Hintergrund

Was ist Antisemitismus?

In vielen deutschen Städten gab es jüngst Solidaritätsaktionen für jüdische Bürger. Nach neuen antisemitischen Übergriffen sind für den Nachmittag in Bonn und Düsseldorf Demonstrationen geplant. Doch was ist eigentlich Antisemitismus? Von Elisa Makowski

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen“, heißt es in einer Arbeitsdefinition, die das Bundeskabinett im September vergangenen Jahres angenommen hat. Zwar ist diese rechtlich nicht bindend, sie soll aber eine Hilfe für staatliche Stellen sein, Erscheinungsformen von Judenfeindlichkeit einzuordnen.

Im vergangenen Jahr stieg die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland laut Bundesinnenministerium auf mindestens 1.495. 2016 lag die Zahl bei knapp 1.400, im Jahr davor bei rund 1.250. Zuletzt lösten zwei Übergriffe auf Kippa tragende Männer in Nordrhein-Westfalen bundesweit Empörung aus: In Bonn war in der vergangenen Woche ein jüdischer Professor von einem arabischstämmigen Mann angegriffen worden, in Düsseldorf wurde ein junger Mann offenbar aufgrund seiner jüdischen Religionszugehörigkeit beleidigt. Zuvor hatte es bereits andere judenfeindliche Vorfälle unter anderem in Berlin gegeben.

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Anders als Rassismus, der sich aus überzogenen Vorurteilen speist, haben antisemitische Stereotype laut Forschung keinerlei Realitätsbezug. Judenfeindschaft ist demnach ein kulturell verankertes Glaubenssystem: Antisemiten sind fest davon überzeugt, dass Juden das Übel der Welt sind. Auch Israel, das dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, kann Ziel solcher Angriffe sein. Antisemitismus erklärt und deutet auf einfache Weise komplexe, teil widersprüchliche Zusammenhänge. Die Ressentiments finden sich – bewusst oder unbewusst – Forschern zufolge in jedem Milieu und in nahezu jeder politischen und religiösen Ideologie.

Christlicher Antijudaismus

Im Mittelalter ging die Judenfeindschaft auf das Christentum zurück, das Juden als Ketzer sah, weil sie nicht an Jesus als den Messias glaubten. Auch der Reformator Martin Luther (1483-1546) wollte die Juden missionieren – als dies nicht gelang, schlug seine Haltung in blanke Ablehnung um. Christen bezichtigten Juden, Christus getötet zu haben, Brunnen zu vergiften und christliche Kinder zu schlachten. In ganz Europa wurden Juden politisch und ökonomisch diskriminiert. Sie wurden aus Städten vertrieben, es gab Pogrome und Schauprozesse. Juden war es untersagt, Handwerksberufe auszuüben, ihnen blieben das Zinsgeschäft und der Handel. Das wiederum brachte ihnen den Vorwurf der Wucherei ein.

Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert

Der moderne Antisemitismus sieht Juden als Mitglieder einer eigenen „Rasse“ oder „Gegenrasse“ im Gegensatz zu einer „ursprünglichen“ Nation. Juden stehen für den sich rasant entwickelnden Kapitalismus, den die Gesellschaft bewältigen muss. Im Nationalsozialismus verfolgten die Deutschen einen Wahn, der Juden zu Feinden des „deutschen Volkes“ machte und eine allgegenwärtige jüdische Weltverschwörung imaginierte. Juden wurden systematisch diskriminiert und vertrieben. Insgesamt ermordeten die Nationalsozialisten und ihre Helfer sechs Millionen europäische Juden.

Antisemitismus nach und trotz Auschwitz

Nach dem Massenmord an den Juden setzte im postfaschistischen Deutschland eine Täter-Opfer-Umkehr ein. Aus Schuld- und Schamgefühlen wurde die Verantwortung am Holocaust verdrängt. Weil sich Antisemitismus nun nicht mehr offen äußern ließ, ohne auf ein Tabu zu treffen, wurden Juden nun selbst verantwortlich gemacht für ihre Vernichtung – weil sie als Partisanen gegen das nationalsozialistische Deutschland gekämpft hatten oder als Überlebende Zeugnis ablegen konnten vom millionenfachen Mord. Immer öfter ist von der „Auschwitzkeule“ die Rede: Demnach instrumentalisierten jüdische oder israelische Interessengruppen das Gedenken an die Schoah für ihre Zwecke. Codewörter wie „Rothschilds“ oder „Goldman Sachs“ stehen für eine angebliche jüdische Weltverschwörung. Man kann sich nach Angaben von Antisemitismusexperten dieser Chiffren bedienen – ohne Antisemit sein zu wollen oder sich zum Antisemitismus öffentlich bekennen zu müssen.

Antizionismus und Israel-Hass

Auch Israel kann im Fokus antisemitischer Angriffe stehen. Wurden vormals die Juden gehasst, ist es heute Israel als das wichtigste Symbol jüdischen Lebens. Kritik an Israel ist allein nicht antisemitisch. Der „3D-Test“ von Natan Scharanski kann eine Orientierung bieten, um zu beurteilen, ob sich eine Kritik judenfeindlicher Stereotype bedient: Wenn Israel dämonisiert oder delegitimiert wird oder Doppelstandards bei der Bewertung seiner Politik angelegt werden, handelt es sich demnach um Antisemitismus. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Israel mit Nazi-Deutschland verglichen oder sein Existenzrecht infrage gestellt wird. Immer wieder steht auch die BDS-Bewegung (Boycott, Divestment, Sanctions) in der Kritik, antisemitische Hetze zu verbreiten. Sie will Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren – so sehr, sagen Kritiker der Initiative, dass sie Israel nachhaltig schadet.

Muslimischer Antisemitismus

Seit Europa verstärkt Einwanderer aufnimmt aus mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern gibt es eine Diskussion um einen möglichen importierten, islamisch-arabisch geprägten Antisemitismus. In Ländern wie Syrien, dem Iran und dem Irak gehört Israel-Hetze und Judenfeindschaft laut Studien zum Alltag. Wenn wie im vergangenen Dezember in Berlin Israel-Fahnen vor dem Brandenburger Tor brennen, werden Befürchtungen laut, dass sich Konflikte im Nahen Osten auf Europa verlagern und das Zusammenleben bedrohen könnten.

Der unabhängige Expertenkreis Antisemitismus des Bundestages warnt davor, muslimische Einwanderer grundsätzlich eine antisemitische Haltung zu unterstellen. Zwar seien viele von ihnen in Ländern sozialisiert, wo Antisemitismus Tradition habe. Diese Menschen seien aber aus diesen Ländern geflohen und zeigten großes Interesse an demokratischen Strukturen. Zudem gebe es bislang keine ausreichenden Untersuchungen zu möglichen antisemitischen Einstellungen unter Flüchtlingen. (epd/mig)