Wohnungslosigkeit

Hilfsanfragen von Familien nehmen zu

Von einem eigenen Zimmer können Kinder wohnungsloser Familien nur träumen. Für sie und ihre Eltern besteht der Alltag aus der Enge einer Notunterkunft. Familie Affizie verbringt auch Weihnachten dort.

Wer Familie Affizie besuchen will, scheitert derzeit an der Eingangstür. „Absolutes Besuchsverbot, wegen Corona“, sagt der Mann vom Sicherheitsdienst. Er steht an der Pforte zu dem mehrstöckigen Übergangswohnheim in Bremen und bittet um Verständnis. Doch im Vorflur ist ein Treffen mit Wisdorne Affizie möglich, dem Vater der sechsköpfigen Familie. Er sei froh, hier untergekommen zu sein, meint der Mann, der aus Westafrika in die Stadt gekommen ist. Vor einiger Zeit haben er und seine Familie ihre Wohnung verloren.

So hat die Sozialbehörde sie zunächst in einem Übergangswohnheim für Geflüchtete untergebracht. Es sei eng, beschreibt Wisdorne Affizie die Situation: „Meine Frau und ich schlafen zusammen mit der einjährigen Tochter in einem Raum.“ Seine drei Söhne – drei, acht und 17 Jahre alt – sind im zweiten Zimmer untergebracht.

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„Die Suche ist schwierig“

Bei dem Wohnungsverlust hätten Mietrückstände eine Rolle gespielt, außerdem eine Krankheit und auch Corona, meint der 46-Jährige, der in Nachtschichten bei einem Paketdienst arbeitet. Maßgeblich unterstützt von der Zentralen Fachstelle Wohnen in Bremen bemüht er sich nun um ein neues Dach über dem Kopf – um eine Wohnung, in der die Familie selbst entscheiden kann, wann wer kommt. „Die Suche ist schwierig“, sagt Affizie.

Sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge: An diesen Satz aus der biblischen Weihnachtsgeschichte erinnert das, was die Familie derzeit erlebt. Normalität zu Weihnachten gibt es im Corona-Jahr 2020 ohnehin kaum, bei den Affizies noch viel weniger. Und sie sind damit keine Ausnahme. Zunehmend suchten Haushalte mit minderjährigen Kindern Unterstützung in den Einrichtungen und Diensten der Wohnungslosenhilfe, das ist die Erfahrung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) mit Sitz in Berlin.

Unterkunftssituation alarmierend

Im aktuellen Jahresbericht des Verbandes zur Lebenslage von Menschen in Wohnungsnot heißt es, die Unterkunftssituation wohnungsloser Familien sei oft alarmierend. Ein großer Teil – knapp 60 Prozent – lebe bei Familienangehörigen, Partnern und Bekannten in prekären Mitwohnverhältnissen. Neun Prozent seien in Notunterkünften beziehungsweise in Übernachtungsstellen untergebracht, elf Prozent gänzlich ohne Obdach auf der Straße.

„Oft“, erläutert BAGW-Geschäftsführerin Werena Rosenke, „sind Alleinerziehende betroffen, die ohnehin das größte Armutsrisiko in Deutschland tragen.“ Auch der Anteil der Hilfesuchenden ohne deutsche Staatsbürgerschaft steigt.

Eine Atempause, immerhin.

Aber nach einem Schicksalsschlag wie einer Trennung oder Jobverlust könne es jeden treffen, sagt Sozialarbeiterin Julia Berner, die bei „RE_StaRT“ in Hannover arbeitet. Das Hilfsprojekt kümmert sich um wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen. Besonders schwierig sei es, wenn Menschen hoch verschuldet seien.

Wie die schwangere Mutter von drei Kindern, die zunächst bei einer Freundin untergekommen ist. „Irgendwann ging das nicht mehr, dann stand sie praktisch auf der Straße“, berichtet Berner. Sie konnte ihr eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in einer Notunterkunft vermitteln. Eine Atempause, immerhin.

Kündigung wegen Mietschulden

Gerade jetzt in Corona-Zeiten, in denen Menschen in Kurzarbeit kommen oder ihren Job verlieren, können viele das Geld für die Miete nicht mehr aufbringen. Denn meistens sind es Mietschulden, die zu einer fristlosen Kündigung führen.

Dazu komme die grundsätzlich schwierige Situation auf dem Wohnungsmarkt, sagt Joachim Barloschky, Sprecher des Bremer Aktionsbündnisses „Menschenrecht auf Wohnen“: „Das ist dramatisch: Seit Jahren konkurrieren Studenten, Hartz-IV-Bezieher, kinderreiche Familien, Menschen mit kleiner Rente, Alleinerziehende und Geflüchtete um guten und gleichzeitig bezahlbaren Wohnraum.“ Mehr sozialer Wohnungsbau mit mindestens 30 Jahren Bindung, eine Sozialquote bei Neubauprojekten, ein befristeter Mietpreisstopp, all das könnte auf dem Wohnungsmarkt Entlastung bringen.

BAGW fordert mehr Prävention

BAGW-Geschäftsführerin Rosenke fordert aber auch eine Ausweitung der präventiven Arbeit, damit Menschen gar nicht erst ihre Wohnung verlieren. Die leistet zum Beispiel die Zentrale Fachstelle Wohnen in Bremen, in der die Stadt und Akteure der Wohnungslosenhilfe zusammenarbeiten.

„Der Grundgedanke ist, dass wir Menschen, die obdachlos oder von Obdachlosigkeit bedroht sind, nicht durch die Stadt zu unterschiedlichen Anlaufstellen schicken wollen“, erläutert der Sprecher der Sozialbehörde, Bernd Schneider. „Es kann direkt vor Ort geprüft werden, ob Ansprüche bestehen, eine erste Unterbringung organisiert und die Frage der Kostenträgerschaft geklärt werden.“ Damit werde vermieden, dass viele Menschen „verloren gehen“, wenn sie von einer Einrichtung zu einer anderen geschickt würden. Generell versuche die Fachstelle Wohnen, eine Räumung im Vorfeld abzuwenden – was aber nur gelinge, wenn sie rechtzeitig eingeschaltet werde.

Mangel an Informationen

Manchmal allerdings fehlt es schlicht an Informationen, sowohl bei Mietern wie auch bei Vermietern. „Viele wissen gar nicht, welche Hilfsmöglichkeiten es gibt, um Wohnungsverlust zu vermeiden“, stellt Rosenke fest. Das mag ein Grund dafür sein, dass etliche Menschen, die ihre Wohnung verloren haben, sich erst einmal ohne Hilfe durchschlagen, bei Freunden, Bekannten und Familienangehörigen unterkommen.

Wenn das nicht mehr funktioniert, bleibt die Notunterkunft – oder die Straße. Das konnte die Zentrale Fachstelle in Bremen beim Ehepaar Affizie und ihren vier Kindern verhindern. Doch ihr größter Weihnachtswunsch, sagt der älteste Sohn Claudio, das sei „ein Haus für die Familie“. (epd/mig)