150 Euro reichen nicht

Corona verschärft ungleiche Bildungschancen

Seit die Schulen wegen der Corona-Pandemie geschlossen sind, werden viele Kinder im Homescooling unterrichtet – unter sehr ungleichen Bedingungen. Manche Elternhäuser sind gut ausgestattet, andere haben nicht einmal einen Computer.

„Sechs Wochen dauert das nun schon. Wir geben uns alle Mühe, damit unsere beiden Großen trotz der geschlossenen Schulen das Schuljahr nicht verlieren“, erzählt die 35-jährige Betriebswirtin Ghita (Name geändert) am Telefon. Doch sei es derzeit oft schwierig mit dem Lernen zuhause.

„Die Lehrer schicken unseren Kindern per Mail stapelweise Arbeitsblätter und Informationen. Das ist gut gemeint, aber wir haben nicht die Geräte dafür. Unseren alten Laptop mussten wir vor kurzem verschrotten. Nun müssen wir alles mit dem Smartphone machen. Das ist unglaublich zeitraubend, nervig und vieles funktioniert einfach nicht.“

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Ghita stammt aus Syrien. Vor vier Jahren floh sie mit Mann und Kindern vor dem Krieg nach Deutschland. Bildung ist der Familie wichtig. Die Jüngste ist in der Kita, die große Tochter (12) besucht die 6. Klasse eines Kölner Gymnasiums. Der Sohn (16) geht in die neunte Klasse einer Realschule, will im kommenden Jahr den Mittleren Schulabschluss machen und danach das Abitur. Ghita selbst sitzt im Deutschkurs für Fortgeschrittene, ihr Ehemann hat Deutsch B2 abgeschlossen und sucht eine Vollzeitstelle als Ingenieur. Bisher hat er nur einen Minijob gefunden, daher ist die Familie immer noch auf Leistungen vom Jobcenter angewiesen.

Kindergeld, ein Traum

Wegen der Jobcenter-Leistungen erhält die Familie kein Kindergeld – normalerweise wären das 618 Euro pro Monat mehr im Familienbudget, aufs Jahr gerechnet fast 7400 Euro, aber davon können Ghita und ihr Mann zurzeit nur träumen. Vorerst haben sie nur das Bildungs- und Teilhabepaket, um die Kosten für die Schulmaterialien zu decken. Das sind ganze 150 Euro pro Jahr und Kind, „besser als nichts, aber nicht genug“. Ghita und ihr Mann müssen hart sparen, um über die Runden zu kommen. Ein Laptop zum Lernen ist absolut nicht drin. Sie wissen, dass sie ein Gerät für eines der Kinder beantragen könnten, wenn die Schule die Notwendigkeit bescheinigen würde. Doch einen Antrag beim Jobcenter haben sie bislang nicht gestellt. „Andere Familien haben uns gesagt, dass das sowieso nicht klappt“, sagt Ghita resigniert.

Ist der digitale Notstand in Ghitas Familie eine Ausnahme? Wenn man die nationalen Zahlen anschaut, dann scheinen Familien in Deutschland für den Unterricht zuhause gut gerüstet zu sein. Laut dem Bundesamt für Statistik verfügen bundesdeutsche Haushalte im Schnitt zu 90 Prozent über einen oder mehrere PCs (stationär und Laptops) sowie weitere digitale Endgeräte. In Haushalten mit Kindern liegt der Schnitt noch höher. Damit müssten fast alle Schulkinder die Möglichkeit haben, digitale Lernangebote und Ressourcen zu nutzen. Außerdem haben die meisten Kinder ein eigenes Zimmer und einen eigenen Schreibtisch für die Hausaufgaben.

Keine aktuellen Daten

Info: Haushalte mit wenig Geld und/oder Migrations- oder Fluchtgeschichte sind für das digitale Lernen schlechter gerüstet. Die Kinder haben seltener ein eigenes Zimmer, einen Schreibtisch oder einen Computer. Im Durchschnitt haben 42 % aller 14-jährigen in Deutschland einen eigenen Rechner. In Familien, die Hartz IV beziehen, sind es nur 27 %. In Familien mit wenig Einkommen genießen Schule und Bildung dieselbe Wertschätzung wie in Familien mit mittleren und hohen Einkommen. Mehr als 90 % aller Eltern motivieren ihre Kinder regelmäßig zum Lernen, in Familien mit geringem Einkommen noch häufiger. (Quelle: Institut der Deutschen Wirtschaft)

Doch Tatsache ist: Viele Kinder, vor allem solche aus Familien mit wenig Geld, haben weder ein eigenes Zimmer noch einen Schreibtisch noch haben sie Zugang zu Schulcomputern. Zwar gibt es im Kontext der Corona-Krise nur wenig aussagekräftige aktuelle Daten, da zwischen Erhebungen und Veröffentlichungen oft mehrere Monate, wenn nicht Jahre liegen. Doch die verfügbaren Statistiken und Studien sowie persönliche Erfahrungsberichte und Stellungnahmen von Institutionen legen nahe, dass die technische Ausstattung in Familien mit geringem Einkommen und/oder Migrationsgeschichte teilweise wesentlich schlechter ist als der Durchschnitt. Oft müssen sich mehrere Personen ein Smartphone, ein Tablet oder einen PC teilen. Und längst nicht überall reicht das Geld für ein leistungsfähiges Internet-Abonnement.

Die Bertelsmann-Stiftung, die unter anderem den „Monitor Digitale Bildung“ herausgibt, schreibt auf Anfrage des AWO-Bildungsmagazins Vielfalt, dass Expertenschätzungen zufolge im Lauf der Corona-Krise vermutlich 100.000 Schülerinnen und Schüler in Deutschland keinen Zugang zu digitalen Lernangeboten hätten, vielleicht auch mehr. Das NRW-Integrationsministerium (MKFFI) verweist eine Anfrage des AWO-Bildungsmagazins Vielfalt nach dem Zugang geflüchteter Kinder und Jugendlicher zu digitalen Lernangeboten weiter ans NRW-Schulministerium. Dort heißt es, dass die aktuellen digitalen Lernangebote in NRW auf freiwilliger Basis stattfänden und nicht prüfungsrelevant seien. Daten zur digitalen Ausstattung der Familien würden vom Ministerium nicht erhoben. Man wisse aber, dass viele geflüchtete Jugendliche Smartphones hätten, mit denen sie digitale Inhalte abrufen könnten.

„Kulturelles Kapital“ prägend

Abgesehen vom Vorhandensein der Technik stellt sich die Frage des realen Zugangs. Auch wenn die Haushalte in Deutschland statistisch gesehen nahezu flächendeckend mit digitalen Endgeräten ausgestattet sind, so heißt das noch lange nicht, dass Kinder und Jugendliche diese auch wirklich zum Lernen nutzen können. Bisherige Studien lassen darauf schließen, dass die Nutzung von Familien-PCs durch Schulkinder für Lernzwecke je Lebenslage und nach Herkunft stark variiert. Ein Beispiel ist die internationale Vergleichsstudie ICILS – „International Computer and Information Literacy Study.“ Diese umfassende Erhebung, die vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung mitgetragen wird, untersuchte in 2013 und 2018 die IT-bezogenen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern der achten Jahrgangsstufe im internationalen Vergleich. Laut ICILS spielt der familiäre Hintergrund für die Art der IT-Nutzung und für die IT-Kompetenz eine große Rolle. In Deutschland sind ökonomische Aspekte, das sogenannte „kulturelle Kapital“ und die Migrations- oder Fluchtgeschichte besonders prägend.

Ein eigener Rechner zuhause ist keine Garantie für gutes Lernen und schulischen Erfolg. Doch Bildungsforscher*innen gehen davon aus, dass Schülerinnen und Schüler, die zuhause einen eigenen Rechner haben, am besten an digitalen Lernangeboten teilhaben können. Diese Chancen sind in Deutschland jedoch sehr ungleich verteilt: Laut einer aktuellen Erhebung des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) vom April 2020 besitzen in Deutschland von allen Zwölfjährigen knapp 28 Prozent, von allen 14-Jährigen knapp 42 Prozent einen eigenen Rechner. In Hartz IV-Haushalten (zu denen viele Familien mit Migrations- oder Fluchtgeschichte gehören) liegen die Quoten weit niedriger: Hier haben laut IW nur knapp 15 Prozent der Zwölfjährigen und 27 Prozent der 14-Jährigen einen eigenen Rechner, den sie auch für die Schule nutzen können.

150 Euro reichen nicht

Zahlreiche weiterführende Schulen in Deutschland haben bei der digitalen Ausstattung weiterhin großen Handlungsbedarf. Der 2019 verabschiedete sogenannte „DigitalPakt Schule“ der Bundesregierung zeigt nur sehr langsam Wirkung. Der Kampf gegen die wachsende digitale Spaltung der Bevölkerung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dazu gehört, dass möglichst viele Kinder und Jugendliche auf weiterführenden Schulen mit digitalen Lerngeräten für zuhause ausgestattet werden, damit sie unabhängig von der Herkunft, vom Einkommen und von der Migrationsgeschichte ihre digitalen Kompetenzen entwickeln können.

Welche Wirkung der jüngst angekündigte Bundeszuschuss von 150 Euro pro Kind und Laptop entfalten kann, muss sich zeigen. Klar ist aber jetzt schon, dass man für 150 Euro keinen vernünftigen Laptop kaufen kann und klar ist auch, dass viele Familien aufgrund der absehbaren Unterrichtsausfälle bis zu den Sommerferien, vielleicht auch darüber hinaus, schnell und unbürokratisch Lösungen brauchen. Denkbar wäre vor diesem Hintergrund, die Ausstattung mit Lerncomputern zumindest zeitweise oder im Rahmen eines Pilotprojektes als Standard in das Bildungs- und Teilhabepaket einzubauen.

Sie kennen nur Whatsapp

Über die technische Ausstattung hinaus ist die Stärkung der IT-bezogenen Kompetenzen von zentraler Bedeutung. Die erwähnte ICILS-Studie hat für Deutschland ermittelt, dass viele Kinder und Jugendliche zwar intensiv digitale Endgeräte nutzen, dass ihre Kompetenzen aber extrem unterschiedlich seien, sowohl auf nationaler Ebene als auch international. Auch hier entscheidet der familiäre Hintergrund mit. In Familien mit geringem „kulturellem Kapital“ und in Familien, die zuhause wenig oder kein Deutsch sprächen, sei der Handlungsbedarf besonders groß: „Für die schulische Praxis zeigen die Ergebnisse des Kapitels für Deutschland dringenden Handlungsbedarf auf, vor allem die computer- und informationsbezogenen Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern mit nicht deutscher Familiensprache, unabhängig von ihrem Zuwanderungshintergrund zu fördern.“ (ICILS Bericht Deutschland 2018, Seite 362).

Ghita sagt, sie könne diese Feststellung nur unterstreichen. „Ich weiß einiges, weil ich immer schon viel mit dem Computer gearbeitet habe. Aber manche Eltern sind unsicher beim Umgang mit Informationen im Netz, oder wie man eine E-Mail schreibt oder eine Präsentation erstellt. Sie kennen nur Whatsapp.“

Dieser Beitrag erschien zuerst im April 2020, in der Sonderausgabe „Schulcomputer für alle“! des Bildungsmagazins Vielfalt der AWO Mittelrhein. Für die Veröffentlichung im MiGAZIN wurde der Text leicht überarbeitet und aktualisiert.