Bildungssystem

Von Finnland Lernen lernen?

Die finnischen Schulerfolge beruhen auch darauf, dass das Bildungssystem die gleichen Voraussetzungen für alle Kinder schafft.

Ende des vergangenen Jahres berichtete die finnische Zeitung „Kirkko ja kaupunki“, wie zwölfjährige Schüler der Grundschule Lauttasaari das Klimaverhalten von lokalen Unternehmen und Institutionen bewerten und weitere Empfehlungen geben. „Diese Arbeit der Schüler bringt der Gemeinschaft konkreten Nutzen. Dabei haben die Kinder das Gefühl, dass sie eine wichtige Aufgabe leisten“, erklärt die Lehrerin Tiina Kilpeläinen.

In der internationalen Bildungsdebatte wird das finnische Schulsystem oft als Vorbild für andere europäische Länder angeführt. Insbesondere nach den herausragenden Ergebnissen der Finnen in den Pisa-Studien der OECD hat sich deswegen sogar ein pädagogisch motivierter Finnlandtourismus entwickelt. Die Reisenden wollen sich bei diesen Besuchen etwas von dem Musterknaben Finnland für das Schulsystem ihres Heimatlandes abgucken. Der von Aila-Leena Matthies und Ehrenhard Skiera herausgegebene Sammelband „Das Bildungswesen in Finnland“ stellt in Frage, ob dieses Vorgehen Erfolg verspricht.

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Margret Karsch, seit 2007 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. 2001 bis 2006 Lehrbeauftragte an den Universitäten in Göttingen und Lüneburg sowie DAAD-Dozentin in Torun/Polen; Promotion; Tätigkeiten als freie Autorin, Redakteurin, PR-Beraterin, Workshopleiterin und Lektorin; Gründungsmitglied des Vereins cultura21, der sich für einen kulturellen Wandel im Sinne einer sozial-ökologischen Entwicklung einsetzt.

Matthies und Skiera betonen in ihrer Einleitung, dass das Schulwesen nur ein Element der gesamten finnischen Gesellschaft bildet, das eng mit anderen zentralen Institutionen des Landes verknüpft ist. Dieser Zusammenhang begründe den Erfolg. Deshalb müsse, wer die Stärken und Schwächen des finnischen Schulsystems verstehen will, die gesamte Gesellschaft, ihre Geschichte und Struktur sowie etwa die Kulturpolitik, die Konzepte für die Bildung spezieller Minderheiten, die Lehrerbildung und die Bildungsforschung betrachten. Um dies leisten zu können, haben die beiden Herausgeber Beiträge von 23 Autorinnen und Autoren versammelt. Das Fazit: Finnlands Bildungspolitik kann nicht einfach von Deutschland übernommen werden, zu unterschiedlich sind die Länder.

In Finnland besuchen alle Schülerinnen und Schüler neun Jahre lang die Grundschule und erhalten Unterricht nach einem einheitlichen Lehrplan. Nach der Grundschule ist die Schulpflicht erfüllt. Mit 15 oder 16 Jahren stehen die meisten finnischen Schülerinnen und Schüler dann vor der Wahl: Sie können sich dafür entscheiden, rund drei Jahre lang ein Gymnasium zu besuchen oder eine Berufschule.

Trotz des lokalen und individuellen Spielraumes der Schulen und Lehrenden sind die Lehrpläne auf allen Ebenen national gesteuert. Dadurch sind die finnischen Jugendlichen, ob sie in Helsinki oder in Lappland aufwachsen, nach ihren ersten neun Schuljahren weitgehend mit denselben Grundkenntnissen ausgerüstet. Privatschulen, die besondere didaktische Methoden anwenden, sind in Finnland selten – das Schulsystem ist standardisiert und folgt einem gesellschaftlichen Konsens.

