Integrations-Indikatorenberich

Der Vermessungswahn

Die 100 Indikatoren messen ein Objekt, die Ausländer oder Menschen mit Migrationshintergrund, so sorgfältig aus wie noch nie eine Bevölkerung vermessen wurde. Das wissenschaftliche Muster gleicht dem der Tierexperimente, denn das Objekt der Untersuchung wird auch hier wie ein bewusstloses Nicht-Subjekt behandelt.

Der 1. Integrations-Indikatorenbericht bringt es an den Tag: „Kaum Fortschritte bei Integration von Ausländern“ (SZ 12. 6. 2009). Gleichzeitig teilt das Statistische Bundesamt (12. 6. 2009) mit, dass die Zahl der Einbürgerungen in Deutschland im Jahr 2008 auf den niedrigsten Stand gefallen sei seit der Wiedervereinigung. Aller Voraussicht nach wird sich diese Lage mittelfristig nicht ändern. Und die Nachricht über diesen Umstand wird dafür sorgen, dass die Situation so bleibt. Denn das Wissen über die „großen Defizite bei Beruf und Bildung“ hat sich zum stärksten Benachteiligungsfaktor entwickelt. „Stereotype Threat“ nennt man auf gut Deutsch eine negative Dynamik des Vorurteils, bei der die Erwartung einer schlechten Leistung die zentrale Bedingung dafür ist, dass sie auch eintritt. Lehrer und Lehrherren erwarten, weil sie ja nichts Anderes hören, wenig von Migrantenkindern und –jugendlichen und ihre reduzierte Erwartung zwingt die Kinder dazu, sich mit ihrem negativen Image auseinander zu setzen. Darauf verwenden sie ihre Energie, wollen Misserfolg vermeiden – und kommen erst gar nicht zum Lernen. Und eine ganze Reihe von ähnlichen Verarbeitungsprozessen ist zu beobachten.

Damit Jugendliche mit Migrationshintergrund eine Lehrstelle erhalten, müssen sie im Schnitt deutlich bessere Schulleistungen und Noten vorzeigen als ihre einheimischen Altersgenossen. Die Nachrichten über ungleiche Bildungschancen werden gelegentlich motiviert mit dem Bewusstsein und der Intention, Abhilfe schaffen zu wollen. Das Gegenteil wird erreicht, weil das Stereotyp vom schulisch schlechten Ausländerkind und -jugendlichen neue Nahrung erhält. Zufall?

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Der Integrations-Indikatorenbericht vergleicht u.a. Deutsche mit Ausländern. Deutschland hat seit 1955 Arbeiter und Arbeiterinnen ins Land geholt und tut es auch heute noch: vom Gastarbeiter zum Saisonarbeiter. Diese Bevölkerungsgruppe mit den Einheimischen zu vergleichen heißt: Birnen mit Äpfeln zu vergleichen, Professorentöchter mit den Söhnen von un – und angelernten Arbeitern. Diese „Integration“ als tatsächliche Gleichheit, die auf dem pauschalen Vergleich beruht, wird nie stattfinden. Abgesehen davon, dass der mit den Ausländern (oder auch den Menschen mit Migrationshintergrund) vergleichbare Bevölkerungsteil der Einheimischen nicht integriert zu sein scheint. Denn auch da gibt es viele Menschen ohne Abitur, ohne Studium usw. und solche, die nicht im öffentlichen Dienst beschäftigt sind. Welch eine unsinnige Prämisse charakterisiert also den Vermessungsvergleich. Spätestens bei der höheren Kriminalität der Ausländer müssen die Wissenschaftler anfangen, spezifische Bedingungen der Lebenslage in Rechnung zu stellen, damit sie nicht die Wahlpropaganda der Republikaner replizieren.

Doch die Problemursachen liegen noch tiefer, sie sind politisch.

Der Nationale Integrationsplan („Kurzfassung für die Presse“) wird eingeleitet mit dem Satz: „Unser Land blickt auf eine lange und prägende Migrationstradition mit zahlreichen Beispielen erfolgreicher Integration zurück.“ Es ist weniger entscheidend, was hier gesagt wird, sondern wie. Es handelt sich um das Land derer, die hier sprechen, die also als Verfasser des Integrationsplans von „unserem“ Land reden. Ihnen gehört das Land und sie bestimmen, was Integration, zumal erfolgreiche, sei. Der Habitus des Landbesitzers bestimmt den Sinn einer solchen Redeweise. Das „Wir“ („neben unseren Wertvorstellungen und unserem kulturellen Selbstverständnis unsere freiheitliche und demokratische Ordnung….“ heißt es dann weiter) verfügt die Ordnung, in die die Anderen („sprechen nur ungenügend Deutsch“) sich einfügen dürfen. „Deutschland ist Integrationsland“ – heißt es im Programm der CDU. Die deklarative Verfügung durch den Herr bzw. die Frau im Hause macht unwiderruflich klar, wer Subjekt und wer Objekt der Integration ist. Man kann dann von „Dialog auf Augenhöhe“ reden und Freundlichkeiten verlautbaren – wer dem widerspricht oder eine eigene Meinung formuliert, hat immer schon unrecht.

