Nebenan

Brotlose Kunst

Seit Corona hat die Künstlerszene das Jammern zu einer neuen Kunstform erhoben. Sie fordern Lösungen – für sich selbst. Dabei muss es heißen: Nie wieder Hunger. Nie wieder Obdachlosigkeit. Nie wieder Moria.

Genau 4 Jahre ist es bei Erscheinen dieser Zeilen her, dass Donald Trump zum Präsidenten der USA gewählt wurde. Heute wählt ein Teil der USA also erneut einen Präsidenten und ein noch größerer Teil der deutschen Journaille erwartet offenbar, dass spätestens zu den Morgennachrichten ein Ergebnis feststeht. Dabei ist der Anteil der early voters, also jener, die schon vor dem Wahltag ihre Stimme abgegeben haben, hoch wie nie und macht deutlich mehr als die Hälfte aller abgegebenen Stimmen aus (2016 haben nur knapp 130 Millionen überhaupt gewählt, über 85 Millionen schon vor diesem Wochenende).

Die Auszählung dieser überrepräsentativ demokratischen Stimmen dauert üblicherweise länger, und der Supreme Court mit seinem deutlichen republikanischen Übergewicht hat bereits angekündigt, gegebenenfalls nicht alle Stimmen wirklich auszählen zu lassen. Weder sind die Stimmen der Wahl am heutigen Dienstag also wirklich repräsentativ, noch wissen wir, ob das offizielle Wahlergebnis am Ende repräsentativ sein wird – eine Aussage über den Gewinner schon am Mittwoch ist also (aller Voraussicht nach) reine Kaffeesatzleserei.

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Währenddessen hat die Künstlerszene in Deutschland das Jammern auf teils ziemlich hohem Niveau zu einer neuen Kunstform erhoben. Ohne die Probleme, vor denen einige dieser Menschen stehen, verharmlosen zu wollen, muss ich doch mal ein paar Dinge loswerden, die mir dazu auf der Seele brennen.

Für Menschen, die nicht arbeiten können, gibt es in diesem Land eine soziale Grundversorgung. Für den Künstler, der aktuell nicht auf die Bühne kann, sollte daher dasselbe gelten, wie für die 60-jährige Solaringenieurin, die aktuell und vielleicht nie wieder einen Job finden wird, weil die deutsche Politik der deutschen Solarbranche einen Dolch in den Rücken gerammt hat.

Dass sich Künstler:innen hinstellen und eine Partikularlösung für sich selbst und ihren Berufsstand fordern, damit ihr eigener Lebensstandard gesichert wird, während sie an alle anderen Arbeitslosen keinen Gedanken verschwenden, ist schlicht asozial. Weil Hartz IV ihnen nicht zum Leben und nicht zum Sterben reicht, sie aber keinen Gedanken darauf verwenden wollen, dass es auch anderen nicht so gut gehen könnte, dass sie es vielleicht mit einem systemischen und keinem individuellen Problem zu tun haben, gehen Künstler:innen auf die Straße und rufen nach Staatshilfen – als hätte auch vor Corona nur ein einziges Prozent von Ihnen überleben können, ohne auf öffentliche Förderung durch Steuergelder angewiesen zu sein.

„Wenn den Künstler:innen das Hartz IV als Absicherung in der Krise nicht ausreicht, darf die Antwort doch nicht lauten: Sollen die anderen doch hungern, solange wir Brot und Kuchen haben – sie muss lauten: Nie wieder Hunger. Nie wieder Obdachlosigkeit. Nie wieder Moria.“

Dass alle Menschen in Deutschland vernünftig leben können sollten, egal ob hier geboren oder nicht, egal ob aus armen Verhältnissen oder mit Eltern, die genug Wohlstand angesammelt haben, damit Sohnemann und Töchterchen aus dieser Sicherheit heraus auf der Bühne des Stadttheaters mit Fäkalien schmeißen oder auf der kommunalen Bühne Liederchen trällern können, um mit etwas Glück irgendwann mal davon die Miete bezahlen zu können, daran scheint von diesen Menschen kaum jemand zu denken. Sicher, diese Menschen befinden sich in einer Notsituation, die sie selbst nicht verursacht haben und ihnen wurde sehr kurzfristig der Boden unter den Füßen weggezogen. Aber ging es den Schleckerfrauen anders?

Wenn den Künstler:innen das Hartz IV als Absicherung in der Krise nicht ausreicht, darf die Antwort doch nicht lauten: Sollen die anderen doch hungern, solange wir Brot und Kuchen haben – sie muss lauten: Nie wieder Hunger. Nie wieder Obdachlosigkeit. Nie wieder Moria.

Kostet das Geld? Natürlich. Aber es ist doch nicht so, als wäre das Geld nicht da – wir nehmen es nur denen, die das Hundertfache dessen haben, was sie in ihrem Leben je werden ausgeben könnten, nicht einmal anteilsweise ab: Steuern zahlen nur die, die nicht genug verdienen, um es sich leisten zu können, es nicht zu tun. Wir entlassen all die, die eine Million mehr oder weniger gar nicht mehr bemerken würden, aus der Solidarität mit ihren Mitbürgern, und behaupten dann, die Staatskassen seien leer.

Und warum auch nicht? Diejenigen, die das Geld haben, bestimmen schließlich, was morgen in der Zeitung steht und im Privatfernsehen läuft – warum sollte also dort nicht festgestellt werden, dass kein Geld da ist für eine soziale Absicherung, die niemand, den diese Menschen persönlich kennen, je benötigen wird?

„Sicher, Ihr seid Künstler… Nutzt eure Plattformen, eure Bühnen, eure facebook- und twitter-Accounts doch einfach mal, um der Welt zu erklären, dass Ihr gerade herausgefunden habt, was es bedeutet, wirklich arm zu sein, dass es nervt und man sofort etwas dagegen unternehmen muss“

In diesem Sinne: An all die Asozialen, die jetzt Staatshilfen für sich selbst fordern und nicht ein Sozialsystem, dass allen ein würdiges Leben erlaubt und das allen Menschen dient: Haltet einfach die Fresse. Meine Solidarität habt ihr nicht. Wenn ihr auf die Straße geht und dort ernsthaft behauptet, wie in einem O-Ton aufgegriffen: „Wir sind ja nicht arbeitslos, wir dürfen nur nicht arbeiten“, dann entgegne ich dem: Haltet die Fresse. Haltet einfach die Fresse. Es ist nicht so, dass der Lausitzer Kumpel plötzlich zu dumm ist, eine Arbeit zu finden: der darf auch nicht mehr arbeiten, weil wir aus der Kohleverstromung aussteigen müssen. Aber warum sollte ausgerechnet dem Künstler (oder der Künstlerin) nicht das Hemd näher sein als die Hose. Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht.

Sicher, Ihr seid Künstler, weil Ihr nichts Anständiges gelernt habt und nichts könnt, was auf dem regulären Arbeitsmarkt von Wert wäre. Tough luck. Nutzt eure Plattformen, eure Bühnen, eure facebook- und twitter-Accounts doch einfach mal, um der Welt zu erklären, dass Ihr gerade herausgefunden habt, was es bedeutet, wirklich arm zu sein, dass es nervt und man sofort etwas dagegen unternehmen muss. Dann können, wenn all das hier einmal vorbei ist, all die Arbeitslosen und Asylbewerber vielleicht sogar irgendwann mal genug Geld zusammenkratzen, um sich eine Eintrittskarte für eure Veranstaltungen kaufen zu können. Papi und Mami werden euch in der Zwischenzeit schon den ein oder anderen Fuffi zustecken.