Project Shelter

Zwischen Obdachlosigkeit in Deutschland und Behördengängen in Spanien

Nach EU-Recht haben Geflüchtete drei Monate Zeit, um nach einer Wohnung und einem Arbeitsplatz zu suchen. Verstreicht diese Frist, werden sie abgeschoben. In Frankfurt fordert Project Shelter politische Lösungen.

Es ist gemütlich hier draußen. Behaglich. Ein milder Samstagabend im Gallusviertel. Ilai sitzt an einem der Tische draußen auf der Straße vor dem Internationalen Zentrum zusammen mit Ina und Shan. Ilai wirkt entspannt. Die drei unterhalten sich. Auf dem Tisch steht ein indisches Gericht: „Jeden vierten Samstag im Monat organisieren wir hier als Project Shelter eine Küfa. Eine Küche für Alle“, erzählen Ina und Shan. Mittags sammeln sie bei Gemüsehändlern und Kiosken Zutaten ein. Meist Lebensmittel, die sonst weggeworfen würden. Anschließend treffen sie sich im Internationalen Zentrum. Sie schneiden das Gemüse draußen an den Tischen und überlegen, was sie kochen können.

Ilai mag diese Samstage. Sie geben ihm einen Raum, indem er frei über seine Fluchterfahrungen reden kann: „Als ich das erste Mal nach Frankfurt kam, wusste ich nicht, wo ich bleiben und schlafen sollte.“ 2011 reist er aus Afrika nach Italien. Nach fünf Jahren erhält er einen Aufenthaltstitel, der ihm einen dreimonatigen Aufenthalt in jedem EU-Land ermöglicht. Aufgrund der Wirtschaftskrise in Italien ist er gezwungen, nach Deutschland zu gehen. Nach EU-Recht hat er drei Monate Zeit, um nach einer Wohnung und einem Arbeitsplatz zu suchen. Verstreicht diese Frist, wird er abgeschoben.

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Ilai stockt beim Erzählen. Am Tisch geht das Klirren des Bestecks, gehen die Gespräche weiter. „Um eine Arbeit zu finden, musst du gemeldet sein, du brauchst eine Wohnung. Um eine Wohnung zu bekommen, brauchst du Arbeit“, erklärt Ilai das Dilemma. Wie Vielen reichen auch ihm drei Monate nicht. Die Konsequenz: Kein Anspruch auf jede Form sozialstaatlicher Hilfe: „Das bedeutet kein Schlafplatz, keine rechtliche Beratung, keine gesundheitliche Versorgung, kein Geld für Kleidung und Essen.“ Zurück kann er nicht. Der Flüchtlingsrat Hessen schätzt die Zahl der sogenannten „Illegalen“, zu denen die Behörden Ilai nun zählen, in Hessen auf 40.000. Ilai schläft im Park. Auf der Straße bekommt er via Mundpropaganda den Tip: „Geh zu Shelter. Die helfen dir.“ Ilai besucht das offene Plenum der Initiative im Studierendenhaus der Universität und kommt zeitweise in einer Wohngemeinschaft unter.

Problem sind politische Ausschlussmechanismen

„Wir sind keine Behörde oder karitative Einrichtung, die verpflichtet ist, Dokumente zu prüfen. Wir machen die Trennung zwischen legalen und illegalen Menschen nicht. Kein Mensch ist illegal“, erklären Ina und Shan den Ansatz von Projekt Shelter. Die Initiative bildete sich 2015. Sie vermittelt Schlafplätze an obdachlose Geflüchtete und sammelt Essensspenden. „Wir haben damals viel über Anzeigen auf Facebook vermitteln können“, erzählen Ina und Shan. „Leute entschieden sich spontan, Menschen bei sich aufzunehmen.“ Es entstehen soziale Räume wie die von Project Shelter organisierte Küche für Alle im Internationalen Zentrum. Später vermittelt die Initiative Geflüchteten Anwälte und Ärzte, die kostenlose Beratungsgespräche und Behandlungen anbieten. Mittlerweile gibt es ein festes Spendenkonto und eine Hotline, über die Schlafplätze vermittelt werden.

Einmal die Woche treffen sich die Aktivisten zu einem offenen Plenum im Studierendenhaus der Goethe-Universität. Wichtig sind dabei Offenheit und Selbstverwaltung. Das Plenum wird auf Englisch gehalten. Jeder kann zu besprechende Punkte auf einer Liste an der Wand eintragen: Wer macht den Infostand beim Marktplatz der kritischen Initiativen auf dem Campus? Verfügen wir über die finanziellen Mittel für einen Mietzuschuss? Gehen wir zum Vernetzungstreffen der Frankfurter Stadtinitiativen? Einer der wichtigen Punkte ist auch heute noch die Suche nach Schlafplätzen.

