1951 beschloss der Deutsche Bundestag, dass die von den Alliierten auferlegte, im Grundgesetz vorgeschriebene Entnazifizierung der deutschen staatlichen Institutionen beendet werden soll. Personelle Kontinuitäten in Gesellschaft, Kultur, Presse, Ökonomie, Jurisdiktion und Politik blieben in den folgenden Jahrzehnten erhalten, struktureller, insbesondere ein offener und verdeckter Rassismus, sowie Einstellungen, welche rechte Gewalt verharmlosen reichen bis heute.
Nachdem erst Mitte November 2011 bekannt geworden ist, dass eine Organisation, die sich zum Nationalsozialismus bekannte, jahrelang rassistische Morde begehen konnte und staatliche Institutionen offensichtlich in einem bisher noch nicht bekannten Ausmaß involviert waren, fordern wir die konsequente Entnazifizierung Deutschlands.
Damit meinen wir vor allem die Anerkennung des Rassismus als ein reales Problem in Deutschland. Die Forschung hat den Rassismus in Deutschland bereits als ein strukturelles Problem analysiert. Die Heitmeyer-Studie und die Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigen deutlich, dass Rassismus ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist. Rund jeder zweite Deutsche ist der Meinung, es gebe „zu viele Ausländer“ in Deutschland. Die Islamfeindlichkeit steigt, der Antisemitismus hält an. Rassismus manifestiert sich nicht nur am Rande der Gesellschaft, im rechten Terror, sondern spiegelt sich auch im Denken und Handeln von Personen wider, welche in staatlichen Institutionen tätig sind, wie zum Beispiel dem Innenministerium, der Polizei oder dem Verfassungsschutz. Rassismus ist kein neues Phänomen in Deutschland, sondern hat eine lange Tradition.
Teilnahme: In einer online Petition kann man die Aktion unterstützen. Die Unterzeichnung erfolgt mit wenigen Klicks, wenn man einen Facebook, Google oder Twitter Account hat.
Aber welche Schritte sollten gegen die Akzeptanz rassistischen Denkens in der Mitte der Gesellschaft unternommen werden? Eine Ausweitung der Forschung zu Ursachen und Folgen des Rassismus für die Gesellschaft in Deutschland und deren öffentliche Diskussion unter Einbeziehung der rassistischen, völkischen und kolonialen Traditionen wären erste wichtige Schritte für eine kritische Auseinandersetzung. Die Erforschung soll durch die entscheidungsrelevante Mitarbeit von Vertreter_innen betroffener Gruppen erfolgen. Darunter verstehen wir unter anderem: Migrant_innen-Selbstorganisationen, Minderheitenorganisationen und von diesen Institutionen anerkannte Wissenschaftler_innen aus der Rassismusforschung sowie antifaschistische Initiativen aus der Zivilgesellschaft. Gerade Deutschland hätte sich auf Grund seiner historischen Verantwortung bereits früher dem Rassismusproblem klar und konstruktiv öffnen müssen.
Gleichzeitig liegt auch in Deutschlands Vergangenheit der Schlüssel, diese Auseinandersetzung anzugehen. Eine Offenlegung aller NS-Verbindungen von staatlichen Institutionen wäre ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Strukturen werden von Menschen gestaltet. Mit einer Offenlegung sämtlicher Biografien, in denen sich die Verbindungen zum Nationalsozialismus zeigen, lassen sich auch die Kontinuitäten zu Deutschlands rassistischer Vergangenheit erkennen. Die Strukturen sind kritisch zu überprüfen und gegebenenfalls zu reformieren. Insbesondere sind die Verfassungsschutzämter des Bundes und der Länder, das Bundeskriminalamt, die Landeskriminalämter, der Bundesnachrichtendienst und der Militärische Abschirmdienst durch unabhängige, transparent arbeitende Institutionen zu überprüfen.
Wir fordern Dezernate für rassistisch motivierte Delikte, diese hätten schon viel früher zu einer Aufklärung der Morde der Rechtsterroristen führen und sogar Leben unschuldiger Menschen retten können. Die Aufklärung soll gegenüber der Gesellschaft transparent erfolgen. Beim kleinsten Verdacht auf eine rechte Motivation muss der Fokus darauf gerichtet werden.
