Manege zu

Zirkusaufführung um Neutralität und Kopftuch

Das Bundesarbeitsgericht hat dem Kopftuchverbot in Berlins Neutralitätsgesetz eine Abfuhr erteilt. Gut so. Denn hinter „Neutralität“ verbergen sich nur die Privilegien der Mehrheitskultur.

Integrationsdebatten gleichen zuweilen einem Zirkus. Der meist konservative Zirkusdirektor führt dort die exotischeren Vertreter unserer Gesellschaft durch die Manege des gesellschaftlichen Generalverdachts. Höhepunkt der Show: Das Stöckchenspringen. Gleichberechtigung? Hüpf! Demokratie-Bekenntnis? Bravo! Händeschütteln? Fein gemacht! So geht das. Runde um Runde. Bis der erste ins Straucheln gerät und das Grölen der Mehrheitsgesellschaft auf den Rängen kein Halten mehr kennt.

Eine dieser Prüfungen erfreut sich derzeit besonders großer Beliebtheit. Ihr Name: „Neutralität kopftuchtragender Staatsbediensteter“. Ihre Aufführung drohte lange zu scheitern: Zum einen, weil das Grundgesetz eigentlich keinen Zweifel daran lässt, dass öffentliche Ämter für Menschen jedes Bekenntnisses offenstehen. Zudem fehlt bis heute jeder Beleg, dass das Bedecken der Haare von Richterinnen, Lehrerinnen oder Polizistinnen in irgendeiner Weise mit fehlender Urteilskraft korreliert. Doch wo Empirie fehlt, hilft die Illusion.

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Gegner von Kopftuchträgerinnen im Öffentlichen Dienst argumentieren: In Klassenzimmern sei der „Schulfrieden“, hinter Richterbänken das Vertrauen in die Rechtsprechung bedroht. Schließlich könne man dem imaginären Gegenüber der Staatsbediensteten es schlicht nicht abverlangen, Menschen mit Tuch auf dem Kopf als neutral wahrzunehmen. „Objektiver Dritter“ nannte das Bundesverfassungsgericht diese Kunstfigur in seinem Kopftuchurteil anfangs des Jahres.

„‘Objektiver Dritter’ nannte das Bundesverfassungsgericht diese Kunstfigur in seinem Kopftuchurteil anfangs des Jahres. Dieser Trick ist nicht neu. Ob ‘göttliche Ordnung’, ‘Naturzustand’, ‘Volksempfinden’ oder ‘der gesunde Menschenverstand’: Dominante Gruppen berufen sich gern auf vermeintlich objektive Zustände, wenn es darum ging, die eigenen Privilegien zu sichern.“

Dieser Trick ist nicht neu. Ob „göttliche Ordnung“, „Naturzustand“, „Volksempfinden“ oder „der gesunde Menschenverstand“: Dominante Gruppen berufen sich gern auf vermeintlich objektive Zustände, wenn es darum ging, die eigenen Privilegien zu sichern. Privilegien, die heute so groß sind, dass viele sie nicht einmal mehr wahrnehmen. Denn hinter „weltanschaulich-religiöser Neutralität“ verbirgt sich nichts anderes als die zur Normalität verklärte Mehrheitskultur.

Man mag einwenden: Deren Vertreter tragen die Symbole ihrer Weltanschauung wenigstens nicht auf den Kopf herum. Das stimmt. Aber schon die Festlegung von „sichtbares religiöses Symbol“ als einziger Kategorie, an der sich Neutralität entscheidet, ist alles andere als neutral.

Wer will, kann beliebig weitere Kategorien ausmachen, mit denen sich die Neutralität von Staatsbediensteten in Zweifel ziehen lässt. Warum ergänzen wir „Kopftuch“ nicht durch „Dialekt“? Kann man einem Opfer rechter Gewalt wirklich einen sächselnden Beamten zumuten?

Auch ein Gesichtsbehaarungsverbot für Polizisten wäre möglich. Schließlich steht das Männlichkeitssymbol für den mit Abstand kriminellsten Teil der Gesellschaft. Denkbar wäre auch die Einführung eines Höchstgewichts für angehende Lehrerinnen. Taugt jemand, der privat nicht Maß hält, ernsthaft zum pädagogischen Vorbild für unsere Kinder?

„Wenn wir es schaffen, Menschen ernstzunehmen, die aussehen, als bereiteten sie die nächste Papstwahl vor oder spielten beim Cosplay einen Krieger aus Star Wars‘ Imperialer Garde, dann schaffen wir das auch mit Lehrerinnen mit Tuch auf dem Kopf tragen.“

Selbst auf dem Altar des modernen Neutralitätsglaubens, der Richterbank, lassen sich zahlreiche Symbole finden, die das Vertrauen in die Rechtsprechung bei Bedarf weit mehr erschüttern können als eine schlichte Kopfbekleidung: Der Robenzwang für Anwälte und Richter geht auf Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. und seine Verachtung der Justiz zurück. Auf die Idee, Urteilssprüche dem Volk zu widmen, kamen zuerst die Nazis. Und das Kruzifix, das auch heute noch hinter vielen Richterbänken hängt, erklärt sich von selbst.

Man kann diese Liste ewig weiterführen oder anerkennen, dass alles zum Symbol gemacht werden kann, nichts per se neutral ist. Neutralität ist immer ein Verhältnis und wir sind in der Lage uns dafür oder dagegen zu entscheiden.

Wie groß unsere Fähigkeit ist, trotz der absurdesten Äußerlichkeiten ein neutrales Verhältnis einzunehmen, zeigt sich gerade an der Akzeptanz unserer höchsten Gerichte: Wenn wir es schaffen, Menschen ernstzunehmen, die aussehen, als bereiteten sie die nächste Papstwahl vor oder spielten beim Cosplay einen Krieger aus Star Wars‘ Imperialer Garde, dann schaffen wir das auch mit Lehrerinnen mit Tuch auf dem Kopf tragen.

Die Fähigkeit nicht zu menstruieren, galt hierzulande noch bis 1922 noch als Voraussetzung zur Erlangung eines Richteramtes. Schließlich seien Frauen aufgrund ihrer periodisch wechselnden „seelische Eigenart“ kaum zu neutralen Urteilen in der Lage. Auch später noch argumentierten Vertreter des privilegierten männlichen Bevölkerungsteils: Ihre Geschlechtsgenossen könnten weibliche Richterinnen schlicht nicht ernst nehmen.

Die Geschichte ist voll mit diesen in Vergessenheit geratenen Prüfungen für ungeliebte Teile der Gesellschaft. Die Zeit wird kommen, in der wir auf unsere heutigen Zirkusaufführungen ähnlich ungläubig zurückblicken werden: Eine Zeit, in der ein Tuch und die Illusion „weltanschaulich-religiöser Neutralität“ ausreichte, um Menschen die Ausübung ihrer Grundrechte zu verwehren.