Netflix Serie

Bir Baskadır – Die türkische Gesellschaft beim Therapeuten

Es ist komplizierter und vieles ist anders, liebe Türkeifreunde und Polit-Experten. Einfach anders als das einfältige Türkei-Bild, das ihr uns zu oft aus engsten Blickwinkeln, mit Vorurteilen statt Kenntnissen gefüttert serviert. Guckt bitte die neue Netflix-Serie „Bir Baskadır“!

Denn die Türkei, – und Istanbul sowieso – ist einfach mehr als nur das Staatsoberhaupt Erdoğan in seinem autokratischen Drall, mit seiner Entourage und den ihm treu ergebenen Medien, – auf Türkisch spöttisch yandaş medya genannt. Es sind die Menschen aller Schichten mit ihrem aufregenden, oft zermürbenden Alltag, die das Gesicht der Städte und des Landes prägen. Voller Widersprüche und impulsiv, dabei modern und archaisch zugleich, religiös und hedonistisch vital.

Darum: wer dieses andere, weniger bekannte Türkei-Bild verstehen möchte, der sollte die acht Folgen der Netflix-Serie „Bir baskadır – 8 Menschen aus Istanbul“ nicht verpassen. Denn obwohl die Geschichten in Istanbul spielen, wird letztlich die Seelenverfassung der Türken von heute ausgebreitet, mit viel Hintersinn und feiner Ironie. Und zwar auf eine wahrhaft starke, farblich gesättigte Art, temporeich in der Montage, oft nichtlinear erzählt, ohne die allseits bekannten Bildklischees.

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In einer Folge, wir stutzen – wird gar kurdisch (!) gesprochen und hingebungsvoll gesungen, um den querschnittsgelähmten Bruder einer Protagonistin zu trösten. Also, liebe Freundinnen und Freunde, legen wir diesmal das Übliche für eine Weile beiseite und schauen uns an, was Regisseur und Drehbuch (Berkun Oya, Ali Farkhonde) zu bieten haben. Wirklich – „Bir baskadır, benim memleketim mein Land, ja, das ist etwas anderes“, wie Ayten Alpman schon in den 70er Jahren ihr Land besang.

Es war zu erwarten, dass diese Filmgeschichten schon bald nach dem Start im November zum Quoten- und Diskussionshit der Türken im In- und Ausland wurden. Und offensichtlich ist mit dieser Serie wieder ein türkischer Exportschlager auf dem Weg in die Welt, bis nach Asien und Lateinamerika, vorzugsweise in die arabischen Länder, die Golfstaaten, Ägypten und viele andere.

Das Personal der Serie

Im Zentrum steht Meryem (Öykü Karayel, großartig!), die ledige und tapfere, Kopftuch tragende junge Frau. Zum Aufräumen des stylischen Hochhausappartements des metrosexuellen Müßiggängers Sinan (Alican Yücesoy) muss sie dreimal in der Woche die halbe Stadt durchqueren. Denn sie lebt am Stadtrand, in einem arg ramponierten Haus, zusammen mit ihrem Bruder Yasin (Fatih Artman), der depressiven Schwägerin Ruhiye (Funda Eryiğit) und deren beiden Kindern. Geduldig hält sie den Haushalt zusammen. Sie kümmert sich um die traumatisierte, selbstmordgefährdete Schwägerin und bedient ihren tyrannischen Abi, der nach Geschäftspleiten jetzt nachts als Security in einer schicken Istanbuler Disko arbeitet. Doch der gnadenlose Alltag in diesem Haus, in den unaufhörlich die Bilder und Gesprächsfetzen von TV-Serien aus dem Fernsehgerät dringen, überfordert sie. Meryem erleidet Ohnmachtsanfälle und wird zur Behandlung an die Psychiaterin Peri (Defne Kayalar) überwiesen. Eine Entscheidung, die ihr Gewissensbisse bereitet und von ihrem Bruder Yasin misstrauisch beobachtet wird. Sie sucht deshalb auch Hilfe und Rat beim Hodscha des Stadtteils.

