Untersuchungen über die beabsichtigte oder erfolgte Transmigration bzw. (Re-)Migration von hochqualizifizierten Türkeistämmigen in die Türkei erfreuen sich großer Beliebtheit. Neben der viel zitierten und die Publikationsflut auslösenden TASD-Studie aus dem Futureorg-Institut über die Abwanderungsabsichten der deutsch-türkischen Studierenden und Akademiker werden Reportagen über Rückkehrer und unzählige Forschungsarbeiten publiziert.
Es werden Schubfaktoren weg von Deutschland und Zugfaktoren hin in die Türkei aufgezeigt. Dabei geht es um die in der Bundesrepublik sozialisierte zweite oder dritte Migrantengeneration, die in die Türkei nicht zurück-, sondern auswandern. Laut TAVAK-Vorsitzenden Prof. Dr. Faruk Şen sind es mittlerweile 300 000 Personen aus Westeuropa und den Vereinigten Staaten, die in die Türkei gewandert sind. Im Zusammenhang mit „brain drain“, Fachkräftemangel und ethnokulturelle Diskriminierung in Deutschland ist von vielversprechenden Karriere- und Statusperspektiven in der Türkei zu lesen.
So können beispielsweise promovierte und an einer türkischen Universität als Assistenz-Professor arbeitenden Akademiker unweit Istanbuls sich für ein Fünftel ihres monatlichen Grundgehalts eine etwa 160 Quadratmeter große Wohnung leisten. Zutreffend stellt Assistenz-Professor Dr. Mehmet Öcal aus der Uni Erciyes in Kayseri fest, dass sich der Lebensstandard von deutsch-türkischen Akademikern in der Türkei deutlich verbessert – nicht nur weil sie überhaupt einer Arbeit nachgehen können. In der Türkei verfügen Rückwanderer mit einer deutschen Hochschulausbildung über Prestige, was sie von „einheimischen“ Türken absetzt und Potenzial verspricht.
Hinzu kommt: Das in Westeuropa bei Rückkehrern vorherrschende und mit erheblichen psychischen Kosten verbundene Gefühl, als Muslim, Türke, Immigrant oder als Mitglied eines in den westlichen Medien als Problemgruppe dargestellten und von der Mehrheitsbevölkerung als solche wahrgenommenen Kollektivs ausgegrenzt oder auch nur angestarrt zu werden, ist in der Türkei nicht vorhanden. Ebenso wenig ist man als Türke in der Türkei keinem Kollektivvorwurf und Generalverdacht ausgesetzt, Ehrenmorde zu befürworten oder gar zu begehen, eigene Familienangehörige zwangsweise zu verheiraten oder ein öffentliches Gebäude in die Luft zu sprengen zu wollen.
(Re)integrationsprobleme
Allerdings wird beim Rückwanderungsdiskurs ein wesentlicher Punkt übersehen: die (Re)integrationsprobleme der ausschließlich in Deutschland aufgewachsenen und folglich eher deutsch sozialisierten hoch qualifizierten Auswanderern in die türkische Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die sie lediglich aus periodisch-wiederkehrenden Urlaubsaufenthalten und Telefonaten sowie aus den Medien kennen und daher auf die in der Türkei herrschenden Zustände nicht ausreichend vorbereitet sind.
Zwar gehen Migrationsforscher von so genannten „kreativen Strategien“ aus, wonach (Re) Migranten sich bei Firmen und Organisationen mit Deutschlandbezug bewerben, um ihre Erfolgschancen durch den Bezug auf ihre deutsche Biografie auf dem türkischen Arbeitsmarkt zu erhöhen. Der Istanbuler Rückkehrer-Stammtisch fungiert dabei nicht nur als Kontaktbörse für Ratschläge, Informationen und Freundschaften zur Erleichterung der Eingewöhnung und einführenden Orientierung der Neuankömmlinge in einer fremden Umgebung als Durchgangsschleuse. Es erfüllt auch die Funktion als Arbeitsmarkt unter den deutsch-türkischen Auswandern, die dann untereinander nach deutschen Gepflogenheiten auch als Jobvermittler, Arbeitgeber oder Arbeitsuchende auftreten.
Dass jedoch außerhalb dieser „Parallelgesellschaft“ sich noch die ganze restliche Türkei mit ihren eigenen Gesetzen, Kultur und Gepflogenheiten befindet, gerät in den Hintergrund. Der Straßenverkehr, die überbevölkerten Straßen und Plätze in einer Metropole wie Istanbul, der Kontakt mit Nachbarn, Verwandten sowie Bekannten, die Behördengänge oder die Arbeit in rein türkischen Einrichtungen, zeigen Auswanderern, dass in der Türkei ganz andere Ordnungsvorstellungen, Sitten, Bräuche, Prinzipien, Regeln, Gewohnheiten, Normen und Gesetze vorherrschen, als in Deutschland, wo das Meiste hochgradig systematisch geregelt ist und in der Rechte und Pflichten für alle wahrnehmbar eineindeutig festgelegt sind. Dies ist in der Türkei etwas anders. Darauf sollten sich Rückkehrer einstellen, wenn sie nicht mit Enttäuschungen und bösen Überraschungen konfrontiert werden möchten.
