Christsein in der Türkei

Zwischen Laizismus und Islamisierung

Seit der Wahl am 12. Juni ist das erste Mal seit fünf Jahrzehnten wieder ein Kandidat christlichen Glaubens in das türkische Parlament gewählt worden. Für die Minderheiten im Land ein gutes Zeichen. Von der verfassungsrechtlich garantierten Religionsfreiheit merken sie dennoch nicht viel und die Fortschritte werden durch Rückschläge überschattet.

Die vergangene Parlamentswahl in der Türkei endete wenig überraschend. Offen war lediglich die Frage ob die AKP es schaffen würde über zwei Drittel der Mandate zu gewinnen. Sie schaffte es nicht. Einen für viele bedeutsameren Sieg konnte aber Erol Dora erringen, denn der Aramäer errang ein Direktmandat für das Parlament in Ankara. Jetzt sind viele Hoffnungen mit seinem Namen verbunden. Dabei geht es weniger um das, was Dora als einzelner Abgeordneter erreichen kann, sondern viel mehr um die Symbolik, die mit seinem Sieg verbunden wird. Denn selbstverständlich ist seine Wahl nicht und schon seine Kandidatur war es nicht: Da in großen Teilen der Bevölkerung Vorurteile gegenüber Christen bestehen, hadern die Parteien damit sie aufzustellen. Dora ist der erste christliche Abgeordnete seit fünfzig Jahren.

Christliche Minderheiten
Zwar spricht der jüngste Fortschrittsbericht der Europäischen Union von Verbesserungen der Lage der Minderheiten, kritisiert aber auch vieles. Unter anderem das Anhaltende Verbot der Ausbildung von Geistlichen. So ist auch das orthodoxe Priesterseminar auf der Insel Heybeliada vor Istanbul weiterhin geschlossen. Die Wiedereröffnung ist eine der konkreten Forderungen der Europäischen Union für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Was populistisch klingt, ist zutreffend: Von der Religionsfreiheit, die Muslime in Deutschland und anderen Ländern der Europäischen Union größtenteils genießen, können christliche Minderheiten in der Türkei nur träumen. So werden u.a Aleviten und Aramäer bis heute nicht als religiöse Minderheit anerkannt. Diese fehlende Anerkennung ist für die Minderheiten nicht nur diskriminierend, sondern auch hochproblematisch in der täglichen Religionsausübung. So führt sie dazu, dass christliche Gemeinschaften als juristische Personen in der Türkei nicht existieren, was es ihnen verbietet Land zu erwerben, zu mieten oder zu erben. Die Wahl von Erol Dora darf als Fortschritt bezeichnet werden. Auch darüber hinaus hat sich die Lage der Minderheiten in den vergangenen Jahren leicht verbessert. So wird die praktische Religionsausübung nicht gestört, solange sie im privaten Bereich stattfindet. Auf der anderen Seite stehen die Rückschläge. Und diese überschatten leider weiterhin die langsamen Fortschritte: Die Ermordung des Bischofs Luigi Padovese in Iskenderum im Juni 2010 oder die Teilenteignung des Klosters Mor Gabriel im Januar dieses Jahres.

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Türkei steht vor dem Scheideweg
Die Türkei steht vor unglaublichen politischen Veränderungen, von einem Scheideweg ist oft die Rede. Dies könnte auch für den Umgang mit Minderheiten gelten. Erdoğan und seine konservativ-islamisch geprägte Partei regiert nun mit einer überdeutlichen Mehrheit. Davon auszugehen, dass dies für die christlichen Minderheiten per se schlecht ist, wäre allerdings falsch. Denn der kemalistische Laizismus ist mitnichten die bessere Alternative aus Sicht religiöser Minderheiten. So wäre allein die Kandidatur Erol Doras noch vor einigen Jahren nicht möglich gewesen. Um die Standards der Europäischen Union zu erreichen, deren Beitrittskandidat die Türkei seit 1999 offiziell ist, bedarf es dennoch vieler weiterer Schritte.

Momentan leben noch ca. 100.000 Christen in der Türkei, rund 85 Prozent von ihnen in Istanbul. Wie christlicher Alltag in dem Land heute aussehen kann, weiß Pater Christian Rolke C.M. Der Vinzentinerpater betreut seit 2010 die deutschsprachige katholische Auslandsgemeinde in der Türkei und wohnt in der Metropole am Bosporus. Rolke fühlt sich sehr wohl in der Stadt und lebt gerne dort. Mit den Besonderheiten seiner Arbeit hat er sich arrangiert. So sieht er seine Aufgabe ausschließlich in der Betreuung seiner deutschsprachigen Gemeindemitglieder. Auf Öffentlichkeitsarbeit, allgemeine Einladungen zu Messen, Feiern oder anderen Veranstaltungen der Gemeinde, verzichtet er. Auch, um nicht zu provozieren, wie er sagt. Dennoch blickt er „positiv und voller Hoffnung“ in die Zukunft: „Manche Veränderungen brauchen ihre Zeit.“