Geld, Land und Nahrung

Die Lüge von der Bevölkerungsbombe

In Zeiten der Dauerkrise ist die Klage vor „zu vielen Menschen“ eine ebenso beliebte wie verklärende Strategie, um von den wahren Gründen für Armut, Hunger und Naturzerstörung abzulenken. Von Patrick Spät

„Die Schattenseite des Überflusses ist der überflüssige Mensch.“ (Ilija Trojanow)

Ständig schüren Medien und Politiker Ängste, dass Europa überrannt wird. Jüngstes Beispiel sind die menschenfeindlichen und rassistischen Pegida-Demonstrationen. Zuvor warnte der rechtspopulistische Thilo Sarrazin, SPD-Mitglied und waschechter Sozialdarwinist, bekanntermaßen davor, dass Deutschland sich „abschaffe“. Und Horst Seehofer, CSU-Vorsitzender und Ministerpräsident von Bayern, hetzte am 9. März 2011 beim politischen Aschermittwoch der CSU:

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„Wogegen wir größte Vorbehalte und Bedenken haben – und da werden wir uns in der Berliner Koalition sträuben bis zur letzten Patrone, liebe Freunde, und niemals nachgeben –, dass wir eine Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme bekommen. Das wollen wir nicht, liebe Freunde.“

Gesagt, getan: Die EU tut alles dafür, dass jährlich tausende Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, damit sie auch ja nicht unseren Wohlstand antasten. Die Grenzpolizei Frontex gleicht einer Todesschwadron. Nachdem im Herbst 2013 innerhalb weniger Tage über 400 Flüchtlinge im Mittelmeer ertranken, startete die italienische Regierung die Operation „Mare Nostrum“ (welch patriotischer Name) zur Seenotrettung von Flüchtlingen. Die Operation dauerte ein Jahr, über 150.000 Menschen wurden gerettet! Die Kosten für „Mare Nostrum“ beliefen sich auf rund 112 Millionen Euro. Es ist höchst makaber, angesichts des Schreckens mit solchen Zahlen zu rechnen – aber noch viel katastrophaler ist die EU-Politik selbst. Also: Die EU gibt damit umgerechnet 80 Euro pro Menschenleben aus. Und das ist der EU seit dem Herbst 2014 zu teuer! Der EU-Haushalt liegt bei über 140 Milliarden Euro. Und ein Menschenleben ist schlichtweg unbezahlbar!

Ein kurzer Vergleich in Sachen Geld: Das EU-Parlament zieht jeden Monat einmal zwischen Brüssel und Straßburg hin und her. Alle Abgeordneten machen diesen wohl größten Wanderzirkus der Welt mit. Aktenordner und Computer werden in zig LKWs herumtransportiert. Und was kostet der Spaß? Laut Europäischem Rechnungshof belaufen sich die Kosten pro Jahr auf über 200 Millionen Euro! Das sind europäische Werte: Wir schicken Abgeordnete mit Lastwägen und Zügen durch Europa. Aber Boote schicken, wenn Menschen – darunter viele Kinder – ertrinken, das ist der EU zu teuer. So viel zum Friedensnobelpreisträger Europäische Union.

Gleichzeitig investiert die EU zig Millionen Euro in Frontex bzw. ins neue Programm Frontex+, bei dem der deutsche Bundesinnenminister Thomas de Maizière „weder das Mandat und noch die Ressourcen“ für Seenotrettungen sieht. Die Menschen sollen nach dem Willen de Maizières nicht gerettet, sondern abgeschoben und abgedrängt werden: „Wir müssen die Umsetzung unserer gemeinsamen Rückführungspolitik […] innerhalb der EU mit den Drittstaaten verbessern. Eine solche Arbeit der Identitätsermittlung würde, zusammen mit der Rückkehrpolitik, auch ein integraler Bestandteil der Operation Frontex + sein.“

Kein Wort darüber, dass die Flüchtlinge ein Recht darauf haben, einen Asylantrag zu stellen. Und kein Wort darüber, dass Flüchtlinge nicht aus Jux und Tollerei fliehen, sondern weil sie verfolgt und vertrieben werden und notleidend sind.

