„Moralische Bankrotterklärung“

Bedford-Strohm kritisiert erneut Blockade von Rettungsschiffen

Die Corona-Pandemie hat das Thema Migration und Flucht aus dem Fokus der politischen Debatte verdrängt. Doch nach wie vor leiden Geflüchtete in Lagern an den Außengrenzen Europas und sterben auf ihrem Weg über das Mittelmeer. Die Evangelischen Kirche übt scharfe Kritik.

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, hat erneut die Blockade von Schiffen scharf kritisiert, die Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken retten. Das lasse Europa zu, während die europäischen Staaten gleichzeitig ablehnten, selbst die Seenotrettung wieder aufzunehmen, sagte der Theologe am Dienstagabend in einem Online-Symposium der Bremischen Evangelischen Kirche zu Migration und Flucht. Auch im neuen Jahr seien bereits wieder Menschen ertrunken: „Das ist ein moralischer Skandal.“

Europa verrate so seine eigenen ethischen Traditionen, mahnte Bedford-Strohm. „Aus der Sicht christlicher Grundorientierungen ist es für das Hilfshandeln nicht entscheidend, warum Menschen in Lebensgefahr geraten, sondern nur, dass sie in Lebensgefahr sind.“ Dann müsse man schlicht retten. Alle politischen Diskussionen um die Steuerung von Migration und um den Umgang mit Asylsuchenden könnten und müssten geführt werden: „Aber nicht anstatt des Rettens von Menschenleben. Die Rettung hat immer Vorrang.“

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„Sea-Watch 4“ am Auslaufen gehindert

Aktuell wird das Seenotrettungsschiff „Sea-Watch 4“ weiterhin an einem Einsatz auf dem Mittelmeer gehindert. „Daran konnte auch ein Gespräch nichts ändern, das ich im November mit der italienischen Verkehrsministerin Paola de Micheli und dem Chef der italienischen Küstenwache geführt habe“, sagte Bedford-Strohm.

Das von der EKD mitfinanzierte Schiff war im September von den italienischen Behörden in Palermo festgesetzt worden, nachdem es bei seinem ersten Einsatz mehr als 350 Menschen aus Seenot gerettet hatte. Zur Begründung waren angebliche Sicherheitsmängel genannt worden. „Es geht dabei zum Beispiel darum, dass die Sea-Watch 4 nicht als Rettungsschiff registriert ist“, sagte Bedford-Strohm. Es gebe im Flaggenstaat Deutschland aber gar keine Registrierung als Rettungsschiff. Der „Sea-Watch“ werde auch vorgeworfen, zu viele Rettungswesten an Bord zu haben. Bedford-Strohm: „Natürlich müssen solche Rettungswesten an Bord sein, weil sie möglicherweise für zu rettende Flüchtlinge gebraucht werden.“

Appell an EU-Staaten

Der Einsatz der „Sea-Watch 4“ sei dringend nötig, betonte Bedford-Strohm. In den ersten Tagen des neuen Jahres seien bereits mindestens 15 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Auch im November und Dezember und über die Weihnachtstage sei es laufend zu Überfahrten Geflüchteter, Unglücken und Toten gekommen: „Währenddessen werden neben der Sea-Watch 4 auch andere Rettungsschiffe weiter am Einsatz gehindert.“

Deshalb appelliere er gerade an die europäischen Staaten, die sich besonders auf das Christentum bezögen, die damit verbundenen ethischen Grundorientierungen endlich ernst zu nehmen. Sie müssten gemeinsam mit allen Staaten Europas eine Flüchtlingspolitik entwickeln, die nicht von Abschottung, sondern von Humanität geprägt sei.

Bedford-Strohm: „Eine Schande“

Zur gesunkenen Zahl an Asylanträgen in Deutschland im vergangenen Jahr sagte Bedford-Strohm, das sei für ihn nicht der richtige Weg. Es sei eine Schande, dass Europa die erbärmlichen Umstände in Flüchtlingslagern wie auf der griechischen Insel Lesbos und im bosnischen Camp Lipa zulasse. „Wenn Flüchtlingszahlen in Europa nicht durch die Beseitigung der Not, sondern aufgrund von Abschreckung durch menschenunwürdige Zustände gesenkt werden, dann ist das kein Erfolg, sondern eine moralische Bankrotterklärung.“

Nach der vom Bundesinnenministerium in Berlin veröffentlichten Asylstatistik wurden im vergangenen Jahr gut 76.000 Erstanträge von Einreisenden auf Schutz in Deutschland gestellt, fast ein Drittel (31,5 Prozent) weniger als im Vorjahr. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hatte die Zahl mit den Worten kommentiert, die Maßnahmen zur Steuerung der Migration wirkten, „wir sind auf dem richtigen Weg“.

„Flucht muss wieder in den Fokus“

Zusammen mit Vertretern der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Arbeiterwohlfahrt (AWO) betonte Bedford-Strohm, das Thema Migration und Flucht müsse trotz Corona-Pandemie wieder in den politischen Fokus. Um das zu erreichen plädiere er für eine Zusammenarbeit und für mehr mediale Aktivität, sagte der Präsident des AWO-Bundesverbandes, Wilhelm Schmidt.

Das Symposium sollte an Heinrich Albertz (1915-1993) erinnern. Der evangelische Theologe und SPD-Politiker war als Nachfolger von Willy Brandt Regierender Bürgermeister von Berlin. Albertz zählte zu den Vordenkern der Friedensbewegung und war zwischen 1949 und 1965 Bundesvorsitzender der Arbeiterwohlfahrt. Organisatoren des Abends waren neben der Bremischen Evangelischen Kirche der Bremer AWO-Landesverband und die Friedrich-Ebert-Stiftung. (epd/mig)