Noch immer gibt es keine befriedigenden Stellungnahmen der Regierung und Landesregierungen, weshalb die Zahl der rassistisch motivierten Morde von öffentlicher Seite klein geredet wird. Wir erwarten eindeutige Stellungnahmen von der Bundeskanzlerin, vom Bundesinnenministerium und von den Ministerpräsidenten der jeweiligen Länder zu sämtlichen Fällen, insbesondere, wie sie zu der Einschätzung von „nur“ 48 Tötungsdelikten mit rechter Tatmotivation gegenüber der 182 von der Amadeo-Antonio-Stiftung ermittelten kommen, sowie ihrer Untersuchung. Auch Fälle vor 1990, die in offiziellen Statistiken bisher nicht vorkommen, sind zu berücksichtigen.
Ein unabhängiges Gremium kann hier für Aufklärung sorgen. Nach einer ernsthaften Aufklärung der Zusammenhänge sind entsprechend personelle Konsequenzen zu ziehen. Ähnlich wie es bei der rassistischen Ermordung von Stephen Lawrence, einem jungem Schwarzen Mann, in England der Fall war. Fünf Jahre nach dem Mord wurde in England die Macpherson-Kommission ins Leben gerufen, ein unabhängiges Gremium, das einen Bericht erarbeitete. Mit dem Ergebnis, dass Scotland Yard bei den Ermittlungen auf dem rechten Auge blind war.
Die Kommission veröffentlichte Empfehlungen, wie institutioneller Rassismus in den Sicherheitsbehörden und in der Gesellschaft verhindert und bekämpft werden kann.
Die beste Methode sich dem Rassismus in Deutschland zu stellen, ist nicht ihn zu verdrängen, sondern offen und klar diesem Problem entgegen zu treten.
Die Bezeichnung der NSU-Morde als “Dönermorde” ist nur ein Beispiel zahlreicher rassistisch geprägter medialer Stereotypen. Eine unabhängige Media-Watch-Stelle könnte eine rassistische Grundprägung durch die Medien verhindern. Daher sehen wir den Aufbau einer solchen Einrichtung – nach dem Vorbild des britischen Ofcom (Independent regulator and competition authority for the UK communications industries) – als dringend erforderlich an. Eine unabhängige Media-Watch-Stelle erarbeitet antirassistische Richtlinien, deren Einhaltung in Zusammenarbeit mit dem Presserat kontrolliert wird. Medien reproduzieren tagtäglich Bilder, in denen Menschen, die eigentlich durch Rassismus benachteiligt sind, als Kriminelle, als Tatverdächtige dargestellt werden.
Deutschland bedarf ganz dringend eines aktiven Abbaus von institutionellem Rassismus. OECD Untersuchungen zeigen, dass Teilhabechancen, etwa beim Zugang zu Bildung oder auf dem Arbeitsmarkt abhängig vom nationalen oder ethnischen Hintergrund sind.
Hierzu benötigen wir die Implementierung von Anti-Diskriminierungsgesetzen (wie bereits von der EU vorgeschrieben) und eine Abkehr von einer restriktiven Einwanderungspolitik. Zudem fordern wir kontinuierliche Sensibilisierung und Schulung der Mitarbeiter_innen des öffentlichen Dienstes in Bezug auf Anti-Rassismus und Anti-Diskriminierung.
Der Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland bedarf einer erheblich stärkeren Finanzierung von Antidiskriminierungsstellen, antifaschistischen Initiativen und zivilgesellschaftlichem Engagement gegen Rassismus. Oft wird erwartet, dass antirassistisches Engagement von Migrantinnen-Organisationen ehrenamtlich erbracht wird. Auch dies ist ein Ausdruck dafür, welchen geringen Wert die Gesellschaft der Bekämpfung des Rassismus beimisst – Nazis gibt es nur, weil diese Gesellschaft sie zulässt. Rassismus auf ein Problem zwischen Nazis und Migranten zu reduzieren, heißt die Realität dieses Landes zu verkennen und der Verantwortung aus dem Weg zu gehen.
