Corona-Pandemie

Das sächsische Bildungssystem lässt benachteiligte Kinder im Stich

Hend (13) kam 2016 aus Syrien nach Chemnitz. Seitdem kämpft sie um ihre Bildungschancen – seit die Schulen geschlossen sind, hat sie es besonders schwer. Wie ihr geht es vielen Schüler*innen. Besonders hart trifft es diejenigen, die im Bildungssystem auch vor der Corona-Krise schon benachteiligt waren.

„Die glauben, wir haben nichts anderes zu tun“, sagt Hend. Die Achtklässlerin aus Chemnitz ärgert sich über ihre Lehrer*innen: „Die geben uns nur Aufgaben und wir müssen es machen. Wir haben gefühlt jeden Tag neue.“ Seit die Schulen in Sachsen aufgrund des Corona-Virus geschlossen sind, hat die 13-Jährige deutlich mehr für die Schule zu tun als vorher.

Hend kam 2016 mit ihrer Familie aus Syrien nach Chemnitz. Wie viele Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung hat auch sie in der Schule Rassismus und Benachteiligung erlebt. Junge Geflüchtete in Chemnitz nennen zahlreiche Beispiele: abwertende Sprüche von Mitschüler*innen, ungerechte Behandlung durch Lehrkräfte, mangelndes Verständnis für ihre Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache. Jetzt haben die Schulen zu – und Hend kämpft weiter um ihre Bildungschancen. Sie muss für die Schule lange Texte schreiben, und der Drucker zu Hause funktioniert nicht richtig. „Deswegen muss ich die ganzen Sachen abschreiben“, sagt sie. „Manchmal schreibe ich zehn Seiten für ein Fach.“

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Unterschiedliche Lernbedingungen zu Hause

Wie Hend geht es momentan vielen Schüler*innen. Besonders hart ist es für diejenigen, die im Bildungssystem auch vor der Corona-Krise schon benachteiligt waren: Kinder armer Eltern; Kinder, deren Eltern über wenig formelle Bildung verfügen; Kinder, für die Deutsch keine Erstsprache ist.

„Es ist allen bewusst, dass die Bedingungen für das Lernen zu Hause während der Schulschließungen sehr unterschiedlich sind“, schreibt das Sächsische Staatsministerium für Kultus auf seiner Homepage. „Das betrifft die technischen Möglichkeiten der einzelnen Schule ebenso wie das Lernumfeld. Und es betrifft die Angebote der Schulen ebenso wie die persönlichen Unterstützungsmöglichkeiten der Eltern. Deshalb darf es keine überzogenen Forderungen und keinen Leistungsdruck geben“. Zusätzliche Ressourcen, um soziale Ungleichheiten abzufedern oder verbindliche Vorgaben, um Leistungsdruck zu vermeiden, gibt es allerdings in Sachsen nicht. Ob die Leistungen, die Schüler*innen von zu Hause erbringen, benotet werden oder nicht, können die Lehrkräfte an Oberschulen und Gymnasien selbst entscheiden.

Gewerkschaft kritisiert Ministerium

Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft Sachsen kritisiert den Umgang des sächsischen Kultusministeriums mit der Corona-Krise: „Unter den Bedingungen von knappen Ressourcen führt eine Bildungspolitik, die bei Problemen maßgeblich auf die Eigenverantwortung der Schulen setzt, zu einer Zunahme der Ungleichheit.“ Ob und wie Lehrer*innen während der Corona-bedingten Schulschließung Kontakt zu ihren Schüler*innen halten, hängt de facto von den technischen Möglichkeiten der Haushalte, Absprachen im Kollegium und dem persönlichen Engagement der Lehrkräfte ab.