Therapeutische Sitzungen als roter Faden

Die erste Therapiesitzung scheint keine Zukunft zu haben. Zwischen dem Milieu der Therapeutin Peri, die aus einer wohlhabenden, laizistisch-republikanischen Familie mit Haus am Bosporus stammt und Meryems Leben tut sich ein Abgrund auf. Doch die Gespräche werden fortgesetzt und entwickeln sich bald zum roten Faden der rund 6,5 Stunden dauernden Serie. Das klug gesponnene Beziehungsgeflecht der Protagonisten entfaltet sich entlang der weiteren Sitzungen zu einem ungeschminkten Psychogramm der türkischen Gesellschaft.

Zum Autor: Jochen Menzel: Studium der Politikwissenschaft, Philosophie und Geschichte in Frankfurt und Berlin, Turkologie in Bamberg und Ankara; 1993 Gründung von transfers-film; Auftrags-Produktionen mit Schwerpunkt Migration und Interkultur für BR, ZDF, Goethe-Institut, Bundeszentrale für politische Bildung. Produktion zahlreicher Bildungs-Medien. Regelmäßige Teilnahme mit eigenen Filmen an Filmfestivals (Dokfilmfest München, Feminale Köln, Ankara, Alanya, Nürnberg, Boston usw.) Mehr über ihn auch unter: nurimage.de

Wir staunen und erkennen wieder: die Polarisierung, die in den letzten Jahren zugenommen hat, bis in die Familien hinein. Wir begegnen dem religiös motivierten, auf Vorteile bedachten Opportunismus, der sich im Umfeld der regierenden AKP breit macht. Wir erfahren von gebrochenen Lebensentwürfen der Erfolgreichen, die ihre Urlaube in Westeuropa zelebrieren, die am Sinn ihrer ständigen Selbstoptimierung, mit Yogakursen oder Fitness-Workouts zweifeln.

Wir fühlen den Schmerz, der die Binnenmigration aus den Dörfern in die Städte begleitet und die Sehnsucht einer Familie nach ihrer verlorenen Heimat. Wir lernen, dass hinter den Depressionen der Schwägerin Ruhiye traumatische Kindheitserfahrungen von Armut, Gewalt und sexuellem Missbrauch stehen. Wir wundern uns, dass der Hodscha immer noch nach um Rat gefragt wird, obwohl er auf alle Sorgen stereotyp mit dem Gleichnis der Plastikblume antwortet.

Was die Geschichten antreibt

Der große Pianist Fazıl Say verglich in seinem kürzlich erschienenen Buch „Auf Wasser geschrieben“ (Suya yazılan) den Zustand der türkischen Gesellschaft mit den Ängsten eines im überfüllten Bahnhof verlorenen Kindes. Er meinte damit eine Gesellschaft, die ihre Sorgen nicht aussprechen kann, weil sie das als Schuld begreift.

Genau dieses Gefühl vermittelt das Setting der ersten Folgen: Angst, Ungewissheit, Ausweglosigkeit. Meryems Alltagsgeschichten, geprägt von der gewalttätigen Präsenz ihres Bruders Yasin oder der moralischen Instanz des Stadtteilgeistlichen Ali Sadi bestürzen die Therapeutin und machen sie ratlos. Sie sucht Entlastung durch Supervision bei der Psychologin und Freundin Gülbin, einer erklärten Kopftuchgegnerin. Doch Gülbin, gefangen in eigenen, gewalttätigen Geschwisterkonflikten, verzweifelt an dem was sie hört und beendet die Supervision.

Im Laufe der weiteren Therapiegespräche scheint sich das Verhältnis umzukehren. Meryem, die selbstgebackenes Börek zu den Sitzungen mitbringt, beginnt nach und nach selbst zu fragen, zu dominieren. So ist es nicht überraschend, dass Peri moralisch zusammenbricht und am Sinn ihres westlich-individualistischen Egotrips, ihrem erlesenen Lifestyle zu zweifeln beginnt. Und dank Meryem, die mit ihrer Kraft und Gelassenheit eine starke Ausstrahlung entfaltet, neue Hoffnungen schöpft.

