Nebenan

Heldentod

Wann immer sich Personen gegen ein von uns ungeliebtes Regime richten, neigen wir dazu, sie zu Helden zu erheben: siehe Myanmar, Ukraine oder Russland. Am Ende reden wir dann über Fluchtursachen.

Wann immer sich Menschen gegen ein von uns ungeliebtes Regime richten, neigen wir dazu, Einzelpersonen zu Helden zu erheben und alles auszublenden, was uns nicht ins Bild passt – und ja, das betrifft auch Joe Biden, aber darum geht es heute nicht. Vor einigen Jahren wurde beispielsweise die Oligarchin Julija Tymoschenko zur neuen Jeanne d’Arc hochgejazzt, die die Ukraine befreien würde – und die Medien liefen Amok mit Lob für ein politisches Leichtgewicht, das sich einen persönlichen Vorteil davon erhoffte, den bestehenden Machthaber zu stürzen.

Sicher, im Hintergrund liefen ganz andere Schweinereien: Gerade die CDU hatte über ihre eigene politische Marionette und eine eigens dafür gegründete Partei politischen Einfluss im Lande ausgeübt, um die Außengrenze der NATO mittelfristig bis in den russischen Vorgarten auszudehnen – obwohl man Jahre zuvor Russland versprochen hatte, genau das niemals zu tun. Doch kaum jemand wollte das wirklich sehen – um dann völlig überrascht zu sein, als die Ukraine in Chaos und Bürgerkrieg versank. Dass seitdem Horden von Neonazis das Land terrorisieren, Menschen ermorden oder vertreiben und nur die russische Armee in Teilen des Landes noch die Ordnung aufrechterhalten kann, war eine vorhersehbare Folge. Aber die passte eben nicht zum Narrativ.

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Noch auffälliger ist der Fall Myanmar: Vor Jahren galt Aung San Suu Kyi als Hoffnungsträgerin der Friedens- und Demokratiebewegung, sie wurde mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet und inlands wie auslands geradezu kultisch verehrt. Dann gab es freie Wahlen, Suu Kyi und ihre Partei gewannen erwartungsgemäß – und Myanmar begann ohne Zeit zu verlieren mit dem Völkermord an der muslimischen Minderheit der Rohingya. Wie weit man Suu Kyi dafür direkt verantwortlich machen kann und ob dieser rassistische Hass vorher bereits aktenkundig war, lasse ich mal dahin gestellt – aber seit dem Militärputsch dreht sich das Narrativ wieder: Aung San Suu Kyi die Kämpferin für Demokratie bestimmt wieder die Texte, Aung San Suu Kyi die völkermordende Rassistin ist vergessen.

Was will ich damit sagen?

„Wenn eine humanitäre Katastrophe ‚passiert‘ – denn die kommen ja immer aus dem Nichts und haben ganz sicher nichts mit uns zu tun – und Menschen ihre nackte Haut retten wollen, fliehen und an unsere Tür klopfen, wird bekanntlich gern über Fluchtursachen gesprochen.“

Erstens: Wenn eine humanitäre Katastrophe „passiert“ – denn die kommen ja immer aus dem Nichts und haben ganz sicher nichts mit uns zu tun – und Menschen ihre nackte Haut retten wollen, fliehen und an unsere Tür klopfen, wird bekanntlich gern über Fluchtursachen gesprochen.

Und zweitens: In der deutschen Öffentlichkeit – aber nicht nur dort – wird gerade ein mieser kleiner russischer Revoluzzer mit dem politischen Format einer Klobürste zum russischen Pendant einer Jeanne d’Arc und einer Aung San Suu Kyi im Hausarrest aufgeblasen. Auch Nawalny wird die Hoffnungen, die so mancher Putin-„Kritiker“ in ihn setzt, nicht erfüllen.

Vor Jahren noch als kruder Verschwörer mit ultrarechten Ansichten und für offen geäußerten Rassismus und Nationalismus bekannt – damals hatten wir mit Chodorkowski schließlich noch einen anderen Oligarchen (und mittlerweile verurteilten Wirtschaftsverbrecher), hinter den wir uns stellen konnten – ist er spätestens seit einem Krankenhausaufenthalt in Deutschland ein Held der Opposition. Sicher, er äußert seine extremsten Ansichten nicht mehr allzu öffentlich, um sich breiteren Wählerschichten zu öffnen – aber das tut die AfD auch, deswegen ist die aber noch lange nicht die neue Hoffnung des deutschen Parlamentarismus; nicht umsonst ist sie ein Fall für den Verfassungsschutz. Nawalny bringt derweil gerade einmal so viele Menschen auf die Straße, wie Pegida das in deren magereren Tagen gelang; wenn auch sicherlich rabiater wird er letztlich daher ebenso behandelt, wie deutsche Verfassungsfeinde (wenn dem Verfassungsschutz denn endlich mal aufgefallen ist, wie gefährlich die besagten denn nun tatsächlich sind).

Putin mag kein lupenreiner Demokrat sein, seine Beliebtheit in der russischen Bevölkerung ist trotzdem echt, er ist demokratisch gewählt worden und ob uns das passt oder nicht, er ist damit der legitime Regierungschef Russlands. Was Nawalny von Putin unterscheidet, ist, dass er vor allem noch weniger Demokrat ist. Er wird von sehr viel weniger Russen unterstützt; er hat auch weniger Respekt für Menschen, die nicht seiner politischen Gruppe angehören und offensichtlich auch für die Ergebnisse der nationalen Wahlen. Wofür ihn die dumme internationale Öffentlichkeit liebt, ist, dass er nicht Putin ist, denn der wurde mittlerweile in bestimmten Milieus zum neuen Hitler hochgejazzt. Wofür ihn informierte westliche Politiker lieben, ist, dass er unerfahren und unfähig ist.

Während Putin für sein politisches Geschick berüchtigt wird, durch das Russland wieder zu einer relevanten Macht wurde, die vom Westen nicht einfach herumgeschubst werden kann, würde es unter Nawalny vielleicht ja zu dem unbedeutenden Randstaat degenerieren, den viele europäische Führer sehen wollen – es könnte aber natürlich auch ein böses Erwachen geben. Denn Nawalny könnte auch als russischer George W. Bush enden, der Krieg als die Lösung aller Probleme sieht. Und wenn das Baltikum dann ebenso russisch ist wie die Krim, dann ginge das große Gejammer wieder los, wie es bloß so weit kommen konnte.

Sicher, der Zerfall der Sowjetunion und das deutsche Abenteuer in der Ukraine haben bereits gezeigt, wohin es genauso gut führen könnte. Aber letztlich wird es der rechten Hälfte des Parlaments dann ja doch egal sein, ob hunderttausende Balten an der deutschen Grenze stehen, weil sie vor der russischen Armee flüchten, oder ob stattdessen hunderttausende Russen vor der deutschen Grenze stehen, weil Nawalny den Vielvölkerstaat Russland von all den seiner Meinung nach minderwertigen Völkern reinigen will. Aber dann können wir ja immer noch über Fluchtursachen sprechen.