Finnland als Hochburg des Konsenses
„Konsens“ ist eines der Wörter, die mit der finnischen Gesellschaft häufig verbunden werden. Der finnische Wohlfahrtstaat wurde in den 1950er Jahren begründet und seitdem durch starke staatliche Investitionen und nationale Steuerung aufgebaut. Im finnischen Mehrparteiensystem regieren breite Koalitionen, die aus größeren und kleineren Parteien zusammengesetzt sind. Das hat zur Folge, dass die zentralen politischen Richtlinien häufig Kompromisse sind.

Die Bürgerinnen und Bürgern haben die Legitimität der staatlichen Institutionen in Finnland bislang kaum in Frage gestellt. Obwohl die öffentlichen Dienstleistungen wie beispielsweise das Schulsystem den Leuten wenige Wahlmöglichkeiten bieten, scheinen die Finnen bis jetzt recht zufrieden damit zu sein. Auch leisten die meisten finnischen Männer nach wie vor Wehrdienst in der finnischen Armee. Der Bereich Gesundheitsfürsorge ist von staatlichen Leistungen und Entscheidungen dominiert. Die Finnen besuchen kommunale Gesundheitszentren, nicht wie in Deutschland Arztpraxen, die sie sich selbst ausgesucht haben. Und die Bevölkerung hat sich weitgehend kritiklos gegen die Schweinegrippe impfen lassen.

Nach Matthies und Skiera fußt das finnische Schulsystem auf der Idee „Gleichheit der Bildungschancen für alle Bürger“. Das finnische Modell orientiert sich jedoch eher an dem Ideal der „Gleichheit der Bildung“ beziehungsweise der „Gleichheit der Dienstleistungen“. Die Vorteile einer einheitlichen Grundschule, der die Schülerinnen und Schüler grundsätzlich nach ihrem Wohnort zugeteilt werden, sind klar. Da die Jugendlichen sich meist erst im Alter von 15 oder 16 Jahren zwischen aufbauenden Schulkarrieren entscheiden müssen, zählen bei der Wahl vor allem die Interessen der Jugendlichen selbst und nicht die ihrer Eltern beziehungsweise deren Bildungsstand oder Einkommen. Allein die Tatsache, dass die finnischen Kinder während der längsten Periode ihrer Schulzeit auf der Grundschule das Klassenzimmer mit Kindern verschiedener sozialer Hintergründe sowie unterschiedlichen Interessen, Stärken und Schwächen teilen, wird als Gewinn an sozialer Kompetenz und somit als Wert und gesellschaftliche Stärke gesehen.

Aila-Leena Matthies schreibt, dass das von der OECD gemessene Niveau der Bildungsleistungen in Finnland hoch ist und zwischen den Kindern nur geringfügige Unterschieden bestehen. Das einheitliche Schulsystem, auf das die positiven Ergebnisse größtenteils zurückgeführt werden, wird von den Finnen fast einmütig akzeptiert. Bei einem Volk, das es gewohnt ist, dass wichtige Entscheidungen zentral vom Staat getroffen werden, überrascht diese Einstellung kaum.

Wie umsetzbar ist Finnlands Modell aber in Gesellschaften, die anders gestaltet sind? Wie gut würde eine Idee von einer zentralstaatlich gesteuerten Einheitsschule in das föderale Deutschland passen? Wie würden die Deutschen, die sich seit langem an eine viel größere Wahlfreiheit gewöhnt haben, so eine „Standardschule“ annehmen? Die Debatten um die Gesamtschule zeigen das Konfliktpotenzial.

Pluralismus als Herausforderung
Sogar das lange homogen gebliebene Finnland steht heute vor Entwicklungen, die die Gesellschaft dauerhaft verändern werden. Die zunehmende Mobilität der Finnen, der wachsende Anteil von Migranten und die Tatsache, dass die Finnen gebildeter sind als je zuvor, führen zusammen zu einem Pluralismus der Ansichten und Bedürfnisse. Wie kann ein Schulsystem, das auf den Idealen Gleichheit und Konsens basiert, an diese Anforderungen angepasst werden?

