Wer nicht hören will, muss fühlen, müssen sich die Richter des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gedacht haben, als sie einen weiteren Hammer auf die Ausländerpolitik fallen ließen. Mit Urteil vom 9. Dezember 2010 schoben sie unter anderem dem Vorhaben der Bundesregierung, die Ehebestandszeit von zwei auf drei Jahren zu erhöhen, einen Riegel vor.
Konkret ging es um die Auslegung der so genannten „Standstill-Klausel“ im Assoziationsrecht zwischen der EU und der Türkei. Es besagt, dass nach dessen Inkrafttreten im Jahre 1980 die aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen für türkische Arbeitnehmer nicht verschlechtert werden dürfen. Und nicht nur das, der EuGH stellte nun klar, dass diese Klausel dynamisch auszulegen ist.
Das Assoziationsabkommen soll die schrittweise Herstel- lung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Aufhebung der Beschränkung- en der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungs- verkehrs eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels‑ und Wirtschafts- beziehungen zwischen den Vertragsparteien, u. a. im Bereich der Arbeitskräfte, zu fördern, um die Lebenshaltung des türkischen Volkes zu bessern und später den Beitritt der Republik Türkei zur Gemeinschaft zu erleichtern. Das Abkommen wurde am 12. September 1963 in Ankara von der Türkei und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft unterzeichnet.
Dynamische Auslegung der Stillstand-Klausel
So gelte das Verschlechterungsverbot nicht nur im Vergleich zur Rechtslage im Jahre 1980, sondern auch in Bezug auf nachträgliche Begünstigungen. Wurde eine ausländerrechtliche Bestimmung nach Inkrafttreten der „Standstill-Klausel“ zugunsten türkischer Arbeitnehmer geändert, so stelle deren nachträgliche Verschärfung eine neue Beschränkung im Sinne dieser Vorschrift dar. Dies gelte selbst dann, wenn der Rechtszustand sich gegenüber der 1980-Rechtlage nicht verschlechtert.
Im vorliegenden Fall ging es um die Ehebestandszeit in den Niederlanden. 1980 galt dort eine Mindestehebestandszeit von drei Jahren. Diese Wartezeit wurde 1982 auf ein Jahr verkürzt und 2001 wieder auf drei Jahre verlängert. So nicht, entschieden nun die EuGH-Richter. Die Begünstigung aus dem Jahre 1982 gelte laut Assoziationsrecht nach wie vor.
Weitreichende Wirkung
Und weil es hierbei um ein Abkommen zwischen der EU und Türkei handelt, entfaltet sie auch Wirkung für Deutschland. „Durch diese Entscheidung wird ein Günstigkeitsvergleich mit den Regelungen des AuslG 1965 und 1990 erforderlich“, so der renommierte Ausländerrechtler Dr. Klaus Dienelt, der das Fachportal migrationsrecht.net betreibt. Dies gelte nicht nur für die Ehebestandszeit, sondern auch für die unbefristete Aufenthaltserlaubnis und die Nachzugsvoraussetzungen für Familienangehörigen.
Angesichts dieser Tragweite bleibt nun abzuwarten, ob und welche Konsequenzen Deutschland aus dieser Entscheidung ziehen wird. In der Vergangenheit zeigte man sich äußerst zurückhaltend, was die Umsetzung des Assoziationsrechts angeht. Die nun unmissverständliche Klarstellung des EuGH dürfte allerdings keine allzugroßen Ausweichmanöver mehr zulassen. Zumindest der umstrittene Plan zur Erhöhung der Ehebestandszeit von zwei auf drei Jahren dürfte sich erledigt haben.
Ehebestandszeit: Ein Ausländer muss mindestens zwei – künftig drei – Jahre im Bundesgebiet mit dem Ehepartner eine eheliche Lebensgemeinschaft führen, um ein von ihm unabhängiges Aufenthaltsrecht zu erlangen. Wird die eheliche Lebensgemeinschaft vor Ablauf der Ehebestandszeit aufgehoben, muss der Ehepartner wieder ausreisen.
Verschärfung ist ein Skandal
„Die Bundesregierung muss ihr Gesetzesvorhaben stoppen, wenn schon nicht aus Interesse an den betroffenen Frauen, dann eben aus europarechtlichen Gründen“, so die migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion, Sevim Dagdelen. Die Erhöhung der Ehebestandszeit von zwei auf drei Jahre sei ein Skandal. „Denn Frauen in Gewaltverhältnissen oder auch Zwangsehen müssen so aus Angst vor einer Abschiebung ein Jahr länger ausharren“, so die Linkspolitikerin. Vielmehr werde das Thema Zwangsheirat und Scheinehe erneut für eine ausgrenzende Politik instrumentalisiert.
Die Bundesregierung begründet die geplante Verschärfung mit einer angeblichen „Erhöhung der Scheineheverdachtsfälle“ seit dem Jahr 2000. Doch auf eine schriftliche Frage von Dagdelen musste sie zugeben, dass die Zahl der Tatverdächtigen wegen Scheinehenverdachts massiv zurückgehen. Im Jahr 2009 waren die Fälle mit 1.698 Personen nicht einmal mehr ein Drittel so hoch wie im Jahr 2000. (es)