Migrantenfamilien organisieren einer Studie zufolge die Pflege demenzkranker Angehöriger möglichst lange selbst. Trauer und Schmerz über das, was sich am Verwandten ändere, stehe bei den Pflegenden oft im Vordergrund, sagte der Gießener Theologe und Soziologe Reimer Gronemeyer am Wochenende dem Evangelischen Pressedienst in Gießen. Es gebe eine Orientierung an traditionellen Familienstrukturen und Gewissensfragen. Der Wissenschaftler und sein Team haben für eine Studie Interviews mit pflegenden Angehörigen geführt, um zu erforschen, wie Migrantenfamilien mit Demenz umgehen.
„Es gibt unter Migranten eine größere Selbstverständlichkeit, dass Pflege selbst organisiert werden muss“, berichtete der Soziologe Jonas Metzger. Auch in Migrantenfamilien seien meist die Frauen die Pflegenden. Teilweise schliefen sie sogar auf einer Matratze im Wohnzimmer, um die Eltern im Blick zu haben. Oft hätten die Interviewer gehört: „Sie hat so viel für uns getan, jetzt ist sie mal dran“, sagte Gronemeyer.
Schwierigkeiten mit der Bürokratie
Die befragten Familien stammten hauptsächlich aus der Türkei und aus Russland. „Es wurde schnell deutlich, dass große Schwierigkeiten mit der deutschen Bürokratie bestehen“, sagte Metzger. Migrantengruppen erhielten oft nicht die Informationen, auf die sie ein Recht hätten und seien auf das Wohlwollen der Institutionen angewiesen. „Die Familien hatten lange Schwierigkeiten, bis ihnen eine Person aus dem deutschen Gesundheitswesen unter die Arme griff.“ Bis dahin hatten sie die Pflege meist so organisiert, dass sie die Dienste nicht mehr benötigten.
Die Interviews seien bewegend gewesen, aus vielen spreche eine poetische und emotionale Kraft, betonte Gronemeyer. „Es würde sich lohnen, mehr als bisher hinzuhören, wie Migranten mit Demenz umgehen.“ Auffällig sei, dass türkische und russische Migranten große Kraft aus der Religion schöpften und ihnen die Einstellung helfe: „Ich schaffe das, ich komme durch die schwere Zeit“, berichteten die beiden Forscher. „Aber es gibt auch Leiden und Belastung unter der Pflegesituation. Es ist nicht so, dass sie sagen: Wir wollen keine Unterstützung.“
Lernen von Migranten
Bei steigender Zahl von Demenzkranken und abnehmender Zahl an Pflegekräften müssten sich die Menschen auf die Frage besinnen: „Was können wir eigentlich selbst?“, sagte Gronemeyer. Er glaube, dass die Gesellschaft zu dieser Frage von Migrantenfamilien eine ganze Menge lernen könne.
Die vier beteiligten Wissenschaftler führten insgesamt 22 Interviews mit pflegenden Angehörigen sowie vier Gespräche mit Experten. Zudem fand eine Feldstudie in der Türkei statt. Außerdem sprachen sie mit pflegenden Angehörigen ohne Migrationshintergrund. (epd/mig)