Schicksale am Fließband

Zahl der Asylverfahren steigt rasant – ein Besuch im Gerichtssaal

In etwa 30 Minuten pro Fall entscheiden Verwaltungsrichter über Asylklagen. In ihrer Hand liegen Schicksale von Flüchtlingen. Die Richter müssen schnell sein, denn die Zahl der Verfahren hat stark zugenommen. Ein Tag im Gerichtssaal.

Ihr erstes Asylverfahren an diesem Tag bringt Beate Schabert-Zeidler alleine über die Bühne. Der Kläger, ein Asylbewerber, ist nicht erschienen. Auch sein Anwalt ist nicht da. Und von der Gegenseite, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), komme sowieso nie jemand, meint die Verwaltungsrichterin: „Die haben keine Zeit, weil sie so viele Verfahren bearbeiten müssen.“ Schabert-Zeidler entscheidet daher alleine. Der Mann, um den es geht, hat sich nach Erkenntnissen des Gerichts absichtlich falsch als Syrer ausgegeben, um in Deutschland bleiben zu können. Die Richterin weist die Klage auf Bleiberecht daher ab.

Keine 15 Minuten dauert das. Bis zur nächsten Verhandlung bleibt daher noch etwas Zeit: 30 Minuten pro Fall, manchmal 45, das ist der Takt in dem Beate Schabert-Zeidler und ihre Kollegen am Augsburger Verwaltungsgericht seit Monaten solche Verfahren abarbeiten – Schicksale am Fließband. In der Regel sind es Fälle, bei denen das BAMF einen Asylantrag abgelehnt hat. Die Betroffenen klagen dann vor Gericht.

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Drei von vier Verfahren sind Asylsachen

„Drei von vier Verfahren sind bei uns mittlerweile Asylsachen“, sagt Gerichtspräsident Nikolaus Müller. Seit 2013 hat sich die Zahl der Asylfälle am Augsburger Verwaltungsgericht mehr als verzehnfacht. Bayernweit sieht es ähnlich aus: Bei 50.345 lag nach Angaben des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof die Zahl der Asylverfahren in den ersten zehn Monaten dieses Jahres. 2013 waren es knapp 4.900. Asylverfahren belasten die Gerichte bundesweit. Nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge wurden in diesem Jahr zwischen Januar und September insgesamt 274.645 Klagen gegen Entscheidungen des BAMF eingelegt.

„Jeder unserer Richter muss mittlerweile neben seinen sonstigen Verfahren auch Asyl machen“, erläutert Nikolaus Müller. Entsprechend hoch ist die Belastung. „Wenn ich abends heimkomme, bin ich erst mal fertig“, erzählt Schabert-Zeidler.

„Ich habe da kein schlechtes Gewissen“

Die 65-Jährige muss regelmäßig Flüchtlinge in ihr Heimatland zurückschicken – in eine unsichere Zukunft: „Ich habe da kein schlechtes Gewissen“, sagt Schabert-Zeidler. Sie prüfe jeden Einzelfall genau und entscheide dann nach Recht und Gesetz. Eigentlich, so sagt sie, sei in diesem Jahr ihre Pension angestanden. Stattdessen habe sie sich entschieden, ihr Arbeitsleben um zwei Jahre zu verlängern: „Diesen Berg an Verfahren kann ich doch nicht guten Gewissens jemand anderem hinterlassen.“

Der nächste „Einzelfall“ der Richterin ist ein 17-jähriger Syrer. Amjad H. ist 2015 nach Deutschland gekommen – zusammen mit etwa 890.000 weiteren Flüchtlingen, die die Bundesrepublik aufnahm. Der junge Mann lebt im Allgäu bei seinem Vormund Marianna Klotz. Sie ist bei der Verhandlung dabei. Amjad H.s Eltern sind noch in Syrien. Vor Gericht will er erreichen, dass sie und seine drei Schwestern nach Deutschland nachkommen dürfen.

„Ich kann nicht erlauben, dass deine Familie nachkommt.“

Die Geschichte von Amjad H. zeigt, wie kompliziert und gleichzeitig tragisch Fälle sein können, die die Richter verhandeln. Der junge Mann darf in Deutschland bleiben, solange in Syrien Bürgerkrieg herrscht. Er hat jedoch keinen Flüchtlingsstatus, denn minderjährige Syrer erkennt das BAMF nicht als Flüchtlinge an. Nur mit diesem Status kann er aber seine Familie nachholen. „So leid es mir tut“, sagt die Richterin daher zu dem Jugendlichen: „Ich kann nicht erlauben, dass deine Familie nachkommt.“

Amjad H. versteht, was die Richterin sagt. Akzeptieren will er es nicht. „Ich vermisse meine Familie“, beteuert er. Tränen laufen über seine Wangen. Vormund Marianna Klotz versucht, ihn zu beruhigen. Amjad H. fährt mit gebrochener Stimme fort: Er habe seinen Realschulabschluss gemacht, jetzt arbeite er auf sein Fachabitur hin. „Warum geben Sie mir diese Chance nicht?“, fragt er die Richterin. Dass der Syrer zur Schule geht, Deutsch spricht, in seinem Wohnort gut integriert ist, sei im Asylverfahren vor Gericht jedoch nicht maßgeblich, erklärt Beate Schabert-Zeidler: „Das alles kann ich nicht berücksichtigen.“