NSU-Tumor

Türkische Blicke auf die NSU-Vorgänge

Betrachtet man den bisher bekannt gewordenen NSU-Komplex, dann gibt es bisher eine klare Konstante: die so genannten „Pannen“. Auch beim anstehenden NSU-Prozess verhält es sich nicht anders.

Als die NSU zehn Morde verübte, versagten die deutschen Sicherheitsbehörden und zahlreiche Politiker auf ganzer Linie bei der Aufklärung der Taten und lieferten zahlreiche Ermittlungspannen, indem unter anderem den Opfern aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit Stereotype zugeschrieben und damit Opfer zu Tätern gemacht wurden.

Nach dem Aufliegen der NSU-Terrorgruppe wurde die deutsche Öffentlichkeit dann mit geschredderten Akten und weiteren Verfassungsschutz- und Polizeipannen konfrontiert.

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Währenddessen wurde der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages von zahlreichen Erinnerungspannen heimgesucht, vermutlich verursacht durch Fälle plötzlicher Demenz, wodurch sich zahlreiche damalige Offizielle bei heiklen Fragen allesamt nicht mehr an die genauen Vorgänge erinnern konnten.

Abschließend erleben wir nun eine gerichtliche Akkreditierungspanne, bei der durch das gewählte Verfahren türkischen Medien feste Plätze im Gerichtssaal verwehrt bleiben. Mit Blick auf den Kachelmann-Prozess, bei dem wegen der schweizerischen Staatsangehörigkeit des Angeklagten ein eigenes Kontingent für JournalistInnen aus der Schweiz geschaffen wurde, eine von deutschen Gerichten zumindest nicht immer angewandte Praxis.

Der Beschwichtigungsversuch des Gerichtspräsidenten verstärkt die Irritationen, wenn er darauf verweist, dass türkische MedienvertreterInnen sehr wohl anwesend sein können, wenn akkreditierte KollegInnen auf ihren Platz verzichten und andere, länger wartende JournalistInnen ihnen bei der Vergabe der dann unbesetzten Plätze den Vortritt lassen. „Damit besteht die Möglichkeit, dass auch türkische Journalisten bei einer Solidarität der deutschen Kollegen an dem Verfahren teilnehmen können“, so der Gerichtspräsident. Dass ein Gericht sich auf die Solidarität unter Presseleuten und das pure Glück als verfahrenstechnisches Instrument beruft, ist wohl eher eine Seltenheit. Die Hürriyet kommentierte diesen an Zufall geknüpften Zugang auf der Titelseite der Wochenendausgabe mit dem deutschen Titel „Nein zum Kuhhandel“!

Mittlerweile zweifelt der türkische Minister Bekir Bozdağ offiziell an der Unparteilichkeit des Gerichts und legt noch nach: „Das bedeutet doch, dass sie sich fürchten, weil es eine subjektive Haltung gibt.“ Der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arınç vermutet gar, dass der Ausschluss türkischer Medien bewusst geschieht, um die türkische Öffentlichkeit in Deutschland und der Türkei auszuschließen und zukünftige Proteste und Reaktionen auf Verfahrenserkenntnisse vorab abzuwürgen.

Die türkische Zeitung Today’s Zaman prangert an, das Vorgehen des Gerichts zeuge von einer „schützenden Haltung gegenüber Rassisten und rechtsextremen Gruppen“ in Deutschland.

Fatih Çekirge schreibt in seiner Hürriyet-Kolumne an die OLG-Richter: „Was passiert, wenn ihr uns nicht diesen Gerichtssaal hineinlasst? Das Richterkollegium des Gerichts, das im Saal sitzen wird, hat sich schon jetzt quasi aus dem Gewissen der Gesellschaft katapultiert.“ Die diesmal in Türkisch und Deutsch verfasste Kolumne enthält gleichzeitig viel Anerkennung und Lob für die deutschen JournalistInnen, die vergeblich zu helfen versuchten.

Betrachtet man den gesamten NSU-Komplex, dann gibt es bisher eine Konstante: die so genannten „Pannen“.

Wenn wir an den Anspruch der lückenlosen Aufklärung und der neuen Vertrauensbildung zurückdenken, mit dem Deutschland in diesen Prozess gegangen war, dann ist das bisher Erlebte das denkbar schlechteste Szenario, das hätte eintreten können. Die Kritik wird lauter und die verschiedensten Verschwörungstheorien werden befeuert.

Die Justiz darf bei diesem Verfahren nicht scheitern, denn eine nicht unerhebliche Zahl von MigrantInnen meint bezüglich dieser Pannenserie, eine vorsätzliche Systematik massiver Diskriminierung und Böswilligkeit erkannt zu haben.

Wenn wir den NSU-Tumor und seine Nachwirkungen besiegen wollen, dann müssen wir auch dieses Gefühl ohne Rückstände tilgen und alle Zweifel ausräumen, ohne Nachschub für neues Misstrauen zu liefern.