Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Vorurteilsfreie Debatte über den Islam!

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) fordert eine vorurteilsfreie Debatte über den Islam. Während des rechtspolitischen Neujahrsempfangs warnte Sie vor den Folgen pauschaler Unterstellungen. Das MiGAZIN dokumentiert:

Ich begrüße Sie alle vielmals zum Rechtspolitischen Neujahrsempfang hier in den Räumen des Bundesjustizministeriums. […] Professor Rohe hat mir im Vorfeld bedeutet, dass er sich als Virtuose des kurzen Formats versteht. Dabei verlangt der Problemkreis, dem wir uns heute widmen wollen, geradezu nach einer ausführlichen Beschäftigung, denn Sie, Professor Rohe, wollen sich dem vieldiskutierten Verhältnis von Islam und Recht zuwenden. […]

„Werden hier nicht – wir Juristen würden sagen – extreme Mindermeinungen ultraorthodoxer islamischer Rechtsgelehrter angeführt, um stellvertretend für die Gesamtheit islamischen Rechts herhalten zu müssen? Und gegen diese scheinbare Bedrohung wird die jüdisch-christliche Tradition des Abendlandes ins Feld geführt.“

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Meine Damen und Herren, „Auch wer vom islamischen Recht kaum etwas weiß, hat nicht selten präzise Vorstellungen davon“. Dieses Zitat von Ihnen, Herr Professor Rohe, habe ich der Einleitung zu Ihrem Buch entnommen. Die Debatte um den Islam in Deutschland und seine Rechtsregeln wird viel zu häufig vorurteilsbeladen und unbeschwert von Sachkenntnis geführt. Ich freue mich, dass Sie gleich im Anschluss die vielen einfachen Wahrheiten der gegenwärtigen Islamdebatte als das darstellen werden, was sie sind, als unzutreffende Klischees. „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden“, heißt es im Alten Testament. Nun wird derzeit viel von einer christlich-jüdischen Kultur gesprochen und gleichwohl würde niemand behaupten, dass die Abschaffung der Todesstrafe in allen Staaten der Europäischen Union mit eben dieser Zeile aus dem 1. Buch Mose zur Disposition gestellt werden könne. Auch wenn man konzediert, dass in der muslimischen Welt Aufklärung im Kantischen Sinne nicht oder zumindest nicht durchschlagend stattgefunden hat, werden erstaunlicherweise in der Debatte um islamisches Recht nicht selten vergleichbare an den rund 1.400 Jahre alten Text des Koran anknüpfende wörtliche Auslegungen angeführt, um die islamische Rechtsfindung und Dogmatik als vormodern zu brandmarken. Werden hier nicht – wir Juristen würden sagen – extreme Mindermeinungen ultraorthodoxer islamischer Rechtsgelehrter angeführt, um stellvertretend für die Gesamtheit islamischen Rechts herhalten zu müssen? Und gegen diese scheinbare Bedrohung wird die jüdisch-christliche Tradition des Abendlandes ins Feld geführt.

Meine Damen und Herren, das Begriffspaar jüdisch-christlich genießt auf den ersten Blick einige Sympathien. Ich weiß aber, dass nicht alle unsere jüdischen Bürgerinnen und Bürger mit dieser Wortschöpfung glücklich sind. Auch historisch lässt sich diese Herleitung kaum halten. Die sehr verschiedenen Bekenntnissen und Kirchen des Christentums und der jüdische Glauben sind durch unterschiedliche Traditionslinien geprägt und sieht man genau hin, entdeckt man auch ein islamisches Erbe.

„Und doch wird Muslimen unterstellt, ihnen allen wären bestimmte Eigenschaften eigentümlich, insbesondere eine zum Fanatismus neigende übergroße Religiosität. Eine Unterstellung, die der Vielfalt des Islam nicht gerecht wird.“

Die Basis unserer heutigen Gesellschaft aber bildet keine bestimmte Konfession und auch keine Gruppe von Konfessionen. Die Basis für unser Zusammenleben sind das Grundgesetz und die darin garantieren Grundrechte. Menschenwürde, Meinungsfreiheit und die Gleichbehandlung der Geschlechter sind universale Rechte, deren Träger alle Menschen erst recht alle in unserem Land sind. Unser Blick sollte sich auf das Individuum und nicht auf eine Gruppe richten, zumal die Gruppe der Muslime sich als fest umrissene Einheit ohnehin nicht fassen lässt mit ihren zwei großen und mehreren kleinen Konfessionen, den Ländern ihrer jeweiligen unterschiedlichen Herkunft und ihren verschiedenen Geistesströmungen. Und doch wird Muslimen unterstellt, ihnen allen wären bestimmte Eigenschaften eigentümlich, insbesondere eine zum Fanatismus neigende übergroße Religiosität. Eine Unterstellung, die der Vielfalt des Islam nicht gerecht wird. Tatsächlich befolgen gläubige Muslime – und das sind bei weitem nicht alle – rituelle Vorschriften teils strenger als gläubige Christen. Staatliche Gebote und private Religiosität können in einen Konflikt geraten. Aber kann das Spannungsverhältnis von Religion und Staat stets einseitig zu Gunsten der Gesetze gelöst werden?

