Debatte

Der Kita-Besuch von Kindern mit Migrationshintergrund jenseits von Wollen und Sollen

Kinder mit Migrationshintergrund seltener in Kitas. Dieser Vergleich macht jährlich die Runde. Ilka Sommer geht der Sache nach und stellt sechs Thesen auf, warum uns der Vergleich von Betreuungsquoten nicht weiterbringt!

„Kinder unter 3 Jahren mit Migrationshintergrund seltener in Kindertagesbetreuung“ meldete das Statistische Bundesamt am 2. Februar 2012 – eine inzwischen alljährliche Nachricht, die stets ein politisches und mediales Echo auslöst. 14% der unter 3jährigen Kinder mit Migrationhintergrund besuchten im März 2011 eine Kindertageseinrichtung oder wurden alternativ von öffentlich geförderten Tagesmüttern/-vätern betreut. Im Jahr 2010 waren es noch 12% und im Jahr 2009 sogar erst 11%. Aber nicht der Entwicklung, sondern dem jährlich erneut festgestellten Unterschied zu den Kindern ohne Migrationshintergrund gilt die Aufmerksamkeit. Mit einer Betreuungsquote von 30% ist sie in dieser Altersgruppe mehr als doppelt so hoch und auch in den letzten Jahren stärker angestiegen. Auch der aktuelle Vergleich in der Altersgruppe der 3-5jährigen Kinder ergibt einen Unterschied der Betreuungsquoten von 85% zu 97%. Warum ist die Quote der institutionell betreuten Kinder mit Migrationshintergrund so viel niedriger als die Quote der betreuten Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund?

„Sie wollen nicht, weil sie kulturelle Vorbehalte gegenüber dem deutschen Bildungs- und Betreuungssystem haben“ ist eine der geläufigsten Interpretationen von vielen PolitikerInnen, JournalistInnen, Erziehungs- und SozialwissenschaftlerInnen sowie anderen MultiplikatorInnen. In der Konsequenz werden Lösungen diskutiert, wie man bei Familien mit Migrationshintergrund stärker für den Kita-Besuch werben und ihnen diese Vorbehalte nehmen könne. „Der Kita-Besuch sei zu teuer“ ist eine weitere gängige Interpretation, die in der Konsequenz zu politischen Forderungen wie der Beitragsfreiheit von Kindertagesstätten führt.

___STEADY_PAYWALL___

In der Zielrichtung sind sich offenbar alle gesellschaftlichen Kräfte einig: Migrantenkinder sollen so früh wie möglich eine Betreuungseinrichtung besuchen, zugunsten des frühen Erlernens der deutschen Sprache, zugunsten einer frühen Sozialisation im deutschen System und zugunsten eines erfolgreichen Bildungsverlaufs. Die Unterschiede zwischen den Betreuungsquoten von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund werden als Beleg angeführt, dass dieses Ziel bislang nicht zufriedenstellend erreicht wird. Wie lässt sich das beheben? Brauchen wir eine Kindergartenpflicht oder auch schon eine Krippenpflicht?

Bevor die Diskussion an dieser Stelle fortgesetzt wird, möchte ich „Stop“ rufen und lieber noch mal einen Schritt zurückgehen. Können wir wirklich von einer simplen Zahl ableiten, dass die Migranten ihre Kinder nicht in Kitas bringen wollen und man sie des-halb stärker überzeugen oder sogar zwingen muss? Im Folgenden möchte ich sechs alternative Erklärungsansätze für die Unterschiede der Betreuungsquoten und ihre Skandalisierung anführen und damit zum einen dazu aufrufen, genau diese Rückschlüsse nicht zu ziehen und zum anderen der Suche nach politischen Lösungen andere Denkstöße geben.

1. Aufgrund von Erfassungsproblemen wird die Betreuungsquote der Kinder mit Migrationshintergrund unterschätzt!
Das Merkmal „Migrationshintergrund“ ist viel weniger eindeutig zu erfassen als Merkmale wie Alter, Geschlecht oder Staatsangehörigkeit. Methodisch problematisch ist zudem, dass die Erfassung auf zwei unterschiedlichen Datenquellen mit ganz unterschiedlichen Definitionen und Erhebungsmethoden von „Kindern mit Migrationshintergrund“ basiert. Die Kinder- und Jugendhilfestatistik liefert die Daten, wie viele Kinder in institutioneller Betreuung sind. Es ist eine Totalerhebung, bei der alle Kita-Leitungen (oder Einrichtungsträger) jährlich für jedes Kind einzeln auf einem Bogen ankreuzen, ob „mindestens ein Elternteil eine ausländische Herkunft“ hat. Damit ist allerdings nicht die Staatsangehörigkeit gemeint. Was sie konkret unter „ausländischer Herkunft“ verstehen und wie sie die Information erhalten, ob ein solches Merkmal bei den Eltern vorliegt oder nicht, ist ihnen selbst überlassen. Für den Bereich der öffentlich geförderten Kindertagespflege übernehmen die Jugendämter diese Aufgabe.

