Neubewertung der Sicherheitslage

Bundesregierung setzt Abschiebungen nach Afghanistan aus

Die Bundesregierung zieht Konsequenzen aus dem jüngsten schweren Anschlag in Kabul und will Abschiebungen in das Land weitgehend aussetzen. Auswärtiges Amt soll neue Lagebewertung vornehmen. Unionspolitiker halten Rückführungen nach Afghanistan weiter für vertretbar.

Nach dem schweren Terroranschlag am Mittwoch in Kabul hat die Bundesregierung Abschiebungen nach Afghanistan weitgehend ausgesetzt. Das Auswärtige Amt werde eine neue Lagebeurteilung vornehmen, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Donnerstagabend nach einem Treffen mit den Ministerpräsidenten der Länder in Berlin. Das hätten Bund und Länder bei dem Treffen vereinbart. Bei dem Anschlag im Diplomatenviertel der afghanischen Hauptstadt waren durch eine Autobombe mehr als 90 Menschen getötet und rund 450 weitere verletzt worden.

Der Bremer Bürgermeister Carsten Sieling (SPD) sagte nach dem Treffen in Berlin, nach Afghanistan abgeschoben würden demnächst nur Gefährder und Straftäter. Das sei der richtige Weg. Merkel betonte, dass Einzelfallprüfungen sehr wichtig seien.

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Neubewertung der Sicherheitslage

Das Bundesinnenministerium erklärte am Donnerstagabend, Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) und Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) seien sich einig darüber, eine neue Bewertung der Sicherheitslage durch das Auswärtige Amt vorzunehmen. „Wir streben an, bis spätestens Juli eine neue Beurteilung vorzunehmen“, teilte das Ministerium mit. Der Zeitraum bis zur Vorlage der neuen Lagebeurteilung hänge vor allem von der vollen Funktionsfähigkeit der deutschen Botschaft in Kabul ab. Diese war bei dem jüngsten Anschlag schwer beschädigt worden.

Direkt nach dem verheerenden Anschlag in Kabul hatten de Maizière (CDU) und andere Unionspolitiker noch an den Rückführungen abgelehnter afghanischer Asylbewerber festgehalten. Eine für Mittwochabend geplante Sammelabschiebung sei nur verschoben worden, hieß es zunächst.

Unionspolitiker halten an Abschiebungen fest

Einzelne Unionspolitiker halten weiterhin an Rückführungen fest, „und zwar in die Gebiete, in denen Menschen sicher leben können“, sagte der Vorsitzende der Innenministerkonferenz von Bund und Ländern, Markus Ulbig (CDU), der Welt am Sonntag. Zur Ehrlichkeit in der Debatte gehöre es, dass Abschiebungen notwendig seien, „um unser Asylsystem funktionsfähig zu halten“, unterstrich Ulbig. Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz reagierte damit etwa auf die Forderung von Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke), komplett auf Abschiebungen nach Afghanistan zu verzichten. Das Thema Abschiebungen steht bei der Innenministerkonferenz, die vom 12. bis 14. Juni in Dresden stattfindet, auf der Tagesordnung.

SPD-Parteichef und Kanzlerkandidat Martin Schulz forderte am Donnerstag eine Aussetzung der Abschiebungen nach Afghanistan. Es sei eine Überprüfung und Neubewertung der Sicherheitslage nötig, sagte er beim WDR-Europaforum in Berlin. Auch der thüringische Migrationsminister Dieter Lauinger (Grüne) forderte eine Neubewertung der Sicherheitslage in Afghanistan und einen Abschiebestopp.

Gewaltserie hört nicht auf

Derweil geht die Serie der Gewalt in der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter. Während einer Trauerfeier wurden am Samstag auf einem Friedhof mindestens 20 Menschen getötet und mehr als 80 weitere verletzt, wie afghanische Medien am Sonntag berichteten. Auf dem Khair-Khana-Friedhof wurde der Sohn eines ranghohen Politikers beigesetzt, als drei Selbstmordattentäter ihre Sprengsätze zündeten. Die Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) verurteilten den Anschlag als „moralisch verachtenswert und unmenschlich“. Es müsse alles getan werden, um den Kreislauf der Gewalt zu stoppen.

Afghanistan beschuldigt das Nachbarland Pakistan der Mittäterschaft. Afghanistans Präsident Aschraf Ghani sprach am Donnerstag von einem Kriegsverbrechen. Der afghanische Geheimdienst NSD machte das in Pakistan angesiedelte Haqqani-Netzwerk für die Explosion der Autobombe verantwortlich, wie afghanische Medien berichteten. Auch der pakistanische Militärgeheimdienst soll beteiligt gewesen sein.

Weiter Menschen vermisst

Das Haqqani-Netzwerk ist eine Terrorgruppe mit engen Verbindungen zu den Taliban und Al- Kaida. Das Netzwerk hat bereits zahlreiche schwere Attentate auf Nato-Ziele und ausländische Botschaften in Afghanistan verübt. Bislang hat sich niemand zu dem Anschlag im muslimischen Fastenmonat Ramadan bekannt.

Auch am Donnerstag wurden in Kabul noch Menschen vermisst. Die Identifizierung mancher Opfer gestaltet sich wegen des Ausmaßes der Zerstörung, das der 1.500 Kilogramm schwere Sprengsatz anrichtete, schwierig. Zugleich wurde den afghanischen Sicherheitskräften Versagen vorgeworfen. UN-Generalsekretär António Guterres unterstrich die Notwendigkeit, unschuldige Zivilisten zu schützen. Die Opfer waren vor allem Afghanen, die auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule waren. (epd/mig)