Gegenwärtig leben in Finnland dem Statistikamt Tilastokeskus zufolge rund 140.000 Ausländer. Sogar nach konservativen Schätzungen wird diese Zahl sich in den nächsten 20 Jahren verdoppeln. Gleichzeitig werden die Finnen selbst internationaler: Im Ausland gesammelte Arbeitserfahrungen, Teilnahme an Schüler- und Studentenaustauschprogrammen sowie der Konsum von ausländischen Medien erweitern den Blickwinkel der Finnen.

Immer mehr sind immer besser gebildet
Anteil von 25- bis 34-jährigen Finnen, die einen Abschluss nach der Grundschule absolviert haben (in Prozent)

Grafik © berlin-institut.org

Seit 1975 ist der Anteil der 25- bis 34-jährigen Finnen, die einen Abschluss der Mittel- oder Oberstufe haben, kontinuierlich gestiegen. Der Anteil derer, die nur einen Grundschulabschluss besitzen, ist dagegen von 50 auf etwa 15 Prozent gesunken (Datengrundlage: Tilastokeskus).

Zu den fundamentalen gesellschaftlichen Änderungen von heute gehört der gestiegene Bildungsstand der Finnen. Seit den 1990er Jahren erreichen mehr als 80 Prozent der Finnen einen höheren Abschluss, als ihn die Grundschule bietet. Bei besser gebildeten Menschen ist das Bedürfnis, ihre Arbeit und ihr Leben selbst steuern zu können, grundsätzlich stärker ausgeprägt.

Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den Erwartungen, die die Finnen der Schule gegenüber haben: Die Eltern von heute betrachten die Schulen ihrer Kinder kritischer, als es die früheren Generationen getan haben, und suchen Möglichkeiten, selbst an der Entwicklung des Unterrichts und des Schullebens teilzuhaben. Die Schulen lassen das zu und nutzen dieses Bedürfnis. Darüber hinaus, sind es nicht nur die Eltern, die eine neue Perspektive eingenommen haben: Auch die Schüler selbst verlangen nach mehr Einflussmöglichkeiten.

Individuelle Förderung
Das paßt zu dem finnischen Schulsystem, das offenbar einen Unterricht fördert, der besser als in Deutschland auf die individuellen Stärken und Schwächen der Schülerinnen und Schüler eingeht. In Finnland sind die Lehrkräfte nicht verbeamtet, sondern werden nach Bedarf eingestellt. Vor allem aber sind die Schulen kleiner: Nur drei Prozent aller finnischen Schulen haben mehr als 500 Schüler, 40 Prozent haben weniger als 50 Schüler – und das intime Lernumfeld wirkt motivierend.

Auch die Klassen sind kleiner – und neben dem Lehrpersonal unterstützen weitere Angestellte die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen: Schulschwestern kümmern sich um die Gesundheit, Kuratoren sind Ansprechpartner bei sozialen Problemen wie Schule Schwänzen oder Streit zwischen Cliquen. Psychologen hören sich Kummer jeder Art an, Speziallehrer kümmern sich gezielt und nach besonderer Ausbildung um die Schwächeren, eine unbestimmte Anzahl von Assistenten ohne Ausbildung, etwa Abiturienten oder Hausfrauen, unterstützt die Lehrkräfte. Die Lehrenden können sich also ganz auf den Unterricht konzentrieren und müssen nicht wie an deutschen Schulen zwischen allen diesen Rollen wechseln.

Dieses Bildungssystem ist auf den ersten Blick aufwändiger als etwa das deutsche. Allerdings sind Bildungserfolge langfristige Investitionen, deren wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Nutzen sich erst auf längere Sicht zeigt. Angesichts des demografischen Wandels, der den Deutschen künftig immer kleinere Jahrgänge an jungen Menschen bescheren wird, bleibt allerdings kaum eine andere Wahl, als die Ausbildung von Lehrern und Erziehern zu spezialisieren – mit dem Ziel, Schülerinnen und Schüler in kleineren Klassen und Schulen individueller zu fördern und Leistungschwächere zu unterstützen.

Literatur / Links

Erstveröffentlichung: Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung