„Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man.“ Dieser Satz entstammt der posthum veröffentlichenden Parabel „Heimkehr“ von Franz Kafka. Inhaltlich geht es darin um die Rückkehr eines Mannes in seine Heimat, genauer die Wiederkehr eines Sohnes auf seines Vaters alten Hof. Er findet sich dort ein und befürchtet, nicht auf die Weise empfangen zu werden, die er erwartet, ohne jedoch wirklich zu wissen, was genau er sich eigentlich erhofft, und was sich in der Zeit seiner Abwesenheit verändert haben könnte.
Wie oft in den Erzählungen Kafkas lässt sich nicht in Erfahrung bringen, worin die Gründe für den Weggang des Sohnes lagen, und auch nicht, was ihn nunmehr bewegte, wieder heimzukehren. Deutlich spürbar ist jedoch die Angst des Sohnes, seiner alten Heimat „abhanden“ gekommen zu sein. Obiges Zitat ist dadurch zugleich die vielleicht eindrücklichste Beschreibung des diffusen Zustandes, nicht zu wissen, ob man noch oder vielleicht wieder dazugehört oder inzwischen ausgeschlossen und fremd geworden ist. Sofern man einer eher biographischen Analyse der Arbeiten Kafkas anhängt, geht es in „Heimkehr“ um die Flucht eines Sohnes aus seinem Elternhaus bzw. ein von Versagensängsten geprägtes Verhältnis zum eigenen Vater. Unabhängig dieser durchaus nachvollziehbaren Interpretation beschreibt Kafka zudem das Phänomen der „Entfremdung“ und damit einen Vorgang, der sich sowohl im individuellen als auch im gesellschaftlichen Umfeld dauerhaft vollzieht. Lebenswelten divergieren, unbeeinflusst davon, ob bewusst oder lediglich mittelbar durch die Beteiligten veranlasst, und das Bewusstsein der bestehenden Andersartigkeit schmerzt.
Ausgehend von diesem Stimmungsbild lohnt es, einige Gedanken zu „Bekannten“ und „Fremden“ zu formulieren und diese in den Kontext der aktuellen Debatte über die vorgebliche „Überfremdung“ der Gesellschaft zu stellen.
Überfremdung als Nebelkerze mit deutlicher Agenda
„Überfremdung“ ist ein Kampfbegriff, der eng mit der politischen Rechten verbunden ist. Er wird nahezu ausschließlich abwertend eingesetzt, um eine Gefahr durch importierte, als „andersartig“ empfundene Sprachen, Kulturen und Ethnien behaupten zu können. Schon Reichspropagandaminister Goebbels hetzte 1933 durch die „Überfremdung des deutschen Geisteslebens durch das Judentum“. Im Jahre 1941 nahm der Duden als Definition das „Eindringen Fremdrassiger“ und das „Eindringen fremden Volkstums“ als Bedeutung auf. Der Begriff wurde im Jahre 1993 zum „Unwort des Jahres“ gewählt, wird allerdings weiterhin regelmäßig verwendet, zuletzt besonders prominent durch die Bürgerbewegung „PEGIDA“.
Unklar bleibt, ob die heutigen Verwender durch die Bemächtigung dieser Begrifflichkeit auch eine Nähe und Sympathie zu rassischem und völkischem Denken demonstrieren wollen. Auf jeden Fall ist den Verwendern der Begrifflichkeit wahlweise Geschichtsvergessenheit oder fehlendes Verständnis für die Beziehung zwischen Sprache und Verantwortung zu attestieren. Vor allem die Griffigkeit der Phrase und der einfache Zugang zum Gedanken, nicht mehr „Herr im Haus“ zu sein, schüren Ängste und Ressentiments. Bedient wird nicht der Verstand, sondern das Gefühl „sich sorgen zu müssen“. Diese Denkrichtung nimmt der besorgte Bürger in Zeiten der Verflüssigung von fixen Werten gerne auf.
Fremdheit als Wechselspiel aus Unbekanntheit und Unüblichkeit
In Überfremdung steckt „fremd“, und damit ein Adjektiv, das wir ständig verwenden ohne uns seiner gespaltenen Bedeutung völlig im Klaren zu sein. Als „fremd“ bezeichnen wir im Deutschen Personen oder Lebenssachverhalte, die nicht dem Üblichen und Gewohnten entsprechen. Gemeint sein kann dabei sowohl, dass der Umstand völlig unbekannt, d.h. nicht einzuordnen ist, oder aber in seiner konkreten Ausgestaltung „so vom Durschnitt nicht gehandhabt“ wird. So ist uns fremd i.S.v. „unbekannt“, wenn jemand eine zuvor von uns nie vernommene Sprache spricht, die wir nicht verstehen und auch keinem Kulturkreis zuordnen können. Fremd i.S.v. „unüblich“ empfinden wir es hingegen, wenn Männer aus religiösen Gründen einen Turban tragen oder auf der linken Seite der Straße gefahren wird.
