kann seinen Glauben bekunden und verbreiten oder auch nicht und man kann seinen Glaubensüberzeugungen gemäß handeln oder auch nicht. 4
Und weil die säkularen Muslime genau diese Freiheit des „oder auch nicht“ tagtäglich erfahren und praktizieren, gibt es für sie keinerlei Notwendigkeit, sich gegen etwas zu wehren oder zu organisieren, das gar nicht von ihnen verlangt wird. Niemand muss in Deutschland – der Verfassung sei Dank – ein Kopftuch tragen, sein Kind in den islamischen Religionsunterricht schicken, eine Moschee besuchen, fasten oder Zakat bezahlen. Menschen, die zwar Sport im Allgemeinen vielleicht gut finden, Fußball im Besonderen aber nichts abgewinnen können, es für eine Überschreitung der elterlichen Erziehungskompetenzen halten, wenn schon kleine Kinder ins Vereinsleben integriert und ins Stadion mitgenommen werden und sich zudem darüber ärgern, dass auch ihre Steuergelder für Polizeieinsätze gegen Fanrandale verpulvert werden, gründen schließlich auch keinen Anti-Fußballverein – jedenfalls, solange nicht, wie Fußballspielen nicht rechtlich verbindlich für alle vorgeschrieben wird.
Zum Schluss des Kelek-Essays dann noch einmal ein Trommelfeuer der Horrorszenarien: Katastrophen in Schulkantinen, in denen der „[…] gemeinsame Akt der Mahlzeit […] unterbunden […] wird“, weil es auch ein schweinefleischfreies Angebot gibt, boykottierte Adventsfeiern, deren Verköstigung nicht koscher erscheint, eine „islamische Paralleljustiz“, faktische rechtliche Geltung der Scharia, Selbstjustiz der Clans.
Wäre das wirklich Alltag, gäbe es Doku-Soaps diverser Privatsender dazu. Stattdessen sehen wir dort, was wirklich Alltag ist: „Integrierte“ Geburtsmuslime unterschiedlicher Herkunft, die weder religiös (nicht zu verwechseln mit traditionell) aufgewachsen sind, noch sich über Interpretationen „ihrer“ Religion Gedanken machen (wollen), sondern sich passgenau in ihre Umgebung eingefügt haben und mittlerweile sogar deren Sprachstil deutlich geprägt haben – Integration ist auf manchen Ebenen tatsächlich keine Einbahnstraße.
Zum Schluss formuliert Frau Kelek eine Hoffnung, die „gerade in Deutschland“ erfüllbar sein muss: „Jeder einzelne Muslim, jede einzelne Muslima kann als Bürger oder Bürgerin seinen/ihren Platz in der deutschen Gesellschaft finden, ohne den spirituellen Sinn und die Vielzahl der islamischen Glaubensriten auf- oder preiszugeben.“ Dass das nicht im grundgesetzlich garantierten Umfang umsetzbar ist, wenn Eltern kein Recht haben ihre Kinder religiös zu erziehen und auch erwachsene Muslime nur eine „Religionsfreiheit light“ in Anspruch nehmen dürfen, ignoriert sie geflissentlich.
Die Kelek´sche Lesart des Grundgesetzes kann eine solche Hoffnung weder für alle Muslime noch für praktizierende Juden oder Christen erfüllen und steht damit im Widerspruch zu einem grundlegenden Verfassungsprinzip, nach dem der Staat die Heimstatt aller Bürger ist.
Eine Bedrohung der freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung geht nicht von denjenigen aus, die garantierte Freiheitsrechte in Anspruch nehmen, sondern von denjenigen, die sie einschränken wollen.
- In der Islamkonferenz waren vertreten: Die fünf großen muslimischen Dachverbände (KRM und Aleviten) mit je einem Vertreter, zehn Mitglieder stammten aus verschiedensten Bereichen des öffentlichen muslimischen Lebens und 15 staatliche Vertreter.
- I. Kopftuch und andere religiöse Kleidungsstücke/1. Rechtslage: In Ausübung ihrer Religionsfreiheit steht es Schülerinnen und Schülern an öffentlichen Schulen frei, Zeichen ihrer Religionszugehörigkeit zu tragen oder sich religiösen Vorschriften gemäß zu kleiden. Das Tragen des Kopftuches kann daher nicht in Schulordnungen, Elternverträgen o. ä. untersagt werden. Das elterliche Erziehungsrecht vor Eintritt der Religionsmündigkeit umfasst nach Art. 6 GG grundsätzlich auch die Befugnis, die Bekleidung ihrer Kinder zu bestimmen. Insofern könnten Eltern ihre Töchter vor Eintritt der Religionsmündigkeit und auch vor der Pubertät zum Tragen des Kopftuches anhalten, wenngleich das Tragen des Kopftuches nach ganz überwiegender islamischer Auffassung vor Eintritt der Pubertät religiös nicht geboten ist.
- BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 – 2 BvR 1436/02
- Ebenda. „Beide Absätze des Art. 4 GG enthalten ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht. Es erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten. Dazu gehört auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln. Dies betrifft nicht nur imperative Glaubenssätze, sondern auch solche religiösen Überzeugungen, die ein Verhalten als das zur Bewältigung einer Lebenslage richtige bestimmen.“