Nebenan

Fluchtursachen: ein Spoiler

Wann immer wir von Flüchtenden reden, fängt irgendwer eine Diskussion über Fluchtursachen an, um davon abzulenken, dass irgendwo Menschen auf Hilfe warten – und um konkrete Menschen in abstrakte Vorstellungen umzuformen.

Wer einem Ertrinkenden keinen Rettungsring zuwirft und stattdessen lieber eine Diskussion über eine höhere Reling anregt, ist aber nicht nur ein Zyniker der widerlichsten Sorte. Normalerweise findet diese angeregte Diskussion auch nicht mehr statt, wenn erst einmal keine Luftblasen mehr durch die Wellen brechen. Es wäre daher bereits eine Übertreibung, von einer Ablenkungsdebatte zu sprechen: Es ist die Ankündigung einer Ablehnungsdebatte, die von der eigentlichen Not ablenken soll – wenn schon nicht uns, dann zumindest sich selbst.

„Der reiche Norden hat sich praktisch alle verfügbaren Impfdosen gesichert. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass für den Rest der Welt nichts übrig ist…“

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Geben wir all den xenophoben Zynikern daher einfach mal die Chance, diese Ablenkungsdebatte dieses eine Mal schon zu führen, bevor es zu spät ist: Der reiche Norden hat sich praktisch alle verfügbaren Impfdosen gesichert. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass für den Rest der Welt nichts übrig ist – mal abgesehen davon, dass sowieso vielen Ländern das Geld fehlt, überhaupt Impfdosen einzukaufen oder diese unter 70 °C zu kühlen.

Was jedoch passiert, wenn sich Corona in der Zweiten und Dritten Welt zu einer dauerhaften Seuche entwickeln sollte, die die Leben von Milliarden dominiert, während die Erste Welt mithilfe immer wieder neuer Impfungen selbst gegen die immer neuen Mutanten ordentlich gewappnet ist, braucht nicht einmal Fantasie: Florida hatte, aufgrund des in den USA nicht vorhandenen Meldewesens und des dank Trump nicht vorhandenen Impfplans, vor Wochen kurzerhand beschlossen, praktisch allen Menschen vor Ort eine Impfung zukommen zu lassen, statt wie bei Wahlen einfach Millionen auszuschließen – solange der Vorrat reicht natürlich.

„So, wie heute reiche Brasilianer nach Miami jetten, um sich impfen zu lassen, werden sich vielleicht bald Ghanaer oder Ägypter, die sich die Reise nicht finanzieren können, der Coronatyrannei durch Flucht nach Europa entziehen wollen.“

In der Folge kam es bereits zu einer Form von Impftourismus, bei dem Menschen nicht nur aus den gesamten USA, sondern Menschen aus der ganzen Welt, die das nötige Kleingeld und die nötige Einreiseerlaubnis hatten (üblicherweise das Gleiche), lokale Impfzentren in Florida besuchten, um sich dort impfen zu lassen. Mittlerweile soll diese Möglichkeit nicht mehr bestehen, doch überall auf der Welt häufen sich Hinweise darauf, dass einfluss- und/oder geldreiche Personen die jeweiligen Impfregeln umgehen können, um früher an den begehrten Impfstoff zu kommen, als ihnen zustünde; teils gar in einem Maße, der die grassierende Impfskepsis bezwingt, wie beispielsweise die Deutsche Welle aus Polen berichtete: Wenn die Promis sich darum reißen, vor allen anderen geimpft zu werden, muss der Scheiß ja gut sein.

Mit breiterer Verfügbarkeit der Impfdosen wird sich dies nur verschieben: Sind es heute wohlhabende Erben, die armen Rentnern die lebensrettende Impfung vorenthalten, weil nun einmal alles einer kapitalistischen Verwertungslogik unterworfen werden muss, sind es morgen wohlhabende Europäer, die armen Afrikanern die lebensrettende Impfung vorenthalten. So, wie heute reiche Brasilianer nach Miami jetten, um sich impfen zu lassen, werden sich vielleicht bald Ghanaer oder Ägypter, die sich die Reise nicht finanzieren können, der Coronatyrannei durch Flucht nach Europa entziehen wollen. Wir werden uns dann aus einem weiteren Grund mit Wasserleichen auseinandersetzen müssen. Irgendwer wird dann sicher von Fluchtursachen reden und andeuten, dass die 25 Dosen, die laut WHO bisher in einem ungenannten, armen Land verimpft wurden, vielleicht zu wenig waren. Und dann werden wir wohl doch nur wieder zur Tagesordnung übergehen.