Die wenigen Menschen, die an den Grenzschützern vorbeikommen, geraten vom Regen in die Traufe: Deutschland, Schweiz, Frankreich, … die reichsten Länder der Welt lassen Flüchtlinge in heruntergekommenen Unterkünften zusammenpferchen, berauben sie ihrer mobilen Freiheit und ihrer Menschenwürde. Viele müssen unter freiem Himmel schlafen und eine ärztliche Versorgung gibt es nur in lebensbedrohlichen Notfällen. Kinder bekommen keine Spielsachen und durchleben Todesängste. In Deutschland wird Kindern erst ab dem 12. Lebensjahr eine Zahnbürste zugebilligt. Und obendrein werden die Flüchtlingsunterkünfte von Sicherheitsdiensten überwacht, deren Personal oft aus Hooligans und Neonazis besteht, die Flüchtlinge drangsalieren, schikanieren und oft genug auch schlagen. All diese Grauen erleben jene, die es bis nach Deutschland geschafft haben, dass sich mit der Dublin-III-Verordnung abschotten will: Asyl können Flüchtlinge nur in dem EU-Land beantragen, das sie zuerst betreten haben. Aufgrund seiner geographischen Lage bräuchte man schon ein Katapult, um die BRD zu betreten, ohne sich zuvor durch Griechenland, Italien, Polen oder andere Länder zu bewegen. Doch schon das ist schwierig: Die reichen Industrienationen schotten sich systematisch ab.

Auf der anderen Seite der Erdkugel herrschen ähnliche Horrorszenarien: Australien startete 2014 eine Hetzkampagne gegen Boots-Flüchtlinge aus Asien: „NO WAY. YOU WILL NOT MAKE AUSTRALIA HOME“ prangerte in großen Lettern auf tausenden von Plakaten und Werbespots der australischen Regierung. Jedes Boot, das illegal in australische Gewässer eindringt, wird vom Küstenschutz abgedrängt. „Diese Regel gilt für jeden: Familien, Kinder, unbegleitete Kinder, Gebildete und Fachkräfte“, stellt die Regierung klar. Eine Ansage, die jedes Jahr für tausende Menschen den Tod bedeutet.

Früher haben die europäischen Kolonialherren die Menschen des Globalen Südens überfallen, ausgeraubt, ermordet, zwangschristianisiert, versklavt und in die Schuldknechtschaft getrieben. Heute überschwemmt die EU den afrikanischen Markt mit Billigfleisch und anderen Agrarprodukten, während die dortigen Märkte den Bach runtergehen und die Menschen weiter verarmen. Im Hintergrund unterstützt die EU Diktatoren in Afrika; und die USA Diktatoren in Lateinamerika. Über die von der CIA initiierten Putschversuche spricht kaum jemand, aber regierungshörige Medien verbreiten allabendlich Bilder von überfüllten Flüchtlingslagern. Die Politik selbst – die mitverantwortlich für das Elend ist – hat gar keine allzu großen Probleme mit diesen Bildern: Sie sollen einerseits die Flüchtlinge abschrecken, andererseits sollen sie vor der vermeintlichen „Flüchtlingsflut“ warnen, die man rigoros eindämmen müsse.