Kontakte bereits in Deutschland knüpfen
Die Gesellschaft, Wirtschaft und Bürokratie in der Türkei ist fallweise von Günstlings- und Vetternwirtschaft, Ämterpatronage, Klientelismus, Korruption und von der Politik mitbestimmt. Bei der Arbeitssuche und bei der Arbeit oder anderen beruflichen Beziehungen zählt nicht immer nur das, was man kann, leistet oder weiß, sondern auch, wen man kennt und wer hinter einem steht. In Vorstellungsgesprächen ist man nicht nur an den fachlichen Qualifikationen und der Bewerber interessiert, sondern teilweise auch an der Erweiterung ihrer eigenen persönlichen Netzwerke. So kann es vorkommen, dass Bewerber gefragt werden, welche Person sie denn geschickt hat, den man später auch um einen Gefallen bitten könnte. Personen in einflussreichen Positionen bewahren über ihre Fertigkeiten und Fähigkeiten hinaus, nicht selten auch über ethnische, religiöse, politische, konfessionelle, Landsmannschafts- und Verwandtschafts-Netzwerke ihre Stellung.
Für Transmigranten hat das Folgen: Bestehende Beziehungen in Deutschland lassen sich mit der Auswanderung schlecht mitnehmen. So verfügen Jobsuchende aus Deutschland selten über persönliche Netzwerkstrukturen in der Türkei. Kontakte, deren Einfluss bis in die Türkei hineinragt, sind von großem Vorteil und sollten vor dem Schritt in die Türkei geknüpft werden, damit sie beim künftigen Arbeitgeber ein gutes Wort einlegen können. Dabei kann es sich um Personen handeln, die selber als Vermittler tätig sind, zwischen Deutschland und der Türkei hin- und herreisen und auf deren Wort Gehör geschenkt wird. Das können Geschäftsleute, Politiker oder Wissenschaftler sein.
Individuelle Lösungen sind gefragt
Des Weiteren werden im türkischen Straßenverkehr, in der Wirtschaft und bei der Arbeit sowie in den Behörden allgemeingültige Lösungen oder Handlungsanweisungen nicht allgemein vom System bereitgestellt. Jeder Einzelne muss sich seine Strategie kreativ und individuell selber zurechtlegen. Es sind individuelle Lösungen gefragt. Wer wie in Deutschland im Verkehr versucht, Verkehrsregeln einzuhalten oder wer vom „ordnungsgemäßen“ Befolgen der Verkehrsregeln ausgeht, sollte besonders in türkischen Großstädten mit der Verwicklung in einen Umfall rechnen. Erst nach einer gewissen Eingewöhnungsphase dürften Deutsch-Türken die Verkehrstauglichkeit erlangen.
Auch ist die türkische Gesellschaft dynamischer und verändert sich in einem rasanten Tempo. Vertrags- und andere Beziehungen können daher eine geringere Halbwertszeit haben als in Deutschland. Menschen kalkulieren häufig eine Exit-Option mit ein. Besonders strukturkonservative Transmigranten sollten sich darauf einstellen, langfristige Prognosen immer als „zumindest vorläufige Pläne“ zu betrachten und diese immer mit dem Adjektiv „voraussichtlich“ zu versehen. Sie sollten sich auch psychisch auf dauernde Modifizierungen in einer sich dynamisch gestaltenden und von einem schnellen Wandel betroffenen Umwelt einstellen, um Frustrationen vorzubeugen.
Diese und weitere Umstände haben bei unvorbereiteten Deutsch-Türken zu Re-Re-Migrationen nach Deutschland geführt, darunter ein plötzlich und unerwartet entlassener Volljurist, nachdem er auf eine schriftliche und „verbindliche“ Zusage einer Istanbuler Anwaltskanzlei in die Türkei gezogen war und nach einem Monat außerplanmäßig wieder entlassen wurde. Ein neuer Firmenpartner den hatte den Unternehmensschwerpunkt vollkommen umgestellt und somit die Entlassung des Anwalts mit Deutschlandbezug erreicht. Ein weiterer Fall ist die einer Chemikerin, die in einer deutschen Firma mehrere Monate mit einem mit Deutschland vergleichbaren Gehalt gearbeitet hat und nach der Weiterveräußerung der Istanbuler Filiale an ein türkeitürkisches Unternehmen deutliche Gehaltseinbußen erfahren musste. Diese Fälle können natürlich in Deutschland ebenso passieren. In der Türkei gibt es solche „Einzelfälle“ aber vermutlich häufiger.
Insofern wäre ein „Reintegrationskurs für Rückkehrer“ in der Türkei oder bereits in Deutschland von Vorteil. Auch deutsch-türkische „Parallelgesellschaften“ à la „Rückkehrer-Stammtisch“, wo Remigranten eher unter sich und in der Abgeschiedenheit ihrer türkeitürkischen Umwelt verkehren, eignen sich als erste Anlaufstellen für Rückkehrer sehr, um mögliche Enttäuschungen in der türkischen Außenwelt zu reduzieren.