Der Unterschied zwischen „unbekannt“ und „unüblich“ liegt damit in der Qualität der Bewertung. Während das nicht einzuordnende Verhalten neutral aufgenommen wird und zunächst eine Klärung erfolgen muss, sind unübliche Umstände bereits als vergleichbar, aber eben anders klassifiziert. Wenn auch diese Form des Vergleichens nicht verhinderbar ist, da sie der typischen Form menschlicher Erkenntnisgenese entspricht, birgt sie ein erhöhtes Potential für Vorurteile. Bei Lebenswelten, die anders sind, drängt sich das Problem auf, ob diese zum präsenten Acquis der Bräuche und Gepflogenheiten hinzuaddiert werden sollen, d.h. der Besitzstand erweitert werden müsste. Das Innehalten über der Frage, ob sich dieses Verhalten, dieser Lebensumstand oder diese Kleidung „gehören“, verzögert ab dem ersten Moment der Bewusstmachung den Zugang zur als fremdartig erkannten Lebenswelt. Je länger das Grübeln über das „Hineinpassen“ dauert, umso deutlicher wird die vorgebliche Unüberbrückbarkeit der Umstände herausstechen.
Andersartigkeit als Realitätscheck des eigenen Ichs
Das führt unweigerlich dazu, dass eigenes „So-sein“ weitaus intensiver ins Bewusstsein rückt. Das Erkennen des Anderen zwingt zur Selbstreflexion. Die paradoxale Beziehung besteht darin, dass die einmal als „Fremdheit“ erkannte Andersartigkeit zu ihrer eigenen Bestätigung fortbestehen muss, da ansonsten die Vergewisserung eigener „Gleichartigkeit“ gefährdet würde. Das „Ich“ wird erst durch ein „Du“ gefestigt, die Manifestation daher umso vehementer, je stärker dieses „Du“ sich vom eigenen „Ich“ abhebt.
Wenn es darum geht, sein „Ich“ zu verteidigen, werden gruppendynamische Prozesse aktiviert. „Wir“-Gefühle mildern Selbstzweifel. Sobald erkannt wird, dass mehrheitlich „so“ und eben gerade „nicht anders“ gesprochen, gedacht, gelacht und gelebt wird, richtet sich das „Ich“ am großen Ganzen eingebildeter Gleichartigkeit auf. Der sichere Hafen ist nicht das ferne, exotische Land, von dem man zwar als Urlaubsziel träumt, im Alltag jedoch nichts wissen möchte. Das Kollektiv der Gleichartigen und Gleichgerichteten verschlingt den Einzelnen amöbenartig, was diesen allerdings weitaus weniger berührt als das bohrende Störgefühl, welches das „Fremde“ in seine Welt hineinträgt.
Die „Überfremdung“ ist somit in erster Linie kein empirisches Merkmal, das sich als Quantität der neu inkludierten Ethnien, Sprachen, Kulturen und Bräuche zeigt. Vielmehr handelt es sich um eine Reaktion auf das Erkennen eines Unbekannten und Unüblichen, ist also primär eine Empfindung und kein hartes Faktum.
Angst vor Überfremdung als Angst vor sich selbst?
Um zu Kafkas Parabel zurückzukehren: Betrachtet man „Fremdheit“ nicht präjudiziell als negativ konnotiertes Merkmal, sondern vielmehr als bloße Zuschreibung des „Nicht-So-seins“, quasi als Relationsbegriff zwischen Lebenswelten, verschmelzen die Übergänge aus „Entfremdung“ und „Überfremdung“ zunehmend. Die Grenze, die diese Relation erst konstituiert, ist nicht ortsfest, sondern schwingt im Gleichklang mit der herrschenden Ansicht, welche durch kollektive Prozesse der Meinungs- und Stimmungsbildung das Dazugehören und Fremdsein dauerhaft produziert. Die fortwährende Produktion von Inklusion und Exklusion erzeugt Spannungen, die sich in Ängsten entladen können.
Die Angst, durch ein Zuviel an Andersartigkeit die eigene Identität zu verlieren, kann jedoch nur empfinden, wer sich bereits jedem Anders-Sein verschlossen hat. Die Überfremdung beginnt demnach mit der Entfremdung von sich selbst, d.h. dem Glauben, dass das eigene „Ich“ so zerbrechlich und schutzbedürftig ist, dass es kein „Du“ mehr ertragen könne. „Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man.“ Das gilt nicht nur für den Wartenden vor der Tür, sondern auch für all diejenigen im Inneren, die die Türen am Liebsten dauerhaft verschließen würden.