In der Schweiz, in der man bereits Minarette als Bedrohung des Landfriedens ansieht, treibt die Angst vor Zuwanderung ganz andere Blüten: Die rechtskonservative Vereinigung Ecopop rührt eine menschenverachtende Propagandatrommel mit ihrer Volksinitiative „Stopp der Überbevölkerung – zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen“. Ecopop will zentrale Stellen der Bundesverfassung ändern. So soll Artikel 73 festhalten, dass durch eine Begrenzung der Einwohnerzahl „die natürlichen Lebensgrundlagen dauerhaft sichergestellt sind“, indem die „Zuwanderung im dreijährigen Durchschnitt nicht um mehr als 0,2 Prozent pro Jahr wachsen“ soll. Infolgedessen müsse die Entwicklungsarbeit des Bundes verstärkt „Massnahmen zur Förderung der freiwilligen Familienplanung“ fördern. Die Schweizer stimmten am 30. November 2014 über die Initiative ab, fast 75 Prozent votierten dagegen. Nichtsdestotrotz schwirrt das rassistisch-faschistoide Gedankengut von Ecopop weiter in den Köpfen zahlreicher Menschen umher. Es ist zu befürchten, dass Ecopop mit seiner Propaganda und mit weiteren Initiativen fortfahren wird. Auf der Homepage von Ecopop liest man etwas mehr zu den Hintergründen der ökofaschistisch anmutenden Vorhaben: „Weil die ökologischen Kapazitäten und die Ressourcen der Erde unabhängig von Staatsgrenzen beschränkt sind, und angesichts der zunehmenden internationalen Migration, soll diese eidgenössische Volksinitiative den Bevölkerungsdruck sowohl national als auch international reduzieren helfen.“

Was da etwas bürokratisch-formal daherkommt, ist sowohl inhuman als auch verklärend. Im Kern dieser These steckt der Wahn eines Thomas Robert Malthus (1766–1834), der 1798 in seinem Essay on the Principle of Population vor einer Überbevölkerung warnte: Der Pfarrer Malthus behauptete, dass die Nahrungsmittelproduktion arithmetisch wachse, während die Bevölkerung geometrisch zunehme. Mit anderen Worten: Das Nahrungsangebot vermehre sich nach dem Muster 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 …, während sich die Menschen nach dem Muster 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128 … vermehrten.

Soweit Malthus‘ Theorie, die jeglicher Wissenschaftlichkeit und Faktenlage entbehrt. Malthus verlangte von den Armen und Ärmsten sexuelle Enthaltsamkeit, von der Politik forderte er eine Abschaffung der ohnehin bescheidenen Armenfürsorge. Der nicht ganz so barmherzige Pfarrer freute sich sogar über Kriege, Hungersnöte und Epidemien: „Kriege – die stille, aber sichere Vernichtung von Menschenleben in großen Städten und Fabriken – und die engen Wohnungen und ungenügende Nahrung vieler Armen – hindern die Bevölkerung daran, über die Subsistenzmittel hinaus zu wachsen und, wenn ich eine Wendung gebrauchen darf, die zuerst gewiß befremdlich erscheint, überheben große und verheerende Epidemien der Notwendigkeit, zu vernichten, was überflüssig ist.“ Malthus‘ Menschenhass sprengt alle Register. Und er fährt fort: Ein „Normalmaß an Elend“ sei eben hinzunehmen und notwendig, denn es habe „sich gezeigt, daß infolge der unvermeidlichen Gesetze der Menschennatur manche menschliche Wesen der Not ausgesetzt sein werden. Diese sind die unglücklichen Personen, die in der großen Lebenslotterie eine Niete gezogen haben.“

Malthus naturalisiert das millionenfache Elend der Menschen und erklärt es damit für unausweichlich. Dass der Kapitalismus schuld am Elend ist, dass ebendieser Kapitalismus nicht naturgegeben ist wie der alltägliche Sonnenaufgang und folglich auch abgeschafft werden kann, all das kommt Malthus erst gar nicht in den Sinn. Die Kernthese des Malthusianismus hat sich bis heute in die Köpfe eingenistet: Angeblich minderwertige, weil arme Menschen bedrohen den Luxus der Wohlhabenden. Die soziale Frage von Armut und Reichtum wird kurzerhand biologisiert, wie der Philosoph Robert Kurz treffend kritisiert: „Malthus verlagert also das Problem aus der Struktur der gesellschaftlichen Verhältnisse heraus, um die kapitalistisch erzeugte künstliche Armut, ja sogar ‚Überflüssigkeit‘ von Menschen auf die Ebene von Karnickeln oder Bibern zu bringen, die sich unter bestimmten Bedingungen ‚zu stark vermehren‘.“

