In diesem Jahr finden zum Gedenken an die rassistischen Gewalttaten der frühen 1990er Jahre, wie Mölln und Rostock-Lichtenhagen, zahlreiche Veranstaltungen statt. Seit dem letzten Wochenende wird an den rassistischen Brandanschlag vom 23. November 1992 in Mölln erinnert, bei dem drei Menschen starben.
Am Freitag findet hierzu die offizielle Gedenkveranstaltung statt. Faruk und Ibrahim Arslan werden als Angehörige der betroffenen Familie zu Wort kommen, genauso wie prominente Landespolitiker und der türkische Botschafter. Im Gegensatz zu der Gedenkveranstaltung in Rostock-Lichtenhagen wird Bundespräsident Joachim Gauck keine Rede halten. Und das ist gut so. Gut angesichts der Worte, die Bundespräsident Gauck Ende August auf der offiziellen Gedenkveranstaltung zu dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen wählte und die anlässlich der Erinnerung an den Brandanschlag von Mölln noch einmal erwähnenswert sind. Weil Mölln auf diese Art eine Reihe unsensibler Wörter erspart bleiben, die den dominanten (Nicht-)Diskurs über Rassismus in der Deutschen Mehrheitsgesellschaft im Allgemeinen, und bei unserem Bundespräsident im Besonderen, verdeutlichen.
Gauck will „genau hinschauen“
Am 26. August 2012, steht Bundespräsident Joachim Gauck auf einer imposanten, direkt am Ort des Pogroms im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen aufgebauten Bühne. Hinter ihm steht in großen Buchstaben das Motto dieser offiziellen Gedenkveranstaltung „Lichtenhagen bewegt sich – Gemeinsam füreinander“. Vor 20 Jahren, vom 22. August bis zum 26. August 1992 wurde genau an diesem Ort unter dem Applaus und der teilweisen Mithilfe von tausenden Anwohner_innen und Schaulustigen die „Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber“ und ein von ehemaligen sogenannten Vertragsarbeiter_innen aus Vietnam bewohntes Haus mit Steinen und Brandsätzen angegriffen. Polizei und andere staatliche Institutionen schreiten nicht ausreichend ein um die Gewalt zu beenden. Über hundert Vietnames_innen, die zum Teil im brennenden Haus eingeschlossenen waren, entkamen nur knapp dem Tod.
Die Aufgabe, ja die Pflicht in der sich Gauck mit seiner Rede sieht, ist an diese „Geschehnisse“ in Rostock-Lichtenhagen zu erinnern, sie zu betrachten und zu analysieren, um aus den „Fehlern und Versäumnissen von damals zu lernen“. Gauck will „noch einmal genau hin[zu]schauen“ und betont, dass das „was vor 20 Jahren in Lichtenhagen geschah“ ihn bis heute „erzürnt“ und „schmerzt“.
Schuld war die DDR
„Ich weiß, dass in Lichtenhagen, in Rostock, wie überall in der DDR viele Menschen nach der Wiedervereinigung arbeitslos wurden, sich als Verlierer sahen, enttäuscht waren über die Zustände im neuen Deutschland […]. Ich weiß, dass sich viele tief verunsichert fühlten, orientierungslos in der neuen Freiheit, überfordert […]. Ich weiß, dass bei manchen Menschen die Furcht vor der Freiheit umschlug in Wut und Aggression.“
An allererster Stelle sucht Gauck mit vielen geflügelten Wörtern und Sätzen eine Erklärung in dem Zusammenbruch der DDR, sowie in der Verunsicherung der ehemaligen DDR-Bürger_innen. Gauck kann „die Entstehung solcher Gefühle“ verstehen und verliert dabei viele emphatische Worte über die Ängste und Gefühle der Menschen im Zuge der Wiedervereinigung. Ohne dass ich Gefühle von Unsicherheit und Enttäuschung im Zuge der sogenannten Wiedervereinigung negieren möchte, stellt sich die Frage nach der Erklärungskraft dieser Sätze für die tagelangen Angriffe, die Zurückhaltung staatlicher Institutionen und für die unzähligen applaudierenden Anwohner_innen. Solche Gewalt und Hass mit Gefühlen von Unsicherheit und Ähnlichem zu erklären, bagatellisiert das tagelange Pogrom als „Reaktion“ und vernebelt den gesellschaftlichen Rassismus als seine wahre Quelle. Es werden aus Tätern, aus Beteiligten „Opfer der Umstände“. Die Gefühle der Opfer werden dabei kaum berücksichtigt. Dass mit „Rostock-Lichtenhagen“, sowie mit dem Brandanschlag von Mölln und den folgenden rassistischen Angriffen die Signalwirkung einher geht, dass Rassismus in Deutschland jederzeit auch in tagelange, von tausenden Menschen beklatschte Gewalt münden kann, spricht Gauck nicht an.