Auch die Verhältnisse in Meryems Haus, die ausweglos erschienen, beginnen sich zu bewegen. Ruhiye nimmt sich die Freiheit, mit ihrem kleinen Sohn ohne Erlaubnis des Mannes in ihr Dorf zu fahren. Sie sucht den Ort auf, an dem sie als junges Mädchen vergewaltigt wurde. Selbstbewusst und alleine folgt sie ihrer inneren Stimme. Sie stellt sich ihrem Trauma, begegnet dem Mann, der ihr einst Schreckliches angetan hatte.

Das leere Leben von Sinan und seine sexuellen Eskapaden drehen sich weiter bis zum Besuch seiner kranken Mutter. Er erfährt von ihr, dass sie ihn nach einem lebensbedrohenden Sturz nur deshalb zu Hilfe rief, weil es der Junge aus der Nachbarschaft, der sie Mutter nennt, so wollte. Ein Wendepunkt auch für ihn.

Und Hodscha Ali Sadi, fast sympathisch gezeichnet, versinkt nach dem überraschenden Tod seiner Frau in Trauer. Mit seinem aus den Deutschlandjahren stammenden Campingbus zieht er sich in die Natur zurück und findet Trost.

Für Meryem bahnt sich ein Glück mit dem jungen Hilmi aus der Nachbarschaft an. Er spricht mit ihr über Gefühle, Psychologie und Philosophie. Was anfangs wie ein vicious circle oder Teufelskreis aussah, beginnt sich zum Ende hin aufzulösen. So kann die Therapeutin Peri in einer der letzten Sitzungen zu Meryem mit dem bekannten türkischen Sprichwort resümieren: Das Wasser hat seinen Weg gefundensu çatlağını buldu.

Der trügerische Schein – die Welt der türkischen TV-Serien

Seit jeher gibt es in der türkischen Welt eine Leidenschaft für dramatische Geschichten. Vor 40 Jahren noch mussten sich die Menschen mit wenigen TV Soaps begnügen – man nannte sie pembe dizi – die rosa Serien. Man erinnert sich: wenn damals nach 17 Uhr auf einem der fünf türkischen Kanäle „Auch die Reichen weinen – Zenginler de Ağlar lief, wurde es leiser auf den Straßen der Städte. Die Menschen zogen sich zurück vor die kleinen, klobigen Fernsehgeräte, um die mexikanische Serie mit Mariana zu sehen, um mit ihr zu leiden und sich zu erfreuen. Heute, fast vierzig Jahre später, gehören die TV-Serien – man spricht von ca. 150 Titeln – zu einem der lukrativsten Exportgüter der Türkei, heiß begehrt von Zuschauern aus mehr als 146 Ländern. Und ihre Darstellerinnen sind zu role models geworden, vor allem für die Frauen vom Yemen bis nach Marokko.

Wie wir in Meryems Haus sehen, sind in den türkischen Communities die Serien mit ihren Dramen und Geschichten osmanischer Eroberungen zu allgegenwärtigen Lebensbegleitern geworden. So werden sie auch zum Thema der Therapiesitzungen, wenn Meryem von einer Begegnung mit einer Melisa, der Hauptdarstellerin zu schwärmen beginnt, so als ob es eine Heiligenerscheinung gewesen wäre. Peri, nicht vertraut mit der Welt der Serien und ihren Rezipienten, verschlägt es die Sprache, ist ratlos. Melisa, wiederum, die von jungen Frauen umlagerte und Männern begehrte Schauspielerin, die sich immer wünscht in einem richtigen, seriösen Film zu spielen, fragt sich: Warum die Einschaltquoten und damit ihre Gagen steigen obwohl die Qualitäten kontinuierlich sinken. Schließlich entwirft die lesbische Freundin der Adoptivtochter des Hodschas einen Rachefeldzug gegen den gewalttätigen Yasin, – er hatte sie in der Disko brutal geschlagen, – als Fortsetzung der 8. Folge von Games of Thrones!