„Schulschließungen bedeuten nicht nur zusätzliche Hürden beim Zugang zu Bildung, sondern auch eine Überforderung marginalisierter Familien, eine Verstärkung psychischer Belastungen bei Kindern wie Eltern und eine erhöhte Gefährdungslage für Betroffene von häuslicher Gewalt.“

Valerie Herber (Name geändert) arbeitet in einer Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Asylsuchende in Leipzig. Sie beobachtet, dass die Lehrer*innen der von ihr betreuten Jugendlichen sehr unterschiedlich mit der aktuellen Situation umgehen: „Manche schicken regelmäßig Aufgaben und geben Feedback, andere haben sich nur einmal gemeldet mit der Information ‚Wir sind im Buch auf Seite soundso, macht doch einfach selbstständig weiter.‘“ Manche Lehrkräfte vergaben Zugänge für kostenpflichtige Lern-Apps. Allerdings reichten die Zugänge nicht für alle interessierten Jugendlichen; eine Lehrkraft verteilte sie deshalb nur an „besonders fleißige“ Schüler*innen. Ein Jugendlicher aus der Wohngruppe, der die Lern-App gerne nutzen wollte, ging leer aus.

Sachverständigenrat warnt

Vor solchen Situationen hat der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration gewarnt. Prof.in Dr.in Birgit Leyendecker macht darauf aufmerksam, dass Schulschließungen soziale Ungleichheiten verschärfen. Neuzugewanderte und/ oder geflüchtete Kinder und Jugendliche werden dadurch besonders stark benachteiligt. „Viele dieser Kinder litten schon vor der Corona-Krise unter psychischen Problemen“, sagt Prof.in Dr.in Leyendecker. „Dadurch, dass sie jetzt nicht mehr zur Schule gehen können, steigt das Risiko, dass sie nicht mehr hinreichend gefördert oder vernachlässigt werden oder sogar Gewalt erfahren.“

Schulschließungen bedeuten nicht nur zusätzliche Hürden beim Zugang zu Bildung, sondern auch eine Überforderung marginalisierter Familien, eine Verstärkung psychischer Belastungen bei Kindern wie Eltern und eine erhöhte Gefährdungslage für Betroffene von häuslicher Gewalt. Die strenge sächsische Ausgangsbeschränkung, die das Verlassen der häuslichen Unterkunft „ohne triftigen Grund“ verbietet, verschärft die Situation zusätzlich.

Große Herausforderung für Familien

Kenan Allejji, Vorsitzender des Arabischen Vereins für Integration und Kultur in Chemnitz, beschreibt die aktuelle Situation als große Herausforderung für Familien. „Die meisten sind es ja gar nicht gewöhnt, so viel Zeit in der Wohnung miteinander zu verbringen“, sagt er. „Dadurch passieren viele Probleme, wenn die Kommunikation nicht gut läuft.“

Auch diejenigen geflüchteten Familien, die nicht mehr in Gemeinschaftsunterkünften leben müssen, haben meist deutlich weniger Wohnraum zur Verfügung als der deutsche Durchschnitt. Der Stress, der durch Kinderbetreuung, Schulaufgaben ohne verständliche Erklärungen, Arbeit im Home Office und ökonomische Unsicherheit entsteht, staut sich so auf wenigen Quadratmetern. Viele Familien in Allejjis Bekanntenkreis leiden jetzt zusätzlich unter Konflikten mit Nachbar*innen, die sich über Kinderlärm beschweren.

Keine staatliche Förderung

Der Arabische Verein für Integration und Kultur bietet für Kinder und Jugendliche Nachhilfe auf Arabisch an. Bevor die Corona-Verordnung physische Treffen untersagte, trafen sich ehrenamtliche Lehrer*innen und Schüler*innen samstags in den Räumlichkeiten befreundeter Vereine. Jetzt hat der Arabische Verein sein Angebot auf Online-Nachhilfe umgestellt. „Wir machen Nachhilfe in Mathe, Chemie, Physik und Englisch“, sagt Allejji. Viele der ehrenamtlichen Lehrkräfte sind Pädagog*innen, deren ausländische Berufsabschlüsse in Sachsen nicht anerkannt werden. Ihre fachliche Kompetenz ist in der Corona-Krise gefragter denn je.

Die Achtklässlerin Hend ist froh über das Unterstützungsangebot des Arabischen Vereins. Die Lehrer*innen ihrer Oberschule schicken ihr Aufgaben, teilweise auch zu neuen Themen, meistens ohne Erklärungen. Die Lehrer*innen des Arabischen Vereins helfen ihr dabei, diese Aufgaben zu bewältigen. Staatliche Förderung bekommt der Verein dafür nicht. (mig)