Malthus‘ abstruse und menschenfeindliche Thesen haben ihre Wurzeln im Denken der Aufklärung. Schon zu Lebzeiten der Aufklärer blieben deren Thesen nicht unkommentiert, zumal die These, dass die Armen zu viele Kinder in die Welt setzten. Jonathan Swift, der kapitalismuskritische Autor des Romans Gullivers Reisen, schrieb darüber 1729 eine tiefschwarze Satire, in der er empfiehlt,
„daß ein junges, gesundes, gutgenährtes Kind im Alter von einem Jahr eine äußerst wohlschmeckende, nahrhafte und bekömmliche Speise sei, gleichviel, ob geschmort, gebraten oder gekocht, und ich zweifle nicht, daß es in gleicher Weise zu Frikassee oder Ragout taugt. […] Ein Kind reicht für zwei Gerichte zur Bewirtung lieber Gäste, und wenn die Familie allein speist, so ergibt ein Vorder- und ein Hinterviertel ein annehmbares Gericht. […] Ich gebe zu, daß diese Speise etwas teuer wird, und eben deshalb ist sie für Gutsbesitzer besonders geeignet; denn da sie bereits die meisten Eltern verschlungen haben, steht ihnen gewiß auch das erste Anrecht auf die Kinder zu.“

Wann immer bestimmte symbolische Zahlen der Weltbevölkerung überschritten werden, machen sie die Runde in den Medien. Dort liest man dann von der „größten Bedrohung für die Menschheit“, einer „Bevölkerungsexplosion“ oder einer „Bevölkerungsbombe“ – im Jahr 1968 veröffentlichte der Schmetterlingsforscher Paul R. Ehrlich ein Buch mit gleichnamigen Titel und behauptete, dass auf der Erde nur Platz für rund 1,2 Milliarden Menschen sei. Demgegenüber steht ein anderer Extremwert des Systemanalysten Cesare Marchetti, der 1979 davon ausging, dass auf der Erde Platz für rund 1.000 Milliarden Menschen sei. Diese Prognose ist natürlich ziemlich spekulativ; doch soweit wird es vermutlich gar nicht kommen.

Denn entgegen aller Panikmache zeichnet sich seriösen Studien zufolge schon jetzt ab, dass die Weltbevölkerung bald nicht mehr wachsen, sondern sogar wieder schrumpfen wird. Schon seit Jahrzehnten verlangsamt sich die globale Wachstumsrate, so dass die Bevölkerungszunahme – in absoluten Zahlen ¬– bereits jetzt abnimmt. Im Jahr 1972 befeuerte der Club of Rome noch die Bevölkerungsdebatte mit seinem Bericht über die „Grenzen des Wachstums“. In seinen aktuellen Prognosen geht der Club of Rome davon aus, dass die Weltbevölkerung 2042 ihren Höchststand mit 8,1 Milliarden Menschen erreichen und danach wieder abnehmen wird. Gründe hierfür seien unter anderem die zunehmende globale Urbanisierung, die Übernahme westlicher Lebensmodelle (Stichwort Kleinfamilie) in den Entwicklungsländern und die sich ändernde Rolle der Frauen, die zunehmend berufstätig sind.

Derzeit leben auf der Erde rund 7,28 Milliarden Menschen. Die Zuwachsrate beträgt laut der Stiftung Weltbevölkerung pro Jahr 81.664.687 Menschen, ein Wert, der ungefähr der Gesamtbevölkerungszahl Deutschlands entspricht. Umgerechnet und abzüglich der Sterbefälle beträgt der Zuwachs pro Tag 223.739 Menschen, was 2,6 Menschen pro Sekunde entspricht.

