Özoğuz berichtet

Visapraxis bei türkischen Staatsbürgern

Am 9. Februar 2011 urteilte das Bayrische Verwaltungsgericht München, dass eine türkische Staatsangehörige als Touristin für eine Aufenthaltsdauer von bis zu 3 Monaten visumfrei nach Deutschland einreisen darf. Das Urteil knüpfte auch an eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs von 2009 (sog. „Soysal-Urteil“) an.

Ich habe diese Gelegenheit beim Schopfe gepackt, um zu erfahren, wie die Bundesregierung zu diesem Urteil steht, und ob es zukünftig Änderungen bei der Visapraxis für türkische Staatsbürger geben könnte. Die Bundesregierung argumentierte stets, dass das „Soysal-Urteil“ des EuGH nur Dienstleistungserbringer, also z.B. türkische Lastwagenfahrer, die für ein türkisches Unternehmen Dienstleistungen in Deutschland erbringen, betreffe. Mit anderen Worten: Lkw-Fahrer dürfen rein, Touristen nicht.

Eine Visaliberalisierung hat die Bundesregierung immer gerne mit der Argumentation verhindert, dass mit der Türkei noch kein Rückübernahmeabkommen geschlossen wurde. Darauf haben sich die EU und die Türkei aber am 24. Februar geeinigt. Gerade an den Vorbehalten der deutschen Regierung droht das Abkommen nun zu scheitern. Die Bundesregierung ist gegen eine visafreie Einreise von Türken und will, dass sich die Gespräche auf Visaerleichterungen für bestimmte Personengruppen beschränken. Das ist der Türkei aber nicht genug.

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In zwei Schriftlichen Fragen habe ich die Bundesregierung im März 2011 dann gefragt, wie sie sich folgenden Widerspruch erklärt: Auf der einen Seite meint die Regierung, dass nach dem Soysal-Urteil des EuGH kein Recht aller türkischer Staatsangehörigen auf visumfreie Einreise für Kurzaufenthalte zum Zweck des Empfangs von Dienstleistungen folge. Auf der anderen Seite hat das Münchner Verwaltungsgericht in seinem Urteil (Az. M 23 K 10.1983) ausdrücklich festgestellt, dass die Klägerin für einen Aufenthaltszeitraum von bis zu 3 Monaten zum Dienstleistungsempfang – insbesondere zu touristischen Zwecken – ohne Aufenthaltserlaubnis und visumfrei in die Bundesrepublik einreisen und sich dort aufhalten darf. Die Antwort der Bundesregierung war knapp und erwartungsgemäß: Für Fälle der passiven Dienstleistungsfreiheit, also bspw. eine Einreise für touristische Zwecke, sei das „Soysal-Urteil“ nicht Entscheidungsgegenstand gewesen und nach Auffassung der Bundesregierung von der Feststellungswirkung des Urteils nicht erfasst. Darüber hinaus wertete die Bundesregierung die Entscheidung des Bayrischen Verwaltungsgerichts als „Einzelfallentscheidung“ eines „erstinstanzlichen“ Gerichtes. Mit anderen Worten: Fortsetzung folgt auf der nächsten richterlichen Ebene.

Es ist bemerkenswert, dass sich die Bundesregierung in ihrer ablehnenden Haltung auf meine Fragen lediglich auf Beschlüsse der 34. Kammer des Berliner Verwaltungsgerichts stützt. Ich denke nicht, dass die Bundesregierung wirklich darauf aus ist, dass jeder türkische Tourist nunmehr Klage einreicht, um visumsfrei zum Zwecke des Empfangs von Dienstleistungen in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen. Das wäre wirklich lebensfremd und absurd.

Bisweilen artete die Angelegenheit um die türkisch Visa(un)freiheit soweit aus, dass nach dem Soysal-Urteil der Intranetzugang auf die Internetseite „Ausländerrecht für die Polizei“ seitens des Bundesinnenministeriums gesperrt wurde. Warum? Weil dort ein juristischer Kommentar zu den Auswirkungen der Soysal-Entscheidung des EuGH aufgeführt war: So kamen die renommierten Verwaltungswirte Westphal und Stoppa nämlich zu ihrer (rein privat geäußerten) Schlussfolgerung, dass Türken, die von der Dienstleistungsfreiheit Gebrauch machen, visumfrei nach Deutschland einreisen dürfen. Das hat dem Innenministerium sicher nicht gefallen. Und was es mit der Sperre verbergen wollte, bleibt mir ein Rätsel. Inzwischen ist die Seite wieder freigeschaltet.

Ein Rätsel ist auch, wieso die Bundesregierung diese systematische Weigerungshaltung zutage legt, obwohl zahlreichen Klagen gegen die Ablehnung von Visaanträgen im Sinne der Klägerinnen und Kläger nachgekommen wird? Sollte der EuGH die bisher vorgebrachte Einschränkung der Bundesregierung nicht teilen, dass das „Soysal-Urteil“ nur die aktive Dienstleistungsfreiheit betrifft, dürften türkische Touristen visafrei einreisen. In dieser seitens der türkischen Regierung angestrebten Reisefreiheit sieht die Bundesregierung wohl die Gefahr, dass viele Türken die Einreise nutzen, um dauerhaft im Land zu bleiben, statt nach maximal drei Monaten zurückzukehren.

Im Kern ist dies wohl auch die größte Angst der Bundesregierung und Anlass für ihre restriktive Haltung. Diese Bedenken sind nicht nachvollziehbar: Ein Scheitern des Rückübernahmeabkommens hätte für die EU viel weitreichendere Folgen. Die Türkei gilt im Rahmen der globalen Wanderung als Hauptreiseweg für einen Grenzübertritt in die EU. 90 Prozent der Flüchtlinge reisen über die Türkei in die EU ein. Sie kommen vor allem aus dem Mittleren Osten – aufgrund der aktuellen Situation auch zunehmend aus Afrika.

Auch die zuständige EU-Kommissarin Cecilia Malmström hatte sich jüngst dahingehend geäußert, dass sie durch die Visabefreiung keinen Anstieg der illegalen Migration erwarte. Zudem meinte sie, dass man notfalls die Visumspflicht wieder einführen könne, wenn die Türkei es nicht schaffe, die illegale Migration ihrer Staatsbürger zu unterbinden. Diese Ansicht wird durch ein Positionspapier der italienischen Regierung, das auch Länder wie Großbritannien, Spanien, Schweden, Finnland und Polen unterstützen, geteilt. Auch sie erwarten keinen nennenswerten Anstieg der Einwanderung aufgrund der positiven wirtschaftlichen Entwicklung in der Türkei.

Die Bundesregierung wäre gut beraten, ihre Position in dieser Angelegenheit noch einmal zu überdenken. Es würde ein schlechtes Bild auf unser Land werfen, würde sie die Visafreiheit für Türken wieder erst unter dem Druck der anderen Europäer mittragen, wie schon im November 2010 für Bosnier und Albaner geschehen.

Das Gezerre sollte endlich aufhören. In diesem Jahr feiern wir das 50-jährige Jubiläum des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei. Ich finde, dies sollten wir zum Anlass nehmen, um die deutsch-türkische Beziehung zu intensivieren.