Schnell wird den Unterstützern klar: „Mit einem sozialen Netzwerk alleine, können wir das eigentliche Problem nicht lösen“, erklärt Ina. Vielmehr seien die Probleme politische Ausschlussmechanismen. Project Shelter fordert daher von der Stadt ein selbstverwaltetes migrantisches Zentrum. Ein Ort, indem sich Menschen organisieren und solidarisieren können. Eine Anlaufstation, die neben Schlafplätzen und Essen auch rechtliche Beratung und medizinische Versorgung anbietet und als Meldeadresse verwendet werden kann.

Eine Frage von politischen Entscheidungen

„In Zeiten zunehmend offener rassistischer Gewalt ist ein selbstverwaltetes migrantisches Zentrum deshalb nicht nur praktisch nötiger Schutzraum, sondern wichtiger Ausgangspunkt für die gemeinsame politische Arbeit an einer grundlegend anderen Stadt sowie Gesellschaft für Alle“, formulierten Aktivisten bereits 2016 in einem offenen Brief an die Stadt Frankfurt. Für dieses Ziel hat die Initiative seit 2015 Petitionen eingereicht, Demonstrationen angemeldet und ihr Anliegen im Sozialausschuss vorgetragen. Ohne Erfolg. Zu Wahlkampfzeiten werden von verschiedenen Parteien immer wieder Räumlichkeiten in Aussicht gestellt. Gehalten werden die Versprechen nie. Project Shelter beginnt mit Hausbesetzungen, um zu zeigen, wie dringend ein Haus benötigt wird.

Wer in dieser Stadt Leben kann und wer nicht, dass sei daher eine Frage von politischen Entscheidungen. Denn Raum gebe es genug. „Die Stadt ignoriert die Widersprüche zwischen massivem Leerstand und Obdachlosigkeit“, sprechen die Aktivisten ihre Kritik an der Wohnraumpolitik aus. So verweise die Stadt Project Shelter an bereits bestehende Obdachlosenunterkünfte. „Die melden sich aber bei uns, weil sie selbst überfüllt sind“, berichtet Ina. In Frankfurt gibt es über eine Million Quadratmeter an ungenutztem Büroraum aber einen Bestand von nur 80.000 Sozialwohnungen. Seit Jahrzehnten ist der Anteil an Sozialwohnungen rückläufig obwohl jeder zweite Einwohner Frankfurts einen rechtlichen Anspruch auf eine Sozialwohnung hat. Ein Anspruch, der nicht anerkannten Migranten rechtlich nicht zusteht.

Im Wohnungsmarktbericht der Stadt Frankfurt erscheinen obdachlose Migranten, die für „illegal“ erklärt werden, nicht einmal als statistische Größe. „Das liegt daran, dass die Dunkelziffer im Bericht nicht berücksichtigt werden kann“, begründet Wilhelm Müller vom Amt für Wohnungswesen den blinden Fleck der Behörden. Für die Aktivisten eine irritierende Auskunft. „Im Sozialausschuss haben verschiedene Mitglieder von Shelter über ihre persönlichen Erfahrungen von Ausschluss, Diskriminierung und Rassismus berichtet“, widerspricht Shelter ebenfalls in einem offenen Brief an Stadt im Jahr 2016. Die Situation sei folglich hinreichend bekannt.

Rechtliche Ausschlussmechanismen

Für Shelter heißt es daher, die praktische Solidarität geht weiter: „Seit nun fast 3 Jahren teilen Menschen bei Shelter ihre Wohnungen, ihr Wissen und ihre Erfahrungen und arbeiten gemeinsam politisch“, beschreiben Aktivisten das Projekt. Durch seine Organisation in Shelter hat Ilai mittlerweile eine Wohnung und eine Arbeit. Letzteres eine ebenfalls durch die Gesetzgebung erschwerte Aufgabe. Eine Vorrangigkeitsklausel für EU-Bürger sieht vor, dass eine Stelle nur dann von einem Asylbewerber angetreten werden kann, sofern kein EU-Bürger diese annimmt.

Ilai wünscht sich von den Menschen der Stadt, dass sie die Solidarität, die Project Shelter ausmacht, anerkennen. Dass sie die rechtlichen Ausschlussmechanismen wahrnehmen, denen viele Migranten ausgesetzt sind und sich mit ihnen solidarisieren, indem gemeinsam Kritik geübt wird: „Ich wünsche mir, dass die Bürger sehen, wer Projekte wie Shelter unterstützt, der unterstützt auch mich.“ Jetzt möchte er gerne sein in Uganda begonnenes Studium in Frankfurt fortsetzen.

Ilai hatte Glück. Vielen der bei Shelter organisierten ist es nicht möglich, in drei Monaten eine Arbeit und eine Wohnung zu finden. Sie pendeln daher immer wieder in die EU-Länder, in denen sie ihren Erstantrag gestellt haben. Denn laut Dublin-III-Verordnung ist jener EU-Staat, der einen Flüchtling die EU hat betreten lassen, auch für ihn verantwortlich. Um ihren rechtlichen Status zu behalten, müssen sie dort in regelmäßigen Abständen erscheinen. So pendeln viele zwischen Obdachlosigkeit in Deutschland und Behördengängen in Italien und Spanien. Dort sind die Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt um einiges geringer.