Die Kunst der Einfachheit

Sechs Autoren schreiben Literatur in „einfacher Sprache“

Keine Fremdwörter und kürzere Sätze: Millionen Menschen hilft die „einfache Sprache“. Doch in der Literatur wird sie bislang nur wenig verwendet. Sechs Autoren haben für ein Projekt Texte in einfacher Sprache verfasst – und sie zur Kunstform gemacht. Davon könnten auch Menschen mit mangelhaften Sprachkenntnissen profitieren.

„Dieses Versteck ist wie ein Schiff auf dem offenen Meer. Man kann nicht einfach aussteigen. Wer aussteigt, ist tot.“ Alissa Walser erzählt an diesem Abend im Historischen Museum in Frankfurt die Geschichte von Margot Frank, der Schwester des jüdischen Mädchens Anne Frank, das mit ihrem Tagebuch so viele Menschen erreichte. Walser wählt dafür kurze Sätze, einfache Worte, erläutert Sprachbilder.

Diese Einfachheit gibt dem Text eine besondere Ästhetik. Doch die mehrfach ausgezeichnete Autorin hat ihn nicht deshalb so geschrieben. Sie möchte mit ihm viele Menschen erreichen, so wie es Anne Frank mit ihrem Tagebuch getan hat. Und noch viel wichtiger: Sie möchte niemanden ausschließen. Deswegen ist der Text, den sie an diesem Abend dem Publikum vorstellt, in sogenannter einfacher Sprache verfasst.

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Sprache soll helfen

Einfache Sprache soll die Alltags- oder Fachsprache leichter verständlich machen. Anders als die „leichte Sprache“ richtet sie sich nicht hauptsächlich an Menschen mit Behinderungen, sondern an Menschen mit geringen Schreib- und Lesekompetenzen. Dazu zählen neben Legasthenikern zum Beispiel auch Einwanderer. Die einfache Sprache vereinfacht Grammatik und Wortschatz, Sätze sind kürzer und Fremdwörter werden vermieden. Im Alltag gebräuchliche Begriffe werden aber als bekannt vorausgesetzt und auch Nebensätze sind erlaubt.

Walser ist eine von sechs Autorinnen und Autoren, die für das Projekt „Frankfurt, deine Geschichte“ Texte in einfacher Sprache geschrieben haben. Die Initiative des Historischen Museums Frankfurt am Main, des Literaturhauses und der Stabstelle für Inklusion der Stadt ist einmalig in Deutschland. Der Anspruch ist zugleich Herausforderung: einfache Sprache als Kunstform.

Keine verschachtelten Sätze

„Bisher gibt es nur wenig Literatur, die in einfache Sprache übersetzt wurde“, sagt Hauke Hückstädt, Leiter des Literaturhauses. Das seien meist populäre Werke wie „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf. „Von bekannten Autoren gibt es aber keine Texte, die eigens in einfacher Sprache geschrieben wurden.“

Die sechs Autoren des Frankfurter Projekts, darunter Kristof Magnusson, Henning Ahrens und Olga Grjasnowa, haben das geändert. Sie haben sich Regeln gegeben, um sich nicht in verschachtelten Sätze und Zeitsprüngen zu verlieren. Ihre Geschichten handeln von Personen, Orten oder Ereignissen der Frankfurter Geschichte und werden dieses und nächstes Jahr in Lesungen vorgestellt.

7,5 Millionen funktionale Analphabeten

Laut einer Studie der Universität Hamburg sind in Deutschland 14,5 Prozent der Bevölkerung zwischen 18 und 64 Jahren sogenannte funktionale Analphabeten. Das sind rund 7,5 Millionen Menschen. Sie können zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben, nicht jedoch ganze Texte. Zusätzlich haben 13,3 Millionen Menschen, die nicht als funktionale Analphabeten gelten, Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben – zusammen sind das über 21 Millionen. Einfache Sprache können dagegen laut der „Aktion Mensch“ 95 Prozent der Bevölkerung lesen und verstehen.

Im Frankfurter Historischen Museum geht ein Lachen durch den Raum. Schriftsteller und Theaterautor Kristof Magnusson liest gerade seine Geschichte über eine Frau, die in die Wohnung der dort ermordeten Prostituierten Rosemarie Nitribitt eingezogen ist. Die Frau ist froh, dass sie eine so günstige Wohnung ergattern konnte, bis ein Fremder sie über den Mord aufklärt. Seine Geschichte wird simultan auch in Gebärdensprache übersetzt. Das Lachen über eine komische Szene beweist: Die Zuhörer verstehen, sein Text schließt nicht aus. Auch nicht die, die den Text auch ohne einfache Sprache problemlos verstehen würden.

Einfache Sprache ist keine neue Sprache

„Manche sind der Ansicht, für Menschen, die auf einfache Sprache angewiesen sind, gibt es ja Kinder- und Jugendbücher“, sagt Hückstädt vom Literaturhaus. „Das finden wir nicht.“ Das Thema des Textes von Kristof Magnusson ist eines, das so sicher nicht in Kinderbüchern behandelt werden würde. Aber ein „normales“ Buch darüber könnten 21 Millionen Menschen in Deutschland nicht oder nur schwer verstehen.

Auch Angela Taugher kennt das Problem. Sie ist gemeinsam mit ihrem Sohn Sascha zur Lesung gekommen. Der 16-Jährige hat eine Behinderung, kann Bücher in Standardsprache nicht richtig verstehen. „Es ist sehr schwierig, für sein Alter angemessene Bücher zu finden“, sagt sie. „Kinderbücher interessieren ihn ja nicht mehr.“ Aber Sascha ist gerade wegen etwas anderem traurig. Weil jemand in der Geschichte getötet wurde, erzählt er. „Er hörte die ganze Zeit gespannt zu“, beschreibt seine Mutter. „Er wusste vorher nicht, was das Ganze hier ist. Aber er konnte verstehen, was in den Geschichten passiert.“

Hückstädt sagt, einfache Sprache sei keine neue Sprache. „Vielmehr ist sie etwas, was wir alle verlernt haben. Etwas Verschüttetes.“ Menschen wie Sascha hilft sie dabei, zu verstehen. Damit alle etwas von der Kunst der Literatur haben. (epd/mig)