Europarechtswidrige Visumpraxis

Lange Wartezeiten für Visum

Erst nach mehrmaligen Nachfragen teilt das Auswärtige Amt konkrete Zahlen mit: die Wartezeiten für einen Termin zwecks Visumantrag dauert um ein Vielfaches länger als der Visakodex vorschreibt. Droht Deutschland ein EU-Vertragsverletzungsverfahren?

Zwei Kleine Anfragen, ein Schreiben des Außenministeriums, gut drei Monate und offensichtlich eine gute Portion Überwindung hat es gebraucht, ehe das Außenministerium konkrete Zahlen lieferte. Nicht ohne Grund, wie sich jetzt herausstellt. Könnten die jetzt vorgelegten Zahlen doch ein EU-Vertragsverletzungsverfahren für Deutschland nach sich ziehen.

Es geht um Artikel 9 des Visakodex. Danach müssen Auslandsvertretungen Antragstellern innerhalb von zwei Wochen einen Termin zur Beantragung eines Schengen-Besuchervisums geben. Diese Frist ist die Regel und kann in Ausnahmefällen überschritten werden. Soweit die Vorschrift.

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Neun Wochen keine Ausnahme
Wie aus einem Schreiben des Außenministeriums (liegt dem MiGAZIN vor) an die Linksfraktion hervorgeht, liegt diese Wartezeit in der Praxis aber weit über dieser Regelfrist. So weit, dass von einer Ausnahme kaum mehr gesprochen werden kann: neun Wochen etwa in Shanghai, Teheran oder Kairo und mehr als doppelt und dreimal so lange in Moskau, Nowosibirsk, Peking oder in Edinburgh.

Das ist ein klarer Verstoß gegen den Visakodex. Klar deshalb, weil allein Moskau, Nowosibirsk, Shanghai und Peking mit weit über 500.000 Anträgen den Löwenanteil an allen Visaanträgen ausmachen. Von einer Ausnahmesituation oder saisonalen Schwankungen, wie es das Auswärtige Amt versucht zu erklären, kann schon deshalb keine Rede sein.

Faule Ausreden
Laut Sevim Dağdelen, migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, ist das „nichts als eine faule Ausrede“. Jährlichen Reisestoßzeiten seien hinreichend bekannt und vorhersehbar. Und trotzdem sei sogar noch beim Personal gespart worden. Und wie aus dem Schreiben des Auswärtigen Amtes hervorgeht, ging die Personalstärke unter anderem und ausgerechnet in Moskau zurück. Dort also, wo die Wartezeit 5 Wochen beträgt und über 265.000 Visaanträge bearbeitet werden sollen.

Dabei hatte Außenminister Guido Westerwelle (FDP) gerade den Russen Visaerleichterungen in Aussicht gestellt. Das „ist nichts wert“, so Dağdelen in Anbetracht der jetzt vorliegenden Zahlen. „Nicht einmal die verpflichtenden Mindestvorgaben des EU-Rechts werden in der deutschen Visumpraxis eingehalten. Ich habe deshalb Beschwerde bei der EU-Kommission eingelegt und Zahlenmaterial über die untragbaren Zustände in wichtigen deutschen Botschaften nach Brüssel übermittelt“, so die Linkspolitikerin.

Ganz viele besondere Umstände
Doch damit nicht genug. Dağdelen weist auf ein weiteres Manko hin: „Die Bundesregierung setzt lieber auf kostenpflichtige private Dienstleister, statt die Botschaften ausreichend auszustatten oder die Verfahren zu vereinfachen. Für die reisewilligen Menschen bedeutet das aber Mehrkosten.“

Das Auswärtige Amt hingegen verweist auf Artikel 40 Visakodex. Danach können Auslandsvertretungen für die Annahme von Visaanträgen mit externen Dienstleistungserbringern zusammenarbeiten, wenn „besondere Umstände“ vorliegen. Daher sei die Auslagerung der Antragsannahme „juristisch gut begründet und steht auf sicherer europarechtlicher Grundlage“. Sie sei „aus Sicht der Bundesregierung dort, wo sie vorgesehen ist, sogenanntes letztes Mittel“.

Problematisch und vom Auswärtigen Amt unkommentiert gelassen ist jedoch, dass diese „besonderen Umstände“ bzw. das „letzte Mittel“ auf neun der 15 wichtigsten Herkunftsländer zutrifft. Der Anteil dieser Länder am weltweiten Visumaufkommen beträgt laut Ministeriumsangaben rund 62 Prozent. (sm)