Plötzlich elf Enkel – 87-jährige engagiert sich für Flüchtlinge

Wer bei der Generation 85plus nur an Hilfsbedürftigkeit und körperliche Gebrechen denkt, liegt daneben. Viele Ältere bringen sich aktiv ein und teilen ihre reichen Erfahrungen – beispielsweise in der Flüchtlingshilfe.

Mit den Umlauten kann sich Khadija Barkel noch nicht so recht anfreunden. Zusammen mit ihrer ehrenamtlichen Deutsch-Lehrerin Gertrud Ritter übt die syrische Mutter von elf Kindern unermüdlich ein langgezogenes „Öööööö“. Im Chor lassen die beiden Frauen noch ein „Üüüüüü“ folgen. „Ja, jetzt hast Du’s“, lobt Ritter, die sich seit mehr als zwei Jahren ehrenamtlich für die Integration der Flüchtlingsfamilie einsetzt. Das tun andere auch. Aber ungewöhnlich ist das Alter der Bremerin: Mit 87 Jahren engagiert sie sich noch immer mit Begeisterung. „Sie ist meine Mutter, meine Lehrerin“, schwärmt Khadija Barkel.

Energiegeladen denkt und arbeitet Gertrud Ritter mit am Bild einer solidarischen Gesellschaft, das sie schon als Kind in einer fünfköpfigen Familie von ihrem Vater vermittelt bekommen hat. „Er war Landarzt, mit Leib und Seele, manchmal auch über seine eigenen Kräfte hinaus“, denkt Ritter zurück. Er habe Bedürftige unterstützt und in Zeiten des Nationalsozialismus auch Juden behandelt. „Liebe den Nächsten wie dich selbst“ – dieser biblische Grundsatz hat sich zu einem Leitmotiv ihres Lebens entwickelt.

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Fast jeder zweite Deutsche engagiert sich nach dem neuestem „Freiwilligensurvey“ des Bundesfamilienministeriums ehrenamtlich. Eine Studie des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg hat überdies ergeben, dass das Engagement auch im hohen Alter weitergeht. „Die Überzeugung, aktiver Teil der Gesellschaft zu sein, das eigene Wissen weiterzugeben und somit in nachfolgenden Generationen fortleben zu können, ist für Hochaltrige existenziell“, sagt Institutschef Andreas Kruse.

Freude und Erfüllung

Drei von vier Hochbetagten gaben bei der Untersuchung an, Freude und Erfüllung in tiefgehenden Begegnungen mit anderen Menschen zu finden. 44 Prozent sind davon überzeugt, dass ihre Lebenserfahrung eine Hilfe für nachfolgende Generationen bedeuten kann. Für die Studie aus dem Jahr 2014 hatten die Heidelberger im Auftrag des Generali-Versicherungskonzerns 400 Menschen im Alter zwischen 85 und 99 Jahren befragt. „Die Hochbetagten können und wollen sich einbringen“, betont Kruse.

So wie Gertrud Ritter, die nach ihrer beruflichen Laufbahn als Grundschullehrerin mit 60 Jahren in den Ruhestand gegangen ist. 25 Jahre hat sie dann in einer diakonischen Einrichtung einen Chor geleitet, hat sich als Hospiz-Helferin ausbilden lassen, Kindergottesdienst gestaltet, einsame Menschen besucht. Noch heute arbeitet sie in einer Gruppe ihrer evangelischen Kirchengemeinde mit, die Geburtstage für Jubilare über 70 organisiert. Regelmäßig beteiligt sie sich an einem Gesprächskreis. „Wir reden dann über Gott und die Welt“, sagt die Mutter von drei natürlich längst erwachsenen Kindern.

„Du hast so viele Enkel jetzt“

Wöchentlich besucht sie Familie Barkel, die vor der Terrormiliz ISIS aus Syrien geflüchtet ist. Meist unterstützt sie die Mutter der Großfamilie, übt Grammatik, gibt Tipps zur Aussprache und untermalt temperamentvoll mit Gestik, wenn sie beispielsweise beim Wort „Klavierspielen“ die Finger ihrer Hände über den Tisch sausen lässt. Aber auch die Kinder haben schnell Kontakt zu ihr gefunden und kommen zu ihr, wenn sie Fragen zu den Hausaufgaben haben. „Du hast so viele Enkel jetzt“, sagt Khadija Barkel und lächelt.

„Ich lebe in Dankbarkeit“, meint Gertrud Ritter, die Musik und Kunst genießt, Gott als ihre „Urkraft“ sieht und regelmäßig in der Natur unterwegs ist. „Da bin ich voller Freude, da bin ich Eins mit allem“, sagt sie und macht mit dem nächsten Atemzug auch anderen Mut zum Engagement in der Flüchtlingshilfe, etwa beim Deutsch-Unterricht. Miteinander reden, Sätze bilden: „Das kann schließlich jeder.“ (epd/mig)