Auf der gleichen Internetseite liest man, dass jährlich etwa 80.000.000 ungewollte Schwangerschaften auftreten, die meisten davon in den Ländern der sogenannten Dritten Welt, also im Globalen Süden. Natürlich nimmt die Bevölkerung in diesen Ländern stärker zu als in den westlichen Industrienationen. Die Verteilung von Kondomen und anderen Verhütungsmitteln wäre sicherlich hilfreich – wird jedoch massiv blockiert von der Kirche, die nur noch in diesen Ländern steigende Mitgliedszahlen hat, weil es in ihren Hallen etwas Brot gibt.

Das große ABER lautet jedoch, dass Verhütungsmittel abermals eine biologische Lösung für ein an sich soziales Problem sein sollen: Die Familien in diesen Ländern sind auf zahlreiche Kinder schlichtweg angewiesen, weil sie ansonsten keine Altersvorsorge haben. Wer keine Kinder hat und alt und schwach wird, kann sich in kein Sozialsystem retten – die Menschen brauchen Kinder, die sie versorgen – oder sie sterben. Und die Anhänger von Ecopop und andere Menschenfeinde fordern allen Ernstes, dass die Geburtenrate in diesen Ländern per gesetzlichen Zwang reguliert werden soll. Angesichts solcher Forderungen übt die in Genf forschende Anthropologin Shalini Randeria deutliche Kritik an der westlichen Doppelmoral:

„Wenn eine Frau aus Kamerun mehrere Kinder zur Welt bringt, trägt sie angeblich zur globalen Überbevölkerung bei, wenn der Schweizer aber zwei Autos kauft, kurbelt er das Wirtschaftswachstum an. Man kann die Frage der vermeintlichen Überbevölkerung nicht vom Ressourcenverbrauch trennen. Die Einwohner der Stadt New York verbrauchen an einem Tag mehr Energie als der gesamte afrikanische Kontinent. […] Überzählig sind immer die Anderen: die Armen, die Ausländer, die Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften. […] Es geht nie nur um die Zahlen, sondern stets um die Frage, wer sich vermehren darf und wer nicht.“

Wenn weltweit eine Milliarde Menschen hungert und fast die Hälfte aller weltweit lebenden Menschen mit 1 US-Dollar am Tag (über-)leben muss, dann lassen sich die Millionen Toten bequem rechtfertigen, indem man das Problem auf die „Überbevölkerung“ schiebt. In den bevölkerungsreichen Staaten des Globalen Südens schuften die Menschen täglich 16 Stunden, um in hochgiftigen Fabrikhallen unsere Smartphones, Spielsachen und Klamotten herzustellen. Wie der schreckliche Hochhauseinsturz am 24. April 2013 in Bangladesch zeigt, können die Sklavenarbeiter froh sein, wenn sie vergiftet, aber lebend aus diesen Sweatshops rauskommen. Aufgrund dieser Verhältnisse ist es gleichgültig, ob nun 1 oder 10 Milliarden Menschen in diesen Ländern leben – sie werden so oder so vom Westen ausgebeutet und müssen hungern.

Angesichts der enormen Produktivität in den Industrienationen könnte man ohne weiteres 12 Milliarden Menschen ernähren, wie der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, betont. Wenn täglich über 57.000 Menschen an Hunger sterben, in den Industrienationen aber der unerträgliche Überfluss herrscht, dann sind nicht die Menschen, sondern unsere Unmenschlichkeit das Problem. „Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Jedes Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet“, so die zutreffende Anklage Zieglers.

Im Mainstream von Politik, Medien und Stammtischen sieht man das meist anders: Schuld ist dort nie der sakrosankte Kapitalismus an der Zerstörung von Menschenleben und Natur – schuld seien die Menschen selbst aufgrund ihrer bloßen (zu zahlreichen) Existenz. Genauer: schuld sind immer nur die anderen Menschen, nicht aber das Profitstreben der westlichen Industrienationen. Nach dieser menschenverachtenden Logik ist nicht die Ausbeutung der Menschen ein Übel, sondern die Fortpflanzung der ausgebeuteten Menschen. So jedenfalls wollen es uns viele Medien und Politiker weismachen. Das ist nicht nur bequem und realitätsfern, es ist aktiv menschenverachtend, wie auch die Publizistin und Sozialforscherin Jutta Ditfurth in ihrem Buch Worum es geht festhält:

„Das Bild von der zu kleinen Erde, auf der sich die Armen hemmungslos fortpflanzen, während die Lebensmittelproduktion stagniere, ist ein prominentes Klischee der Inhumanität. […] Statt zu fragen: ‚Wie viele Menschen erträgt die Erde?‘, müsste es lauten: ‚Wie viel Kapitalismus ertragen der Mensch und die Natur noch?‘ […] Die üblichen Berichte über die Entwicklung der Weltbevölkerung sind meist mit Bildern eng gedrängter dunkelhäutiger Menschenmassen illustriert, selten mit Bildern Hellhäutiger im Feierabendverkehr, beim Schlussverkauf oder in Autobahnstaus zu Ferienbeginn.“

Die Niederlande (405 Einwohner pro km2), Deutschland (226 Einwohner pro km2) oder die Schweiz (200 Einwohner pro km2) sind weit dichter besiedelt als Äthiopien (87 Einwohner pro km2) oder Nigeria, das bevölkerungsreichste Land Afrikas (165 Einwohner pro km2). Und wenn irgendwo auf der Welt „Überbevölkerung“ herrscht, dann eindeutig im Club der Superreichen: In Monaco drängen sich 18.229 Menschen auf einen Quadratkilometer. Umgekehrt macht Werner Boote, Regisseur des sehenswerten Dokufilms Population Boom, folgende Rechnung auf: Selbst wenn wir alle Menschen der Welt in das kleine Österreich brächten, hätte jeder 11 Quadratmeter zur Verfügung – immerhin 2 Quadratmeter mehr, als einem österreichischen Strafgefangenen zustehen.

Es ist schlichtweg ein gezielt verbreiteter Mythos, dass Armut und Umweltprobleme von der „Bevölkerungsbombe“ ausgehen. Jeder Medienbericht, jede Politikerrede und jede Volksinitiative, die das propagiert, will lediglich rassistische Ängste schüren und die Grenzen dichtmachen – dichter als sie es ohnehin schon sind. Außerdem dienen diese Behauptungen als Beruhigungsmittel dafür, dass nicht etwa unsere massive inhumane Ausbeutung, sondern die simple biologische Vermehrung der Grund allen Elends sei. Fakt ist aber: Ein durchschnittlicher US-Amerikaner verbraucht 32-mal so viele Ressourcen wie ein durchschnittlicher Kenianer – und in den USA leben knapp 320 Millionen Menschen. Und ebendieser steigende Ressourcenverbrauch ist nicht ans Bevölkerungs-, sondern ans Wirtschaftswachstum gekoppelt.

Sowohl in linken als auch in bürgerlichen und rechten Medien liest man nur noch die Zauberwörtchen „Wachstum, Wachstum, Wachstum“. Wachstum wohin denn bitte? Die westlichen Länder wachsen sich kaputt, während andernorts nur das Elend wächst. Wenn in milliardenschweren Schwellenländern wie Indien oder China jeder Bewohner ein Auto, ein Haus, ein Smartphone und ein Steak haben möchte, wer vermag ihm dann diesen Wunsch abzustreiten, solange „wir“ dieses Übermaß vorleben und sonntags unseren Zweitwagen waschen?

Ein hochgradig übertriebenes Konsumniveau von ein paar Millionen reichen Menschen einerseits und ein hochgradig inhumanes Elend von Milliarden Menschen andererseits – das kann nur in einer humanen Katastrophe münden. Wir wachsen solange, bis wir buchstäblich platzen – Immobilienblasen und Aktienkurse eingeschlossen. Unser Heißhunger nach Konsum und übertriebenem Luxus lässt andere bluten. Die WTO, der IWF und Heerscharen von Soldaten sorgen dafür, dass das so bleibt. Schuldig daran ist kein Mensch, kein einziger – schuldig ist allein die ungleiche globale Verteilung von Geld, Land und Nahrung.