Indem Gauck eine besondere Anfälligkeit bei „uns Ostdeutschen“ für ein „Denken in Schwarz-Weiß-Schemata“ und in der verwehrten Möglichkeit einer zivilgesellschaftlichen Teilhabe weitere „Gründe“ diagnostiziert, festigt er das Bild der „Schuldigen DDR“ und stellt damit die Schuldfähigkeit „der Ostdeutschen“ in Frage. Gauck umgeht somit eine notwendige gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit Rostock-Lichtenhagen und Rassismus.
Rassismus ist Menschlich
„Doch die Abgründe unserer Seele sind manchmal erschreckend nah. Machen wir uns ruhig deutlich: Die Angst vor dem Fremden ist tief in uns verwurzelt. Wir würden wohl irren, wenn wir davon ausgingen, dass sie sich gänzlich überwinden ließe. Aber in langen Zivilisationsprozessen haben religiöse und moralische Normen und staatliche Gesetze dazu beigetragen, dass ihre zerstörerischen Potentiale weitgehend gebannt werden konnten.“
Die „Angst vor dem Fremden“ als natürlicher und nicht gänzlich überwindbarer menschlicher Wesenszug? Was will uns Gauck damit sagen? Etwa, dass ein Zusammenleben ohne Rassismus, denn nichts anderes sind irrationale Ängste vor zu „Fremden“ gemachten Menschen, nicht möglich ist? Für Gauck – und für uns, er spricht in seiner Rede oft vereinnahmend im Plural – scheint das festzustehen. Die Erkenntnis, dass „Angst vor dem Fremden“ nicht angeboren, sondern gesellschaftlich konstruiert ist, scheint nicht Teil seines Diskurses zu sein. Denn, wie Studien belegen, ist „Angst vor dem Fremden“ nicht natürlich: welche Menschen kollektiv in einem Land zu Fremden gemachten werden und welche Menschen sich komplementär dazu als nicht fremd, als Einheimische konstruieren, bestimmen bedingt durch gesellschaftliche Machtstrukturen meist Angehörige der Dominanzgesellschaft und einmal gezogene nationale Grenzen. Einen Menschen primär als fremd und nicht einfach als (Mit-)Menschen wahrzunehmen ist dementsprechend nicht natürlich.
Betrachten wir diese Aussagen Gaucks näher, offenbaren sie Gaucks Verständnis, einer deutschen Identität; wer dazu gehört und wer fremd ist. Die Gaucksche „Angst vor dem Fremden“, betrifft nämlich nicht nur Menschen, die keine deutsche Staatsangehörigkeit haben, sondern ebenfalls in Deutschland geborene und aufgewachsene Menschen. Was jemand zu einem Fremden macht, ist nicht die Nationalität, sondern die nicht weiße Hautfarbe. Diese Menschen sind in Gaucks Diskurs offenbar Fremde, weil sie anscheinend nicht seinem imaginierten Bild vom weißen Deutschland entsprechen. Demzufolge teilt Gauck seine Mitmenschen in „Einheimische“ und „Fremde“ ein und konstruiert damit ein weißes Deutschland konträr zum Anderen, zum Fremden.