Der sogenannte Mikrozensus liefert dagegen die Daten, wie viel Kinder im gleichen Alter in Deutschland leben. Er ist eine jährliche Repräsentativbefragung von 1% der Bevölkerung, die von geschulten InterviewerInnen der Statistischen Landesämter durchgeführt wird und dann auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet wird. Die Definition von „Migrationshintergrund“ beruht hier auf einem sehr differenzierten und mehrere Merkmale umfassenden Raster, das z.B. die Staatsangehörigkeit und Geburt im Ausland der Befragten ebenso wie diese Merkmale ihrer Eltern umfasst. Im Ergebnis erfasst er mitunter Personen als MigrantInnen, die selbst nicht auf den Gedanken kämen, sich einen Migrationshintergrund zuzuschreiben. Beide Erhebungen werden vom Statistischen Bundesamt nach bestem Wissen zu den besagten Betreuungsquoten zusammengeführt. Da der Mikrozensus jedoch besonders viele Personen als „Kinder mit Migrationshintergrund“ zählt, während die Erhebung in den Kindertagesstätten tenden¬ziell darauf ausgerichtet ist, das Merkmal eng zu fassen, ist eine Unterschätzung der Betreuungsquote von Migrantenkindern und eine Überschätzung der Vergleichsquote naheliegend.

Methodische Probleme amtlicher Statistiken wurden z.B. im Hinblick auf die Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik zur so genannten „Ausländerkriminalität“ seit den 1990er Jahren immer wieder ausführlich diskutiert. Inzwischen ist es zu recht verrufen, aus diesen Zahlen Argumentationen vom „kriminellen Ausländer“ abzuleiten (obwohl sie weiterhin erfasst werden). Da Kita-Betreuungsquoten auf einer ähnlich schwachen und angreifbaren Methodik aufbauen, muss ihnen der Anspruch an Wahrheit und Legitimität in der öffentlichen Debatte ebenso entzogen werden. Der unreflektierte Umgang mit diesen Zahlen diskriminiert Eltern mit Migrationshintergrund, da er pauschal mangelndes Interesse an der Förderung der Kinder sowie mangelnde Integrationsbereitschaft unterstellt.

2. Nicht die Migrantenquote, sondern die Betreuungsquote von Kindern aus sozial benachteiligten Elternhäusern ist gering!
Während die „ausländische Herkunft“ der Eltern jährlich erfasst wird, existieren keine amtlichen Daten zur sozioökonomischen Situation der Eltern von Kita-Kindern. Das Einkommen, der Bildungsstand und die familiäre Lebensform der Eltern (z.B. alleinlebend vs. zusammenlebend) sind nicht in ähnlicher Weise bekannt und werden deshalb vom Statistischen Bundesamt auch nicht als Vergleich von Betreuungsquoten veröffentlicht.

Zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund (nach Mikrozensus) zählen sowohl sehr arme als auch sehr reiche ebenso wie gering- und hochqualifizierte Eltern mit kleinen Kindern. Allerdings verteilen sich die Anteile in unterschiedlichen Einkommens- und Bildungsgruppen anders, so dass Familien mit Migrationshintergrund statistisch häufi-ger im unteren Segment vertreten sind.

Die geringere Betreuungsquote von Kindern mit Migrationshintergrund kann deshalb auch sehr gut darauf hindeuten, dass die Unterrepräsentanz vor allem auf Kinder aus sozial benachteiligten Familien zutrifft und die Erklärung durch das Merkmal Migrationshintergrund nicht hinreichend und letztlich ein Pseudo-Zusammenhang ist.

Nicht nur angesichts dessen ist es ein Irrtum, Eltern und Kinder mit Migrationshintergrund per se als benachteiligt zu betrachten und Kinder ohne Migrationshintergrund als per se privilegiert. Genauso trügerisch ist die Lösung, besondere Fördermaßen wie Sprachförderung, kleinere Gruppen, mehr Personal etc. dem Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund in den Einrichtungen anzupassen. Auf diese Art und Weise werden nicht diejenigen erreicht, die den Bedarf haben, während der ethnischen Diskriminierung weiter Vorschub geleistet wird.