Wir sollten die Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds nicht mit noch mehr Gleichgültigkeit strafen. Ihr Tod sollte unser Leben, unser Denken und unser Handeln verändern. Deutschland und die deutsche Bundesregierung muss etwas gegen den wachsenden alltäglichen Rassismus in der Gesellschaft unternehmen: Deutschland muss sich ENTNAZIFIZIEREN.
Die Erstunterzeichner_innen:
- Koray Yılmaz-Günay, Referent Rosa-Luxemburg Stiftung
- Mechthild Rawert, MdB (SPD)
- Petra Wlecklik, Pol. Sekretärin, Vorstand IG Metall, Ressort Migration
- Hüseyin Aydın, Pol. Sekretär, Vorstand IG Metall, Ressort Migration
- Roland Tremper, Gewerkschaftssekretär, ver.di
- Ferda Sönmez, Betriebsrat Daimler, IG-Metall
- Z. Arslan, Betriebsrat Osram AG, IG-Metall
- Erol Yurdakan, IG-Metall Mustafa Yeni, Betriebsrat Pierburg, IG-Metall
- Azize Tank
- Eberhard Schultz, Menschenrechtsanwalt
- Nicole Gohlke, MdB (DIE LINKE)
- Florian Schultz
- Sergey Lagodinsky, Bündnis 90/die Grünen
- Holger Förster, Verband für interkulturelle Arbeit (VIA) Regionalverband Berlin/Brdbg. e.V
- Shermin Langhoff, Leiterin “Ballhaus Naunynstraße”
- Tuncay Kulaoğlu, Kurator “Ballhaus Naunynstraße”
- Wagner Pareira de Carvalho
- Selim Özdoğan, Autor
- Andrea Dernbach, stellv. Redaktionsleiterin Politik „Tagesspiegel“
- Zerrin Konyalıoğlu-Busch, Linguistin,
- Nurcan Çataldi, Sozialmedizinische Assistentin
- Regina Reinke,
- Ahmet Iyidirli, HDF/ Landesvorstand Ag Migration der SPD Berlin
- Tuba Yücel, Studentin
- Leman Bahadır, IG Metall
- Yüksel Vatandaş, Betriebsrat, IG Metall
- Arslan Yılmaz, AK-Erwerbslosigkeit, IG Metall
- Ali Haydar Arduç, OSRAM stellv. VK Leiter, IG Metall
- Hüseyin Akyurt, BSH Betriebsrat und VK Leiter, IG Metall
- Pawel Kiebala, VK Gillette, IG Metall
- Isa Efe, VK Gillette, IG Metall
- Ali Erdoğmuş, Chrysler VL, IG Metall
- Ümit Tüfekçi, Siemens/Schaltwerk Betriebsrat, IG Metall
- Mustafa Turgut Çakmakoğlu, IntB – cw
- Marina Roncoroni
- Don Rispetto, Moderator und Musiker
- Hansi Schlegel, Dozent für Kameratechnik
- Olga Sobovic, Buchhalterin
- Alke Wierth, Lokalredakteurin Migration und Bildung “taz”
- Canset Içpınar, Journalistin
- Dr. Sevgi Kayhan, Diversity-Trainerin
- Ebru Taşdemir, Journalistin
- Kristiane Backer, Moderatorin und Autorin
- Mutlu Ergün, Autor, Anti-Rassismus & Empowerment Trainer
- Dr. Grada Kilomba, Autorin und Uni. Dozentin
- Deniz Utlu, Autor
- Marianna Salzmann, Autorin
- Hakan Savaş Mican, Autor, Filmemacher
- Canan Turan, Filmemacherin
- Philipp Khabo Köpsell, Autor und Spoken Word Performer
- Nuran Yiğit, Vorstand Migrationsrat
- Sharon Dodua Otoo, Autorin & Vorstand, Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD Bund) e.V.