Dementsprechend spricht Gauck von „Ausländerhass“ und „Fremdenfeindlichkeit“ anstatt von Menschenhass und Menschenfeindlichkeit. Doch sind es, wie Franziska Hoppen analysiert, keine „Vietnamesen“ die in Rostock-Lichtenhagen angegriffen und in Deutschland mit Rassismus konfrontiert werden, sondern Mitmenschen und Mitbürger. Fremde waren und sind es nur für Rassist_Innen, für jene die Brandsätze warfen und werfen und für die, die ihnen applaudieren. Gauck offenbart damit nicht nur sein fehlendes sprachliches Feingefühl, sondern auch eine fehlendes Sensibilität für die unterschiedlichen (Lebens-)Perspektiven und Lebensrealitäten in Deutschland. Gaucks „wir“ ist ein dominantes weißes Wir, das nicht erkennt, dass das sogenannte „Fremde“ schon lange Bestandteil der deutschen Gesellschaft ist. In dieses Bild passt Gaucks überalterte Betonung, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei, indem wir uns über „das Maß und die Bedingungen“ von Zuwanderung verständigen müssten.
Dass Gauck im folgenden Absatz betont, wir dürften uns nicht davon irritieren lassen, „dass Ängste vor dem Fremden weiter existieren“ und diese als „Ausdruck von Unkenntnis, innerer Unsicherheit – und von mangelndem Selbstbewusstsein“ bagatellisiert, irritiert ungemein. Vor allem angesichts von tagtäglichem Rassismus und Todesopfern rassistischer Gewalt in Deutschland. Doch auch weil dies Sätze eines Privilegierten in diesem Land sind, der nicht „irritiert“ sein braucht, ist er doch nicht täglich mit Rassismus konfrontiert.
Im weiteren Verlauf seiner Rede, kommt Gauck geradezu zu metaphysischen natur-philosophischen Betrachtungen: Er meint, wir könnten eine „von allem Dunklen und Bösen »gereinigte Gesellschaft«“ nie erreichen. Und weiter, dass Aggression, Hass und Menschenverachtung grundsätzlich Wesensmerkmale der Menschen sind. Eine umfassendere gesamtgesellschaftliche Entschuldigung für Rassismus kann es auf diese Art und Weise wohl kaum vom Staatsoberhaupt Deutschlands geben. Gauck naturalisiert Rassismus einfach. Wie diese Sätze wohl auf nicht weiße Deutsche wirken, die täglich mit der für Gauck natürlichen „Aggression, Hass, Wut, Groll, Zorn“ konfrontiert werden?
An den Punkten seiner Rede, an denen Gauck über das alltägliche Miteinander und über Empathie sprechen müsste, flieht er in Metaphern und Unbestimmtes. Zudem bleibt er unpersönlich, wage und unpolitisch an den Stellen, an denen er jeden einzelnen Menschen ansprechen müsste, an jeden Einzelnen appellierend, nach gegenseitigen menschlichen Prinzipien zu handeln. Zwar betont Gauck, dass Hass und Gewalt das wichtigste Fundament einer solidarischen Gesellschaft „untergraben und zerstören“, markiert dabei aber nicht von WEM Hass und Gewalt ausgehen, WER ihr den Nährboden bereitet und WARUM sie auf fruchtbaren Boden treffen.
Die Selbstvergewisserung: Wir sind stark!
„Doch heute und hier versprechen wir: Allen Rechtsextremisten und Nationalisten, all jenen, die unsere Demokratie verachten und bekämpfen, sagen wir: Wir fürchten euch nicht – wo ihr auftretet, werden wir euch im Wege stehen: In jedem Ort, in jedem Land, im ganzen Staat. Wir sind stark. Wir wissen es: Wir sind stark! Unsere Heimat kommt nicht in braune Hände!“
Gaucks Versprechen, kommt kämpferisch mit dem kollektiven Versprechen daher, Rechtsextreme und Nationalisten nicht zu fürchten, sondern ihnen entgegen zu treten. Doch wirken die wiederholten Beteuerungen „Wir sind stark. Wir wissen es: Wir sind stark!“ leer und schwach vor dem Hintergrund eines gesamtgesellschaftlichen Rassismus. Leer weil sie im Modus eines „Aufstands der Anständigen“ daher kommen, der Rassismus weitestgehend negiert und an den „Rändern der Gesellschaft“ verortet, der von „Rechtsextremen“ und „Nationalisten“ spricht, während es täglich Fälle von Diskriminierung und rassistischen Angriffen aus der „Mitte der Gesellschaft“ gibt, wie auch die Studien der Friederich Ebert Stiftung wiederholt zeigten.
