Noch mehr Zeit steckt er in die Arbeit mit seinen Männergruppen. Unbezahlt. Er sagt, er arbeite insgesamt 20 Stunden am Tag, zwölf davon ehrenamtlich – weil die Menschen ihn brauchen. 2007 hat er seine erste türkische Vätergruppe gegründet. Damals waren sie zu dritt. Heute kommen 70 Männer in die Gruppen. Jede Woche treffen sie sich für zwei Stunden.
Der Verein „Aufbruch Neukölln“ organisiert verschiedene Projekte für Migranten und Interessierte. Es gibt den Mehrgenerationentreff und eine Gesprächsrunde für Mütter. Es gibt auch Treffen, bei denen psychische Belastungen, hervorgerufen durch Flucht und Migration, aufgearbeitet werden. Die Vätergruppen beschäftigen Erdoğan ganz besonders.
Herzstück unter ihnen ist eine multiethnische Gruppe. Aus zwölf unterschiedlichen Ländern kommen die Teilnehmer. Ihre gemeinsame Sprache beim Treffen ist deutsch. Für Erdoğan ist ganz klar: Für die aus 184 Ländern stammenden Menschen in Berlin muss es eine gemeinsame Sprache geben. Diese kann nur deutsch sein. Integration aber nur auf gute oder schlechte Deutschkenntnisse zu reduzieren, greift viel zu kurz. Perfektes Deutsch schützt nicht vor Arbeitslosigkeit oder Armut. Das ist die Erfahrung vieler Männer, die zu ihm kommen.
Unter ihnen sind Alleinerziehende, Spielsüchtige, Männer, die Gewalt eingesetzt haben, und Opas, die bei ihren eigenen Kindern versagt haben, es jetzt aber bei den Enkeln besser machen wollen. Der jüngste Teilnehmer ist 19, der älteste 68 Jahre alt. Sie alle verbindet der Wunsch nach weniger Gewalt. Sie kämen wütend, enttäuscht, verzweifelt.
Die Aggressionspotenziale entstehen aus Stigmatisierung, Abwertung und Ausgrenzung, gepaart mit Kommunikationslosigkeit. Sie zu überwinden, ist das Anliegen von Kazım Erdoğan. Zu viele Männer finden keinen Platz zum Aussprechen. Sie hätten, so Erdoğan, in den Moscheen um Erlösung gebetet, hätten allein ihren Weltuntergangstheorien nachgehangen, hätten getrunken oder dunkle Pläne in den Männercafés geschmiedet.
Sie kommen zahlreich zu den angeleiteten Treffpunkten, tauschen sich aus über den Umgang mit Frauen, über gewaltfreie Erziehung, über Drogenprobleme oder über den Umgang mit Medien. Auch Sexualität ist ein Thema. Ein alleinerziehender türkischer Vater, der seine Tochter bis zum achten oder neunten Jahr in allen Bereichen begleitet hat, hygienische Aufgaben ebenso übernommen hat wie für den Einkauf der Unterwäsche zuständig war, muss sich aus moralisch-ethischen Gründen in der Pubertätszeit zurückziehen. Dadurch entstehen auf beiden Seiten Irritationen, übrigens keine muslimische Besonderheit.
„Überall auf der Welt hätten Männer ungefähr die gleichen Probleme“, sagt Erdoğan und erklärt Unterschiede im Alltagsleben aus den kulturellen Bedingungen, in denen die Sozialisation erfolgt. In den Gruppensitzungen könne man jedoch sehen, dass man durch Kommunikation schnell zusammenfindet und dass beim gemeinsamen Versuch, Ängste und Ressentiment abzubauen, ein Wir-Gefühl entsteht.
Gemeinsam haben die Männer auch mehr Möglichkeiten Einfluss zu nehmen. So mischen sie sich z.B. in die Bildungsdebatte ein, treten als Multiplikatoren in Bildungseinrichtungen auf, machen Werbung in Cafés und ächten öffentlich Gewalt. Sie protestieren mit T-Shirts, auf denen ein schwarzer Schnurrbart aufgedruckt ist, der als Symbol für den türkischen Mann stehen soll. Darüber derselbe „Schnurrbart“ in weiß – nun sind es die Flügel eines Engels.
Die Vorurteile, diese Menschen würden nicht weinen, nicht reden, wären hart und würden nichts zugeben, träfen nicht zu. Oft würde in den Gruppen Reue gezeigt und auch geweint. Für akute Krisen wurde eine Telefon-Hotline eingerichtet. Dort ist rund um die Uhr jemand erreichbar um Sofort-Hilfe zu leisten. Oft sind diese Helfer Männer, die ähnliche Probleme hatten und bereits Krisen durchlebt haben. „Der beste Arzt der Welt ist der Patient, weil er Schmerzen, die er selbst gespürt hat, erkennt“, sagt Erdoğan.
Er erzählt die Geschichte des Mannes, der eines Tages in die Sprechstunde kam, eine Pistole und ein Messer auf den Tisch legte und verkündet, er hätte sich entschieden, seine Frau zu töten. Der Psychologe, der von vielen der Teilnehmer auch Hoca – Lehrer – genannt wird, musste schnell reagieren. Er bat den Mann, die Waffen für eine Woche bei ihm abzugeben und sich eine Bedenkzeit zu nehmen. Er erinnerte ihn an die Liebe und die Verantwortung, die den mehrfachen Vater mit seinen Kindern verbände. Der Plan ging auf. Dieser Mann wäre ein 1000mal wertvollerer Ratgeber als alle wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammen, betont der Psychologe.
Die Beziehung zwischen Vätern und ihren Kindern zu stärken, ist ihm ein essenzielles Anliegen. „Wir leben in einer vaterlosen Gesellschaft“, sagt er. In Deutschland gäbe es fast ausschließlich weibliche Fachkräfte in den Kitas und Schulen, Scheidungen nähmen zu und Väter würden sich aus der Verantwortung stehlen. „Erziehung ohne Väter ist Erziehung auf einem Bein“. Viel würde geredet über die türkischen Väter, jedoch nicht mit ihnen. Dagegen arbeitet er jeden Tag an.