- Khalid Scharaf
- Marcela Knapp, Sozialwissenschaftlerin und Lektorin
- Canan Bayram, MdA (Bündnis 90/die Grünen)
- Karin Wüsten
- Dr. Hans Coppi, Vorsitzender der Berliner VVN-BdA
- Gabriele Gün Tank, Vorstand Migrationsausschuss der IG Metall Berlin, Brandenburg, Sachsen
- Michael Willenbücher, Kanak Attak
- Halil Can, Empowerment Trainer
- Erdoğan Kaya, Vorsitzender des Landes- und Bundesmigrationsausschusses ver.di
- Onur Suzan Kömürcü Nobrega, Goldsmiths College, University of London
- Dr. Kien Nghi Ha, Kultur- und Politikwissenschaftler
- Noa Ha, Dipl.-Ing Jee-Un Kim, Vorstand Korientation
- Chandra-Milena Danielzik
- Miraz Bezar, Filmemacher
- Ayşe Polat, Filmemacherin
- Prof. Dr. Claus Melter
- Kazim Erdogan, Psychologe
- Memet Kılıç, MdB Bündnis 90/Die Grünen
- Jan Rauchfuss, BV Tempelhof-Schöneberg
- Lars Rauchfuss, Vorsitzender SPD Mariendorf
- Marijke Höppner, BV Tempelhof-Schöneberg
- Safter Çınar, Gewerkschafter
- Ülker Radziwill, MdA, Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft Migration der Berliner SPD
- Muharrem Aras; Rechtsanwalt
- Ismail Eren, Bundesvorsitzender der Föderation der Volksvereine türkischer Sozialdemokraten
- Gigi Fakunmoju, Journalistin
- Ceyda Içpınar, Diplomandin
- Timur Şentürk, Hotelfachmann
- Elif Gümüş, Magistrandin
- N. Steinhaeuser, Projektmanagerin
- Gülay Durgut, Journalistin
- Yusuf Kılıç, Student
- Susanne Höchsmann, Studentin
- Elif Eralp, Juristin
- Ulla Jelpke, MdB Die Linke
- Heiko Glawe, DGB Region Berlin Regionsgeschäftsführer
- Philip Rusche, Jurist
- Ayşe Yuva, Philosophin
- Johanna Henatsch, Ärztin
- Liz Schydlowski, Sozialpädagogin
- Hülya Eralp, Sozialpädagogin
- Ünal Zeran, Rechtsanwalt Hamburg
- Ulrike Gerhardt, Kulturwissenschaftlerin
- Azra Gül, Kulturwissenschaftlerin
- Bahar Şanlı, Sozialarbeiterin
- Patrick Jost, Lehramtstudent
- Dieter Gadischke, Barnimer Kampagne „Light me Amadeu“
- Sofia Hamaz, Sozialforscherin
- Biplab Basu, ReachOut
- Mehmet Çallı, Bundesvorstand DIDF
- Aziz Bozkurt
- Murat Türemiş, Fotograf
- Ayhan Salar, Filmemacher
- Umut Karakaş, Geschäftsführerin Data 4U -Gesellschaft für Kommunikationsforschung
- Ayten Hedia
- Miltiadis Oulios, freier Autor und Radiomoderator
- Kurt W. Niemeyer, Geschäftsführer Verband binationaler Familien und Partnerschaften (iaf e.V)
- Melanie Wieland
- Şiir Eloğlu, Schauspielerin
- Tanya Zeran, Journalistin
- Cem Sey, Journalist
- Nasrin Parsa, Publizistin, Filmemacherin, Fernsehjournalistin, Autorin
- Shaykha Halima Krausen, Islamische Theologin
- Diedrich Diederichsen, Hochschullehrer/Publizist
- Erol Yıldız, Professor für Interkulturelle Bildung
- Milo Rau, Autor/Regisseur
- Jens Dietrich, Dramaturg/Produzent
- Tom Holert, Kulturwissenschaftler
- Dr. Mark Terkessidis, Autor & Publizist
- Özlem Topuz
- Orkan Özdemir, Vorsitzender der AG Migration SPD Tempelhof-Schöneberg
- Çiçek Bacık, Vorstandssprecherin des TBB
- Serdar Yazar – Geschäftsführer des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg (TBB)
- Ekrem Şenol, MIGAZIN Chefredakteur
- Sevim Dağdelen, MdB (Linke)