3. Sozial benachteiligte (Migranten-)Familien haben bei der Vergabe von (knappen) Plätzen geringere Chancen!
Was bei der Beurteilung von Betreuungsquoten leicht vergessen wird ist, dass wir in Deutschland eine nicht zu bestreitende eklatante Unterversorgung mit Krippenplätzen (und Tagespflegeplätzen) für unter 3jährige haben. In einigen Regionen ist auch der bereits bestehende Rechtsanspruch für dreijährige Kinder nur zu halten, weil viele Eltern nicht von ihrem Klagerecht Gebrauch machen.

Eine Kindergartenpflicht wäre schon allein deshalb nicht realistisch, weil die dafür notwendige Anzahl an Plätzen gar nicht flächendeckend zur Verfügung steht. Von der absehbaren Umsetzbarkeit einer Krippenpflicht ganz zu schweigen. Wenn man aber als Staat, Land, Stadt nicht genügend Betreuungsplätze vorhält, sollte man sich unbedingt davor hüten, den Eltern vorzuwerfen, sie nicht in Anspruch zu nehmen! Schon allein aus diesem Grund ist es ein Unding zu lamentieren, dass irgendein Kind keine frühkindliche Förderung erhält.

Nichtsdestotrotz muss man die Frage stellen, welche Familien die knappen Plätze leichter ergattern als andere und warum. Häufig ist die Vergabe eines Krippenplatzes durch die öffentlich geförderten Einrichtungen oder die Gewährung des öffentlichen Zuschusses zur Tagespflege an Kriterien wie „Erwerbstätigkeit“ (oder „Ausbildung/ Studium“) gebunden. Während der Suche sind allerdings die wenigsten Eltern faktisch (beide) erwerbstätig, sondern in Elternzeit. Die entscheidende Frage ist also: Hast Du einen Vertrag, in den Du mit geregelter Betreuung des Kindes wieder zurück gehst – oder bist Du beim Jobcenter oder in einer sonstigen (prekären) Übergangssituation und weißt eigentlich noch nicht ganz genau wie es weitergehen soll? Es liegt auf der Hand, dass die erste Gruppe wesentlich bessere Chancen auf einen Platz hat und dass damit diejenigen, die ohnehin auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind auch bei der Krippenplatzsuche den Kürzeren ziehen.

Darüber hinaus müssen weitere mögliche Effekte der Auswahlpraxis berücksichtigt werden. Wenn hohe Anmeldezahlen wenigen frei werdenden Plätzen gegenüberstehen, entscheiden nicht die Eltern, sondern die Einrichtungen und Träger welche Kinder sie aufnehmen. Anhand welcher Kriterien die Auswahl letztlich erfolgt ist selten 100% transparent. Es mag diejenigen geben, die vor allem für Kinder aus bildungsfernen (Migranten-)Familien da sein wollen und es als Herausforderung betrachten, sie in einem frühen Stadium mit den notwendigen Ressourcen auszustatten, damit sie ihren weiteren Lebensweg meistern können. Aber genauso gibt es jene Einrichtungen, die – auch infolge eines unzureichenden Personalschlüssels – bei der Auswahl der Kinder vor allem an reibungslose organisatorische Abläufe denken und infolgedessen jene bevorzugen, die sich mit größerer Sicherheit nicht als „Problemkinder“ oder „Problemfamilien“ erweisen.

4. Die Beitragsbefreiung für einkommensschwache Familien ist zu wenig bekannt und die bürokratischen Hürden sind zu hoch!
Die Tatsache, dass Familien mit einem geringen Lebensunterhalt nach §90 des Achten Sozialgesetzbuchs von den Kita-Gebühren befreit werden, ist vielen nicht bekannt, die daran glauben mit der Abschaffung der Gebühren die Betreuungsquote am besten erhöhen zu können. Über die Frage, wie viele der betroffenen Familien über diese Möglichkeit tatsächlich hinreichend informiert sind, lässt sich auch nur spekulieren. Regelmäßige breit gestreute Informationskampagnen gibt es jedenfalls nicht. Es scheint der zufälligen Begegnung mit informierten Menschen (seien es Professionelle oder Bekannte) überlassen, diese Auskunft weiterzugeben. Man kann also annehmen, dass sie bei einem relevanten Anteil der Familien gar nicht ankommt und in diesen Fällen möglicherweise eine Gebühr vom Kita-Besuch abschreckt, die tatsächlich nicht gezahlt werde müsste.

