In Großbritannien wurde Stephen Lawrence Anfang der 1990er Jahre rassistisch ermordet. Polizei und Staatsanwaltschaft haben nachlässig ermittelt, Beweise nicht gesichtet, Zeugen nicht verhört usw. Auf Druck der Schwarzen britischen Community wurde eine Untersuchungskommission eingerichtet. Ergebnis: Institutioneller Rassismus in der Polizei wurde systematisch nachgewiesen. Folge: Es wurden umfangreiche Gegenmaßnahmen umgesetzt.
Und in Deutschland? Dort haben NSU Terroristen über viele Jahre auf rassistische Weise neun Menschen mit Migrationshintergrund getötet und eine Polizistin. Nicht geklärt sind neben zahlreichen anderen Beispielen auch die Fälle von Ermyas Mulageta in Potsdam oder von Oury Yalloh in Dessau.
Dennoch gab es in Deutschland – eine Ausnahme ist die Justizstudie von Glet (2010) – keine systematische Untersuchung zu Rassismus und rassistischer Polizeigewalt in Deutschland, wie es der Stephan Lawrence-Inquiry in Großbritannien ansatzweise entsprechen würde. Deshalb sollen im Folgenden die Berichte der Untersuchungsausschüsse des Bundestages und der des Thüringer Landtages analysiert werden zur Klärung der Frage, ob es institutionellen Rassismus bei Polizei und anderen Behörden in Deutschland gibt.
I. Der Abschlussbericht des Bundestages 2013
In den parteiübergreifenden gemeinsamen Bewertungen im Abschlussbericht des Deutschen Bundestages (2013) heißt es: „Dass diese Taten weder verhindert noch die Täter ermittelt werden konnten, (…) ist eine beschämende Niederlage der deutschen Sicherheits- und Ermittlungsbehörden.“
Diese Niederlage kam zustande, weil die Polizei nur nach türkischen Personen ermittelt hatte. Hätten sie unabhängig von der Nationalität ermittelt, wären sie auf die Täter gestoßen. Bekundeten Beamte, was selten vorkam, die Möglichkeit, dass es sich um rechtsextreme oder rassistische Morde handeln könnte, wurden diese Hinweise in fast allen Fällen nicht verfolgt. Zudem wurde in schlechter antiziganistischer Polizeitradition systematisch gegen Roma und Sinti ermittelt weil sich so kategorisierte Personen in der Nähe eines Tatortes aufhielten. Sie hatten nichts Verdächtiges getan. Sie wurden überwacht, weil sie Roma und Sinti waren.
Damit stellten die Ermittler Deutschen quasi einen Freibrief aus, während sie Türken sowie zum Teil Roma und Sinti unter Generalverdacht stellten. Und obwohl alle Ermittlungen in migrantischen Communities komplett ergebnislos waren, wurden diese Ermittlungen umfangreich fortgesetzt während Spuren ins rechtsextreme Milieu gar nicht oder nur sporadisch verfolgt wurden.
II. Der Abschlussbericht des Thüringer Landtages
Am 21. August 2014 wurde der Abschlussbericht des Thüringer Landtages zu „Rechtsterrorismus und Behördenhandeln“ vorgelegt. Der Bericht wird eingeleitet mit:
„Wir bitten die Opferangehörigen und die 23 teils lebensgefährlich Verletzten der Sprengstoffanschläge in Köln für das ihnen entgegengebrachte Misstrauen sowie für die rassistischen Verdächtigungen um Verzeihung. (…) Wir hoffen auf eine baldige gerechte und konsequente, rechtsstaatsgemäße Verurteilung aller Täter und aller weiteren Personen, die auf verschiedene Weise wissentlich und willentlich zu den Taten des NSU beigetragen oder sie schuldhaft ermöglicht und sich der Beihilfe, der Begünstigung und – womöglich – der Strafvereitelung schuldig gemacht haben.“
Am Ende des fast 1.900 Seiten langen Berichtes werden Untersuchungsfragen beantwortet:
Wurden rechtsextreme Strukturen unterstütz?
„Die Herausbildung militanter rechtsextremistischer Strukturen wurde kaum gesehen bzw. nicht richtig bewertet und unterschätzt. Stattdessen gab es in Teilen der Gesellschaft, bei politisch Verantwortlichen sowie bei kommunalen und Landesbehörden eine verhängnisvolle Tendenz zur Verharmlosung und Entpolitisierung rechter Aktivitäten.“
„Für die gezielte Gründung oder den Aufbau von Strukturen der extremen Rechten konnte der Untersuchungsausschuss keine Belege finden. Allerdings gibt es hinreichend Gründe, von einer mittelbaren Unterstützung und Begünstigung derartiger Strukturen durch das TLfV (Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz) zu sprechen.“
Wurden die NSU Mitglieder geschützt?