Meine Damen und Herren, „Der Satz ,Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen‘ ist nicht allein ein Satz des Christentums. Ich könnte Ihnen Stellen aus Sophokles Werken zitieren. Allein auf den Standpunkt des Staates und des positiven Rechts hat der Satz ‚Gott mehr gehorchen als den Urhebern obrigkeitlicher Gesetze‘ keine Geltung. Der Staat fordert unbedingt und muss unbedingt fordern, dass der Einzelne, auch wenn er abweichender Meinung ist, den Gesetzen dieses Staates gehorcht.“

Das sind nicht meine Worte. Ich habe soeben aus einer Rede des Abgeordneten Friedrich von Schauß vom November 1871 im Deutschen Reichstag wortwörtlich zitiert. Der Abgeordnete und Jurist begründete damit seine Zustimmung zu einer Entscheidung des Reichstages, einen sogenannten Kanzelparagraphen in das Strafgesetzbuch einzufügen. Damit wurde mit Gefängnis oder Festungshaft bis zu zwei Jahren bestraft, wer „über Angelegenheiten des Staates in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise“ predigte. Die übrigens auch mehrfach angewendete Strafnorm markierte als § 130a Strafgesetzbuch den Auftakt dessen, was später als Kulturkampf mit dem Katholizismus in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Die Aufklärung selbst wurde leider mit wenig aufgeklärten Mitteln durchgesetzt. Dabei wissen wir alle, dass es gute Gründe gegeben hat, dem blinden Gehorsam vor den Gesetzen zu misstrauen. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben daraus richtigerweise den Schluss gezogen, dass der Gesetzgeber an die Grundrechte der Verfassung gebunden ist und der formelle wurde in den wertegebundenen, materiellen Rechtsstaat verwandelt. Anzumerken bleibt, dass der gesetzliche Niederschlag der damals sehr hitzig geführten Debatte um den – heute würde man vielleicht sagen Hasspredigerparagraphen – zwar noch nach Inkrafttreten des Grundgesetzes bis 1953 Bestandteil des StGB blieb. Zugunsten der verfassungsrechtlich garantierten Meinungs- und Religionsfreiheit wurde er dann wieder gestrichen.

„So heißt es in den Reichstagsprotokollen, die katholischen Gläubigen seien romtreue „Ultras“, würden in den Jesuitenschulen bildungsfern unterrichtet, sie fühlten sich weniger ihren deutschen Mitbürgern als den Gläubigen in anderen Deutschland feindlich gesonnenen Staaten verbunden, die Gebiete, wo sie die Bevölkerungsmehrheit stellten, seien rückständig und – selbst dieses Argument wurde später auf polnische Einwanderer gemünzt verwendet – sie wiesen beängstigende Geburtenraten auf. Die grundlegende Argumentation ähnelt erstaunlich der heutigen.“

Meine Damen und Herren, Vergleiche soll man nie auf die Spitze treiben. Und dennoch fiel mir mit Blick auf die damaligen Diskussionen auf, dass die einstmals verwendeten und längst überwundenen antikatholischen Argumente wie unwirkliche Widergänger in der heutigen Debatte durchscheinen. So heißt es in den Reichstagsprotokollen, die katholischen Gläubigen seien romtreue „Ultras“, würden in den Jesuitenschulen bildungsfern unterrichtet, sie fühlten sich weniger ihren deutschen Mitbürgern als den Gläubigen in anderen Deutschland feindlich gesonnenen Staaten verbunden, die Gebiete, wo sie die Bevölkerungsmehrheit stellten, seien rückständig und – selbst dieses Argument wurde später auf polnische Einwanderer gemünzt verwendet – sie wiesen beängstigende Geburtenraten auf. Die grundlegende Argumentation ähnelt erstaunlich der heutigen. Wo gegenwärtig davon gesprochen wird, der Islam sei in seinem politischen Kern nicht in die demokratische Gesellschaft und damit auch in den Rechtsstaat integrierbar, hieß es 1871, die Katholiken würden sich dem Gesetz des neuen deutschen Reichs nicht beugen, denn sie gehorchten einem „höheren Recht“. Wie heute die mit Parallelgesellschaften verbundenen Gefahren herausgestellt werden, sah man damals die Gefahr, dass die katholische Kirche mit den Mitteln des innerkirchlichen Strafrechts analog zur weltlichen Gerichtsbarkeit die Einhaltung der kirchlichen Dogmen überwachen würde.