An dieser Stelle sind kaum vor Kraft strotzenden, leider noch nie erfüllten Selbstvergewisserungen nötig, sondern Demut und Selbstreflexion über die eigene Rolle – als Bundespräsident und als weißer Deutscher. Nachdenken über die tieferen Ursachen von rassistischen Pogromen, gesellschaftlich verankertem Rassismus, über mit Eugenik hantierenden Bestseller Autoren, wie Thilo Sarrazin. Darüber wie das alles damit zusammenhängt, dass staatliche Institutionen und Medien, wie im Fall des sogenannten „NSU“ jahrelang aus Opfern von Gewalt Täter machen, anstatt von Rassismus auszugehen.
Der Appell: Deutschland ist lebenswert
„Wenn Ihr gerade so schön offene Arme, offene Herzen, offene Geister besungen habt, so soll das auch eine Leitmelodie für das Deutschland sein, das Ihr einst gestalten werdet – ein Land, das lebenswert, liebenswert und deshalb bewahrenswert ist.“
Gauck endet seine Rede mit einem Schlussappell in dem er sich an die Kinder richtet. Wieder stülpt Gauck seine Perspektive gnadenlos allen über und liefert zum Abschluss eine bedingungslos positive Deutung Deutschlands. Es ist die Perspektive der weißen Dominanzgesellschaft, für die Deutschland überwiegend ein „lebenswertes“ Land ist. Doch ist Deutschland nicht für jeden Menschen gleich „lebenswert“ und dieser Zustand damit auch automatisch für alle gleich „bewahrenswert“. Ist das nicht auch ohne Zahlen und Daten – auf die Gauck komplett verzichtet – für jeden sichtbar? Doch Gauck endet an dem Ort des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen, in einer Rede – in der er die Orte tödlicher rassistischer Anschläge wie Mölln, Solingen und Hoyerswerda nennt – mit einer Lobeshymne.
Weiße Dominanzperspektive
Die Rede von Bundespräsident Gauck zum 20. Jahrestag des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen ist eine Rede aus der in Deutschland dominierenden Perspektive. Einer Perspektive, die Rassismus weitgehend negiert oder allenfalls an den „Rändern“ der Gesellschaft verortet. Gauck und mit ihm der Mehrheitskonsens schaut scheinbar entsetzt auf Rostock-Lichtenhagen und rassistische Gewalt, will jedoch nicht von Rassismus, strukturellem Rassismus und eigener Verantwortung sprechen. So waren es dann auch für Gauck in Rostock-Lichtenhagen „ganz besondere Umstände, in denen die Gewalt siegte“. Doch sind diese „Umstände“, die damals und heute den Boden für Rassismus in Deutschland bereiten nicht „besonders“, sondern alltäglich.
Vor dem Hintergrund von Alltagsrassismus und einer jahrelang ungestört mordenden rassistischen Gruppe NSU, verfehlt Gauck sein Ziel einer kritischen Erinnerung an Rostock-Lichtenhagen. Darüber hinaus scheitert der Bundespräsident besonders daran, den konkret von Rostock-Lichtenhagen und von Rassismus in Deutschland betroffenen Menschen Raum in seiner Rede zu geben. Stattdessen „weiß“ und „ahnt“ er lieber die Ängste und die Überforderung der ehemaligen DDR-Bürger_innen, die der Polizist_innen und die der politisch Verantwortlichen.
Indem Gauck Rassismus naturalisiert und die DDR als „(Mit-)Schuldige“ ausmacht, fügt er sich in die konstruierte „Externalisierung“ von Rassismus aus der Gesellschaft ein. Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen, das nicht in Gaucks Vorstellung eines „friedlich“ (wieder)vereinigten Deutschlands zu passen scheint, wird auf diese Weise zu einer Konsequenz unabänderlicher Tatsachen. Gleichzeitig konstruiert Gauck damit das positive Bild eines wiedervereinigten Deutschlands, auf dem Rücken der Opfer von Rostock-Lichtenhagen. Bei der Gedenkveranstaltung zu dem Brandanschlag von Mölln tritt Gauck nun nicht hinter das Rednerpult. Es ist nur zu hoffen, dass in Mölln andere Worte gefunden werden.