In der Realisierung dieser Grundstruktur ist mit Hilfe von Wissenschaft und Bevölkerungsstatistik eine einzigartige, aber totalisierende Phantasie entstanden: Die vollständige Vermessung der migrantischen Bevölkerung. Diese setzt sich aus Ausländern und anderen Menschen mit Migrationshintergrund zusammen. Dieser Teil der Bevölkerung wird definiert (abstammungstheoretisch über drei Generationen nach gut volksdeutscher Tradition), von der übrigen Bevölkerung statistisch separiert und dann mit der Gesamtbevölkerung verglichen.

Der „Erste Integrationsindikatorenbericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration“, wie er offiziell heißt, vom Juni 2009 beruht auf den Daten des Mikrozensus 2005 – 2007 und anderen Quellen und stellt „den Stand der Integration von Personen mit Migrationshintergrund“ (S. 5) dar. Ein Teil der Bevölkerung hat also einen bestimmten Stand erreicht, der andere Teil der Bevölkerung betrachtet sich dies. Das Herr-und-Knecht-Verhältnis wiederholt sich umstandslos.

Systematische Grundlage der Vermessung des Zustands der Integrationsbedürftigen sind 100 Indikatoren, die 14 gesellschaftliche Bereiche erfassen. Dabei handelt es sich außer bei „Interkultureller Öffnung“, „Politik“ und „Fremdenfeindlichkeit“ (als Teil von „Kriminalität, Gewalt, Fremdenfeindlichkeit“, also in einen widersinnigen Kontext eingestellt) nur um Merkmale der Migranten. Während die deskriptiven Daten überall einen niedrigeren Integrationsgrad der Migrantenbevölkerung beschreiben, und dies kann nicht anders sein, prüfen die für den Bericht beauftragten Wissenschaftler systematisch den Einfluss des Migrationshintergrunds und stellen dabei fest, dass die üblicherweise verdächtigen sozialstrukturellen Bedingungen tatsächlich die Benachteiligung in wichtigen Dimensionen – wie Bildung beispielsweise – hervorrufen, während der Migrationshintergrund entweder keinen oder nur einen schwachen Einfluss hat. Damit werden die dem Bericht zu Grunde liegenden politischen Zuschreibungsabsichten ad absurdum geführt.

Natürlich findet man in dem Bericht auch Hinweise zur Kritik der Integrationspolitik. Aber eines muss festgehalten werden: Bei Kriminalität und Gewaltkriminalität werden die genaueren kriminologischen Untersuchungen nicht angestellt. Deren Ziel wäre nicht das „Herausrechnen“ der Migranten aus der Kriminalitätsstatistik, sondern die Integration ihrer Kriminalität nach den für alle geltenden Regeln. Noch nicht einmal dies wird beabsichtigt.

Prof. Dr. Franz Hamburger ist seit 1978 Professor für Sozialpädagogik an der Universität Mainz und Mitbegründer des Instituts für sozialpädagogische Forschung Mainz (ism). In beiden Tätigkeiten zeichnete er für Evaluationen von Projekten im Bildungsbereich (u.a. das Schulmodell Rockenhausen) und im Bereich der Sozialpädagogik (z.B. des „Projekts Kinder ausländischer Arbeitnehmer in Ludwigshafen am Rhein“) verantwortlich.

Er ist unter anderem Mitglied des Bundesjugendkuratoriums, des Beirates für Ausbildungsförderung beim Bundesministerium für Bildung und Forschung. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Migration und Minderheiten, Internationaler Vergleich in der Sozialpädagogik, Jugendhilfe sowie Öffentlichkeit der Sozialen Arbeit.

Die 100 Indikatoren messen ein Objekt, die Ausländer oder Menschen mit Migrationshintergrund (je nach Differenzierung der statistischen Erhebung), so sorgfältig aus wie noch nie eine Bevölkerung vermessen wurde. Das wissenschaftliche Muster gleicht dem der Tierexperimente, denn das Objekt der Untersuchung wird auch hier wie ein bewusstloses Nicht-Subjekt behandelt.

Wen wundert’s, dass vielfach eine Verschlechterung von „Integration“ gemessen wird oder wenn die Einbürgerungsraten zurückgehen. Denn kein einziger Indikator wird erhoben, der sich auf das Bewusstsein und die Einstellungen der Besitzer des Integrationslandes bezieht. Was sie aber denken und tun und was „ihre“ Integrationspolitik bewirkt, das ist im Kontext des herrschenden Integrationsdiskurses kein Frage. Dabei wäre es die wichtigste.

Dieser Beitrag wurde mit freundlicher Erlaubnis der Publikation „Forum Migration Juli 2009“ entnommen.