Augenzeugin

Anita Lasker-Wallfisch spricht zum Holocaust-Gedenken im Bundestag

Ihr musikalisches Talent bewahrte Anita Lasker-Wallfisch vor dem Tod. Sie überlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen. Als eine der letzten Zeitzeuginnen will die 92-Jährige im Bundestag vor neu erstarkendem Antisemitismus warnen. Von Karen Miether

Als 18-Jährige wurde Anita Lasker-Wallfisch in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Weil sie Cello spielen konnte, wurde die jüdischstämmige Breslauerin Mitglied im Frauenorchester des Lagers. Das rettete ihr das Leben. Wenn der Bundestag am 31. Januar an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert, wird die 92-Jährige die Rede zum Holocaust-Gedenktag (27. Januar) halten. Sie tut das auch stellvertretend für die vielen, die verfolgt und ermordet wurden: „Es gibt nicht mehr viele Augenzeugen wie mich. Es ist eine Pflicht“, sagt sie. „Wenn wir nicht mehr da sind, ist niemand mehr da, der davon berichten kann.“

Lasker-Wallfisch kann viel bezeugen. Als jüngste von drei Töchtern aus bildungsbürgerlichem Haus erlebt sie, wie die Familie nach und nach ihrer Rechte beraubt wird. Der Vater Alfons Lasker, ein angesehener Rechtsanwalt, bemüht sich ebenso verzweifelt wie vergeblich, aus Deutschland herauszukommen. Im April 1942 werden die Eltern deportiert und später ermordet. Während die älteste Schwester schon früher nach England emigriert ist, sind die beiden jüngeren, Anita und Renate, auf sich gestellt.

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Verbrecher im Glück

Die damals 16- und 17-Jährigen müssen Zwangsarbeit in einer Papierfabrik leisten. Sie fälschen Pässe, um doch noch zu entkommen, werden erwischt und landen im Gefängnis. Später werden sie getrennt voneinander nach Auschwitz gebracht – mit einem Gefängnistransport und nicht mit einem Sammeltransport deportierter Juden, der für die meisten direkt in die Gaskammern führte. „Wir hatten das Glück, nicht als Juden, sondern als Verbrecher eingestuft zu werden. Das war vorteilhafter“, sagte Anita Lasker-Wallfisch vor zwei Jahren in einer Rede in Bergen-Belsen.

Weil Anita kurz nach ihrer Ankunft in Auschwitz beiläufig erwähnt, dass sie Cello spielt, wird sie Mitglied im Frauenorchester des Lagers. Die Musikerinnen sind gezwungen, unter anderem beim Ein- und Ausmarsch der Arbeitstrupps zu spielen. Gleichzeitig rettet das Orchester viele der Frauen und Mädchen vor der Ermordung in den Gaskammern. Durch einen Zufall findet Anita ihre Schwester Renate wieder und kann auch ihr helfen. Auch als sie später in das KZ Bergen-Belsen deportiert werden, geben die beiden einander Halt. In dem überfüllten Lager in der Lüneburger Heide herrschen Hunger, Durst und Seuchen vor. „Auschwitz war ein Lager, in dem man Menschen systematisch ermordete“, schreibt Lasker-Wallfisch in ihren Lebenserinnerungen: „In Belsen krepierte man einfach.“

Ob Montag oder Donnerstag

Als britische Truppen das Lager am 15. April 1945 befreien, finden sie Tausende unbestatteter Leichen und Zehntausende todkranker Menschen vor. Fünf Monate nach der Befreiung erhebt ein britisches Militärgericht Anklage gegen die Täter. Anita Lasker-Wallfisch ist als Zeugin in dem Prozess vorgeladen, den sie als Farce erlebt, wie sie schreibt. An welchem Wochentag und zu welcher Uhrzeit sie gesehen habe, dass einer der Angeklagten jemanden ermordete, wurde sie gefragt. „Im Lager hatte man weder einen Kalender noch eine Uhr. Auch hätte es einen kaum interessiert, ob das an einem Montag oder an einem Donnerstag geschah.“ Ein Verbrechen wie der Massenmord an Millionen von Menschen stehe außerhalb jedes Gesetzes.

Die junge Frau wandert schließlich nach England aus. Sie heiratet den Pianisten Peter Wallfisch, mit dem sie zwei Kinder hat. Sie macht als Cellistin Karriere und ist Mitbegründerin des „Englisch Chamber Orchestra“. Ihre Schwester Renate wird Journalistin, heiratet später den Publizisten Klaus Harpprecht und lebt heute in Frankreich. Nach Angaben des Bundestages wird sie voraussichtlich ebenfalls zur Gedenkstunde nach Berlin kommen.

Warnung vor zunehmenden Antisemitismus

Der Bundestag erinnert jährlich zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar an die Ermordeten und Verfolgten des Nationalsozialismus. Bei ihrer Rede will Anita Lasker-Wallfisch vor einem wieder zunehmenden Antisemitismus warnen. „Menschen lernen selten aus der Geschichte. Sie sehen ja, was heute in der Politik los ist“, sagt sie. „Auch deshalb spreche ich über den Antisemitismus, weil Menschen wieder Mut gefasst haben, solche Positionen offen auszusprechen.“

Lange hat Lasker-Wallfisch über ihre Erinnerungen geschwiegen. Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer Befreiung hat sie dann ihre Erfahrungen zunächst für ihre Kinder und Enkel aufgeschrieben. Das Buch „Ihr sollt die Wahrheit erben“ erschien 1997 erstmals auch auf Deutsch. Mit jungen Menschen habe sie gute Erfahrungen gemacht, sagt sie. „Man soll die Hoffnung nicht aufgeben. Man tut, was man kann.“ (epd/mig)