Darüber hinaus ist mir aus meinem persönlichen Umfeld bekannt, dass es nicht zwingend möglich ist, im Vorfeld der Anmeldung oder Inanspruchnahme eines Platzes zuverlässig in Erfahrung zu bringen, ob man befreit ist bzw. welche Höhe der Elternbeitrag haben wird. Ohne diese Information ist es jedoch schwierig einen Betreuungsvertrag zu unterzeichnen, da man letztlich das Risiko tragen muss auf den Kosten sitzen zu bleiben. Die Bearbeitung der Anträge auf Befreiung beim örtlichen Jugendamt kann Monate dauern, während man in dieser Zeit die monatliche Summe selbst auslegen muss. Sobald sich die Lebenssituation ändert (Erwerbsumfang, Gehalt, Geburt eines weiteren Kindes, Trennung, Umzug etc.), beginnt die Antragsstellung von vorne.

Diese bürokratischen Hürden schließen wiederum jene am stärksten aus, die ohnehin bereits besonders stark benachteiligt sind. Wenn zusätzliche Erschwernisse, wie unregelmäßige Arbeitszeiten oder das zeitlich festgelegte Bringen und Abholen von mehreren Kindern an unterschiedlichen Orten hinzukommen bzw. eine flexiblere Betreuung im familiären Umfeld als Alternative verfügbar ist, kann die Nicht-Inanspruchnahme eines Kita-Platzes ein durchaus naheliegendes Kalkül der Alltagsorganisation sein.

5. Dass Eltern ihre Kleinkinder nicht in Krippen geben wollen, ist kein Skandal, sondern ein Modell gesellschaftlicher Normalität!
Die bisherigen Erklärungsansätze bestreiten nicht, dass es natürlich unter Migranten wie Nicht-Migranten auch viele Familien gibt, die es schlicht ablehnen ihre Kleinkinder von fremden Personen an einem fremden Ort betreuen zu lassen. Das ist aber erstmal kein „Skandal“, sondern völlig normal. Kinder früh abzugeben ist nicht jedermanns bzw. jederfraus Sache, unabhängig von der sozialen und kulturellen Herkunft.

Bis vor wenigen Jahren, in der Zeit vor Elterngeld und Krippenausbau, hat das auch noch niemand erwartet, eher im Gegenteil. Unter anderem deshalb haben wir eine gesetzliche dreijährige Elternzeit. Auch ALG II EmpfängerInnen sind in dieser Zeit von der Vermittlung in Arbeit freigestellt. Parallel dazu ist es inzwischen auch normal geworden, relativ früh nach der Geburt von Kindern wieder in den Beruf einzusteigen. Wir sollten uns daher darüber freuen, dass nun verschiedene Modelle in Deutschland lebbar sind statt abermals einen Standard für alle formulieren und einfordern zu wollen.

Auch eine Einteilung der Familien in solche, die dringend frühkindliche Bildung in Anspruch nehmen sollten und solche, die das nicht unbedingt brauchen, ist kontraproduktiv. Familien sind der oberste Souverän ihrer eigenen elementaren Eltern-Kind-Beziehungen ebenso wie ihrer eigenen Finanz-, Zeit- und Lebensplanung. Der alltägliche Spagat zwischen dem, was Mutter, Vater, Kind will, und dem, was Mutter, Vater, Kind muss, ist allen voran ihr Spagat. Daran verbal oder auch faktisch von staatlicher Seite zu rütteln, mag in begründeten Einzelfällen sinnvoll und notwendig sein. Eine Nicht-Inanspruchnahme der öffentlich geförderten Kinderbetreuung rechtfertigt aber keine pauschale Klassifikation und Verurteilung. Soziale Unterstützung darf nicht bedeuten, dass wir besser wissen, was Eltern wollen sollen, sondern dass wir die familien- und sozialpolitischen Rahmenbedingungen auf sämtlichen Ebenen weiter aktiv verbessern und zunächst die Entscheidungsspielräume schaffen, von deren quasi-natürlicher Existenz wir gern per se ausgehen.

Die Vielfalt der Familien brauchen wir außerdem auch schon allein aus ganz pragmatischen Gründen. Denn wir können den Rechtsanspruch auf einen Krippen- bzw. Tagespflegeplatz zum Kitajahr 2013/14 nur erfüllen, wenn weiterhin mindestens zwei Drittel der Familien mit unter 3jährigen die Betreuung zuhause bevorzugen. Es ist ohnehin noch in weiter Ferne, dass selbst das festgelegte Ausbauziel von 35% bundesweit erzielt werden kann.