Wir sehen: die virtuelle TV-Welt und ihre Figuren dringen tief ein in alle Poren der Gesellschaft, verweben sich unmerklich mit den Gesprächen und Handlungen ihrer Konsumenten. Die Differenz von Leben und Schein, von Realität und Film löst sich auf. Im täglich mehrstündigen Konsum überformen sie das Denken und Bewusstsein der Menschen. Der Soziologe Theodor Adorno hätte dazu gesagt: gesiegt hat die „Darstellung über das Dargestellte“, das Bild über die Wirklichkeit (Minima Moralia)

… und eine Verbeugung vor dem Schweizer Psychiater C.G. Jung

Je mehr das Personal der Serie sich psychisch „entkleidet“ und ihre Leiden auf unterdrückte Gefühle zurückführt, umso stärker kreisen ihre Gespräche über mögliche Lösungen.
Verfeindete Geschwister weinen, sprechen sich aus und umarmen sich. Ein Friede für den Augenblick.

Die Tochter des Hodscha beschäftigt die Situation des Landes. Auf ihrem Nachtisch liegt das Buch „Die Geschichte der Rückständigkeit der Türkei“ von Ismail Cem, 1970, 8. Auflage. Zusammen mit Meryem hören wir Hilmi zu, der angetan über C.G. Jung referiert, den Begründer der analytischen Psychologie. Wir ertappen uns dabei, wie wir ihm zustimmen, wenn er auffordert, Gefühle zu zeigen und die dunklen Seiten unseres Egos anzunehmen – für ihn ein Weg der Heilung. Darin schließt er die Politiker des Landes ein (!), meint aber vor allem sich selbst. Denn er hat seine Zuneigung zu Meryem entdeckt und begreift, wie sehr ihn Konventionen daran hindern, diese Sympathie auch zu zeigen.

Auf jeden Fall hat Hilmi Meryems Neugier geweckt, die später ihre Therapeutin fragen wird, ob sie schon einmal von C.G. Jung gehört habe! Eine feine Ironie, in der letztlich die Umkehrung der Therapeuten- und Klientenbeziehung gipfelt. Meryem wird in ihrer Stärke und Sanftmut zum Vorbild einer im Ego verhafteten erfolgreichen, aber einsamen Frau.

Das Happy End – ein bisschen Arabesk muss sein

Acht Folgen über Istanbuler Menschen, die uns mit ihren rauhen, ungeglätteten Lebenswelten in den Bann ziehen. Acht Filme, die mit ihrer kinematographischen Qualität und der Ausdrucksstärke der Schauspieler beeindrucken.

Neben einigen arabesk anmutenden Stellen (z.B. die Begegnung von Ruhiye mit ihrem Vergewaltiger, der ihr seine Pistole anbietet) wird das Ende wie eine große Läuterung inszeniert. Peri, die Psychiaterin verändert ihre Weltsicht. Sie beginnt die Yogafreundin und berühmte Schauspielerin Melisa (Nesrin Cavadzade) in ihren TV-Serien zu bewundern. Will heißen: sie hat sich der Realität ihrer Klientin Meryem geöffnet.

Die einst depressive Ruhiye findet nach der Reise ins Dorf zurück in die Arme ihres Mannes Yasin, der vor Rührung sogar einige Tränen vergießt. Der kleine, vor Trauer verstummte Sohn, beginnt zu wieder zu sprechen.

Meryem, das Zentrum der Filme, die Tapfere, fällt wie am Anfang der Serie noch einmal in Ohnmacht. Diesmal allerdings vor Glück. Denn Hilmi, der C.G. Jung-Experte, hat ihr ein Geschenk gemacht, als Beweis seiner Zuneigung und seines Ehewunsches. Es ist ein funkelnder Brillantring, den sie lächelnd fest in ihrer rechten Hand hält. Entschlossen ihn nie loszulassen.