Der Kulturkampf hatte dabei einen wichtigen rationalen Kern. Es ging um die Trennung von Kirche und Staat, so wie sie später in der Weimarer Reichsverfassung ihren verfassungsmäßigen Ausdruck fand und bis heute Bestandteil des Grundgesetzes geblieben ist. Dass dieser Gedanke der Trennung von Kirche und Staat in vielen muslimisch geprägten Staaten nicht oder wenn überhaupt nur rudimentär vorhanden ist, scheint mir einer der ganz wesentlichen Unterschiede zwischen Christentum und Islam zu markieren. Ein Gedanke, dessen Realisierung erst die Religionsfreiheit in einem Staat ermöglicht. Anmerken möchte ich aber auch, dass das damals eigentlich politische Ziel der kirchenfeindlichen Politik nicht erreicht wurde. Das durch die Reichsgründung stark gewordene katholische Element in Deutschland sollte integriert und insbesondere die katholische Zentrumspartei im Reichstag geschwächt werden. Auch die Kulturkampfpolitik verband also eine rechtliche Frage mit einer Integrationsfrage. Tatsächlich brachte die Auseinandersetzung um Schulen, die Ausbildung von Geistlichen, die Frage der Eheschließungen und der staatlichen Zuwendungen an die Kirchen der Zentrumspartei eine deutliche Steigerung ihrer Wahlergebnisse.

„Wer Menschen mit bestimmten religiösen Überzeugungen mit diffusen Ängsten belegt oder sie mit einseitigen Statistiken stigmatisiert, stellt sie als anders dar und grenzt sie aus; Ausgrenzung aber führt zu Fundamentalismus und ist unserer modernen und offenen Gesellschaft nicht angemessen.“

Meine Damen und Herren, so lässt sich am Kulturkampf zeigen, wie er zu ungewollten Gegenreaktionen führt. Wer Menschen mit bestimmten religiösen Überzeugungen mit diffusen Ängsten belegt oder sie mit einseitigen Statistiken stigmatisiert, stellt sie als anders dar und grenzt sie aus; Ausgrenzung aber führt zu Fundamentalismus und ist unserer modernen und offenen Gesellschaft nicht angemessen.

Meine Aufgabe als Justizministerin sehe ich deshalb darin, das Grundgesetz und die garantierte Freiheit der vielen verschiedenen Religionen und Weltanschauungen in unserem Land in dem Maße zu garantieren, dass jede unter ihnen die gleiche Chance erhält, in der Gesellschaft Gehör für ihre Anliegen zu finden. Wie die Justitia auf der Einladungskarte bin ich blind dafür, ob religiöse Bekenntnisse mit einem Gebetsteppich, einer Ordenstracht oder einem roten Segenszeichen auf der Stirn zu Tage treten oder im Gegenteil abgelehnt werden. Blind bin ich nicht, wenn die Grenzen, die unsere Verfassung zieht, überschritten werden. Streiten wir dafür, dass allen Bürgerinnen und Bürgern die Rechte unserer Verfassung zukommen, die ihnen das Grundgesetz und die dort garantierte Freiheit aller Religionen und die Freiheit der Weltanschauungen zuspricht und dass wir Ausgrenzungen verhindern. Das Recht der christlichen Kirchen, das nicht von jedem gemochte Morgengeläut durchzuführen, ist dabei genauso schützenswürdig wie der Bau einer Moschee und der Wille eines jüdischen Rechtsanwalts, der sich am Kruzifix auf dem Richtertisch stört. Die letztere Fallkonstellation hat das BVerfG übrigens schon 1973 zu Gunsten der negativen Religionsfreiheit gelöst. Wir haben nicht nur eine liberale Verfassung. Das Grundgesetz definiert auch die Schranken einer ungehemmt ausgelebten Religionsfreiheit und auch das für alle Religionen gleichermaßen. Es geht darum, die gleichberechtigten Rechte der Religionen und Weltanschauungen untereinander zu organisieren.

Ich wünschte mir statt Angstdebatten eine vorurteilsfreie Diskussion über die Religionen und ihre Rechte. Um an das Eingangszitat anzuknüpfen: Wir müssen mehr über islamisches Recht wissen, erst dann dürfen wir es vom Standpunkt des Rechts aus kritisieren. […]