„Die im Anschluss an die sog. Garagendurchsuchung und das Untertauchen von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe durchgeführte Fahndung nach den Untergetauchten ist in einem so erschreckenden Ausmaß von Desinformation, fehlerhafter Organisation, Abweichungen von üblichem Vorgehen und Versäumnissen bei der Verfolgung erfolgversprechender Hinweise und Spuren durchsetzt, dass es dem Ausschuss nicht mehr vertretbar erscheint, hier nur von ‚unglücklichen Umständen‘, ‚Pannen‘ oder ‚Fehlern‘ (…) zu sprechen. Im günstigsten Fall steht hinter dem festgestellten umfassenden Versagen vieler Akteure schlichtes Desinteresse am Auffinden der drei Gesuchten im Vergleich zu anderen Aufgaben, die den damals Handelnden möglicherweise tagesaktuell wichtiger erschienen. Die Häufung falscher oder nicht getroffener Entscheidungen und die Nichtbeachtung einfacher Standards lassen aber auch den Verdacht gezielter Sabotage und des bewussten Hintertreibens eines Auffindens der Flüchtigen zu. (…) Mit der Zurückhaltung wichtiger Informationen, die die Ermittlung des Aufenthalts der Flüchtigen hätten voranbringen können und deren Verbindungen zur Vorbereitung und Durchführung von Banküberfällen nahegelegt hätten, hat das TLfV zumindest mittelbar die Flüchtigen geschützt.“
Wurden alle Möglichkeiten zur Aufklärung genutzt?
„Nein. Das TLKA (Thüringer Landeskriminalamt) hat die Suche nach den Flüchtigen der Zielfahndungseinheit und dem TLfV überlassen und in seiner Abteilung Staatsschutz pflichtwidrig weder die Ergebnisse und Erkenntnisse zusammengeführt noch die erforderlichen Bewertungen vorgenommen. (…) Eine kontinuierliche Begleitung und gemeinsame Fortführung von Ermittlungen blieb aus.“
War der TLfV an dem Untertauchen der drei Personen beteiligt?
„Das TLfV teilte dem TLKA kurz nach dem Untertauchen mit, die Flüchtigen befänden sich auf dem Weg nach oder bereits in Belgien mit dem Ziel der Weiterreise in die USA. Dies erwies sich im Nachgang als eine Fehlinformation.“
Gab es V-Leute im Umfeld des Trios
„Es gab etliche V-Personen im Umfeld des Trios.“
Wie waren die Informationspraxen zwischen den Behörden?
„Neben einzelnen Informationen (…) scheint eine regelmäßige Unterrichtung, insbesondere an das TIM, nicht erfolgt zu sein. (…) Das TLfV hat (…) andererseits (…) von dem ihm eingeräumten Ermessen zur Weitergabe von Informationen an Strafverfolgungsbehörden fehlerhaft Gebrauch gemacht und wichtige Erkenntnisse (…) pflichtwidrig nicht den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung gestellt.“
Hätten die NSU Mitglieder festgenommen werden können?
„(…) Der Untersuchungsausschuss (…) kommt zum Schluss, dass Uwe Böhnhardt damals vor Ort hätte festgenommen werden können und müssen.“
III. Kommentierung
Die Liste der Fehleinschätzungen, Versäumnisse und Regelverstöße seitens des LKA und der LfV in Thüringen ist eindrücklich. Im Zusammenspiel haben die bundesweit und in den einzelnen Bundesländern von der Logik rassistischer Einteilungen geleiteten von Polizei, Staatsanwaltschaften, Verfassungsschutzbehörden und Innenministerien praktizierten Ermittlungslogiken und -praxen den nachweisbaren Effekt, dass bekanntermaßen rechtsextreme, mit Sprengstoff ausgerüstete und mutmaßlich bewaffnete Rechtsterroristen mehrfach nicht verhaftet wurden, obwohl dies möglich war und hätte geschehen müssen.
Heribert Prantl schreibt in der Süddeutsche Zeitung von einem furchtbaren Verdacht. „Der Verfassungsschutz hat es ermöglicht, dass gesuchte und flüchtige Neonazis im Untergrund bleiben konnten. Er hat die Neonazi-Szene vor Ermittlungen der Polizei gewarnt. Er hat mit dieser Szene in einer Weise gearbeitet, die die Juristen Kollusion nennen: Er hat verdunkelt und verschleiert. Gäbe es ein Unternehmensstrafrecht für Behörden: Dieser Verfassungsschutz verdiente die Höchststrafe – seine Auflösung. Und die Polizei? Sie hat nicht ermittelt, wo ermittelt hätte werden müssen. Es herrschte ein Klima des Wegschauens. (…) Aus den Recherchen des U-Ausschusses ergibt sich weit mehr als nur ein Anfangsverdacht gegen Beamte. Der dringende Verdacht handelt von Verfolgungsvereitelung und von strafbarer Helfershelferei.“
Und in der taz schreibt Chefredakteur Andreas Rüttenauer: „Und über all dem Wahnsinn, der sich in Thüringen einmal mehr offenbart hat, bleibt die eine große Frage weiterhin stehen: Hätten die Behörden so gehandelt, wenn die Opfergruppe eine andere gewesen wäre?“
Diese Frage muss, folgt man den Berichten, mit „Ja“ beantwortet werden. Insofern gibt es systematischen institutionellen Rassismus bei der Polizei und den Behörden in Deutschland. Ob diese Erkenntnis zu Gegenmaßnahmen führen wird nach dem Vorbild Großbritanniens, darf angesichts der bisherigen Untätigkeit bezweifelt werden. Die Chance, das Problem anzugehen, ist aber noch nicht vertan. Ganz im Gegenteil: Insbesondere der Thüringer NSU-Bericht liefert beste Argumente für einen grundlegenden Wandel. Wer diese Chance nicht nutzt, führt die bisherige rassistische Unmenschlichkeit und Ungleichbehandlung fort.