6. Der pädagogisch notwendige Blick auf den förderungsbedürftigen Einzelfall lässt sich nicht auf die Gesellschaft „hochrechnen“!
Die These „Die Migranten wollen keine (frühe) Bildung ihrer Kinder“ hätte nicht eine solche Schlagkraft, wenn nicht beinahe jede Pädagogin und jeder Pädagoge (ErzieherInnen eingeschlossen) sie mit plausiblen Beispielen aus der eigenen Praxis illustrieren könnten. Diese persönlichen Erfahrungen und die damit verbundenen Herausforderungen für die pädagogische Arbeit möchte ich niemandem absprechen. Ohne diejenigen, die diese Herausforderungen mit sehr viel Engagement annehmen, wäre unser Bildungs- und Betreuungssystem in jedem Fall um ein Vielfaches ärmer und wohl kaum überlebensfähig.

Was ich von einem soziologischen Standpunkt kritisiere sind die aus mehreren Einzelerfahrungen gezogenen Verallgemeinerungen auf die Gesamtheit all jener Menschen, die unter Decknamen wie „Migrationshintergrund“, „Muslime“ oder „Türken“ versammelt sind. Trotz der großen Heterogenität dieser Gesamtheiten in sozialer und kultureller Hinsicht werden sie immer häufiger in verbale Sippenhaft genommen. Das ist nicht mehr pädagogisch angemessen, sondern fahrlässige Diskriminierung.

Auch folgen pädagogische Argumentationen zu diesem Thema teilweise der Logik, dass es zu vernachlässigen sei, wenn ein Akademiker-Kind mit Migrationshintergrund oder auch ein Kind, dessen Mutter bspw. in Frankreich geboren sei, nicht bedacht oder in der Statistik nicht erfasst wird. Diese Kinder hätten ja schließlich kein „migrationsbedingtes Problem“.

Wesentlich sei es, jene Kinder besonders zu fördern, die aufgrund ihres Migrationshintergrundes sozial benachteiligt seien – und die würde man schon nicht vergessen. PädagogInnen werden dazu ausgebildet, den individuellen Förderbedarf eines Kindes sowie seine Ursachen zu beurteilen und daraus die erforderlichen Schlüsse für ihre Arbeit abzuleiten. Die Auseinandersetzung mit Begriffen und Definitionen, kann in der Praxis durchaus nebensächlich oder gar überflüssig erscheinen.

Für SoziologInnen (und auch StatistikerInnen) hingegen geht es nicht um die unmittelbare Auseinandersetzung mit individuellen Problemlagen, sondern um möglichst wirklichkeitsgetreue Beschreibungen von gesellschaftlichen Strukturen. Sie bilden die Grundlage für die Wahrnehmung und Beurteilung unserer gesellschaftlichen Realität und sind damit in höchstem Maße relevant für politische Argumentationen und Entscheidungen.

Reflexionen über den Prozess der Herstellung dieses Wissens sind deshalb keine praxisfernen wissenschaftlichen Selbstbespaßungen. Das Bemühen um möglichst wertneutrale Definitionen hat mit gutem Grund oberste Priorität: Wenn Migrationshintergrund letztlich als ein von PädagogInnen wahrnehmbares „Problem“ definiert ist, überrascht es wenig, dass statistische Analysen zu dem Ergebnis kommen, dass Kinder mit Migrationshintergrund ein Problem haben. Oder anders: Wenn ein vorhandener Migrationshintergrund von Kindern „ohne Probleme“ entweder gar nicht wahrgenommen oder als nicht zu erfassende „Ausnahme“ deklariert wird, bleiben EinwandererInnen per definitionem immer „die Desintegrierten“.

Damit werden nicht nur diverse andere Merkmale, wie Einkommen, Bildung und Familiensituation, als Einflussfaktoren auf Problemlagen ausgeblendet, sondern auch der Zusammenhang, dass Migration (als Ursache) zu einem benachteiligten Status (als Wirkung) führt, als quasi natürlicher Vorgang in unseren Wissensbeständen gespeichert und immer wieder reproduziert.

Diesen Beitrag möchte ich vor allem als Diskussionsanregung verstanden wissen. Ich beanspruche nicht, ein vollständiges oder gar widerspruchsfreies Bild entworfen zu haben. Wenn er kritische Geister dazu einlädt, Widersprüche oder Ergänzungen zu formulieren, hat er seinen Zweck erfüllt. Denn statt uns damit zu beschäftigen, was sozial schlechter Gestellte nicht wollen, aber besser wollen sollten, müssen wir uns fragen, was wir (die wir uns viel leichter Gehör verschaffen können) ändern sollten, um unser Zusammenleben offener, gerechter und lebenswerter zu gestalten.