Von Neukölln in den Bundestag?

„Wofür haben Sie sich mehr geschämt?“

Hakan Demir ist Enkel von Gastarbeiter:innen und tritt für den Bundestag an. Er nimmt uns alle zwei Wochen mit auf seine Reise „von Neukölln in den Bundestag?“ Heute mit der Antwort auf eine Journalistenfrage.

„Hören Sie mal“, sagt er, „man kennt Sie noch gar nicht. Das müssen wir doch ändern!“ Eine Woche später sitze ich mit einem Journalisten zusammen unweit des Checkpoint Charlie, wo schon im Kalten Krieg beinahe zwei Welten gegeneinander fuhren. Nur ich habe gar keinen Panzer, ich bin zu Fuß gekommen.

Ich merke schnell, es geht heute nicht um mich, sondern um meine Ansichten über kontroverse Punkte innerhalb der Berliner SPD. Eigentlich geht es um unsere neue Doppelspitze: Franziska Giffey und Raed Saleh. Themen wie Verkehrspolitik, Links-rechts-Debatten in der SPD, ab und zu mischt sich ein „aber Ihr Vorsitzender“ oder „Ihre Vorsitzende hat doch gesagt“ ein.

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„Wir kommen hier noch kurz ins Plaudern und ich erzähle ihm von meiner Schulzeit, dass ich mich zum Beispiel angepasst hätte, um nicht aufzufallen. Dann stellt er doch eine Frage, die sich nur mit mir befasst. „Wofür haben Sie sich denn mehr geschämt – Migrationshintergrund oder soziale Herkunft?““

Der Journalist begleitet mich am Ende des Interviews vor die Tür. Wir kommen hier noch kurz ins Plaudern und ich erzähle ihm von meiner Schulzeit, dass ich mich zum Beispiel angepasst hätte, um nicht aufzufallen. Dann stellt er doch eine Frage, die sich nur mit mir befasst. „Wofür haben Sie sich denn mehr geschämt – Migrationshintergrund oder soziale Herkunft?“

Wir passen uns alle an. Manchmal kaufen wir uns ein Buch, eine bestimmte Kaffeesorte, eine neue Hose, lassen uns einen Schnurrbart wachsen, tätowieren uns, passen unsere Sprache an, vielleicht auch unser Denken?

In meiner Welt wurde man nur gesehen, wenn man funktionierte. Das heißt, wenn man die Anforderungen der anderen zur Zufriedenheit erledigte. Und ich habe bis in die siebte Klasse gut funktioniert. Doch dann kam ich nicht mehr weiter. Ich blieb sitzen. Ich habe die ganze Nacht geweint.

Ich gab aber nicht auf. Damals besaß ich einen Computer mit dem Betriebssystem Windows 95, ich druckte jetzt meine Hausaufgaben aus und klebte sie sorgfältig in mein DIN-A4-Heft. Ich wollte wieder funktionieren, machte mein Abitur, studierte und passte mich an. Ich begann Pullover und darunter ein Hemd zu tragen wie einige der Politik- und Jurastudenten, trank Wein, kein Bier, rasierte mich glatt, trug meine Haare eher kurz als lang.

Jahre später wollte ich das aber nicht mehr. Ich war unglücklich. Und ich wollte kein Leben führen, in dem alles, was ich tat, gegen ein trotziges Ich mühevoll erkämpft werden musste.

Früher träumte ich manchmal einen einfachen Traum. Ich stand auf einem kleinen Fußballfeld in voller Montur, Schienbeinschoner, Trikot, aber ich konnte nicht laufen, irgendwas drückte meinen Rücken auf den Boden. Ich erreichte den Ball nicht. Was lastete da auf mir?

Ich habe mich gefragt, welches Leben ich wirklich führen möchte. Nicht das Leben, das meine Eltern sich für mich vorstellten oder ein Leben, das sich andere von mir erwarteten. Seitdem nehme ich mir aktiv Zeit dafür, mir diese Frage regelmäßig zu stellen und darüber zu reflektieren. Es ist in mir ruhiger geworden und meine Entscheidungen fühlen sich jetzt stimmig und gut an.

„Ich habe mich für meine soziale Herkunft geschämt. Heute tue ich das längst nicht mehr. Heute bin ich stolz auf meine Eltern und Großeltern und die Millionen von Menschen, die das Land am Laufen halten – gerade in der Corona-Zeit.“

Journalist: „Wofür haben Sie sich mehr geschämt – Migrationshintergrund oder soziale Herkunft?“

Hakan: „Ich habe mich für meine soziale Herkunft geschämt. Heute tue ich das längst nicht mehr. Heute bin ich stolz auf meine Eltern und Großeltern und die Millionen von Menschen, die das Land am Laufen halten – gerade in der Corona-Zeit.“

Aber was ist das für eine Welt, in der bereits Kinder und Jugendliche in einen Wettkampf mit anderen treten? Ich verschwieg in meiner Schulzeit den Beruf meiner Eltern, meiner Großeltern, um nicht aufzufallen. Warum denken wir, das Haben sei wichtiger als das Sein? Warum werden wir nach Corona auf Partys mit Sicherheit wieder fragen oder gefragt werden, was jener arbeitet, was dieser so macht? „Ach so, wie toll. Schön. Da verdient man bestimmt gut, oder?“

Wie schaffen wir eine Gesellschaft, die sich offen begegnet, in der ökonomische Kategorien – wie Wettkampf und Nutzen – durch Solidarität und Respekt abgelöst werden. Das sind einige meiner Fragen und ich habe auch einige Antworten. Sie kommen noch. Der Weg ist noch lang und ich bin zu Fuß unterwegs. Ohne Panzer.