Tagung zum NSU-Komplex

Zu wenige Konsequenzen in Wissenschaft und Gesellschaft

Eine interdisziplinäre Tagung versucht fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU eine Bestandsaufnahme der Forschung zum NSU-Komplex zu leisten. Dabei stehen Perspektiven und Folgen im Mittelpunkt.

Fünf Jahre sind seit der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos vergangen. Seitdem befassen sich der Prozess gegen Beate Zschäpe und fünf weitere Angeklagte in München, sowie mehrere Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern mit der Mordserie des National-Sozialistischen-Untergrunds. Auch die Wissenschaft nimmt sich dem Thema NSU an, forscht zu Entstehungsbedingungen und Lehren aus den NSU-Morden. Hierzu kamen vom 21.-22. Oktober Wissenschaftler verschiedener Richtungen, sowie zivilgesellschaftliche Akteure und andere Interessierte zu einer interdisziplinären Konferenz an der University of Applied Science in Frankfurt am Main (FUAS) zusammen, um bisherige Forschungsergebnisse und Leerstellen der wissenschaftlichen Beobachtung zusammen zu tragen.

In einer ersten Podiumsdiskussion vor etwa 200 Zuschauern tauschten wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Experten aus verschieden Disziplinen sich über Folgen und Konsequenzen aus dem NSU aus: Seda Basay-Yildiz, die Anwältin der Familie Enver Simseks im Münchener Prozess, sprach eingangs von der großen Ernüchterung ihrer Mandanten und deren Unverständnis, wenn Akten gar nicht oder nur geschwärzt an Gerichte oder Untersuchungsausschüsse weitergegeben würden. Sie selbst mache sich keine Hoffnung mehr auf Veränderungen bei den Behörden. Auch die Abgeordnete des Thüringer Landtags und Mitglied des thüringischen Untersuchungsausschuss Katharina König kritisierte die Behörden, insbesondere wenn das Geheimhaltungsinteresse bei ihnen überwiege. Die parlamentarischen Kontrollmechanismen wie Untersuchungsausschüsse seien zudem in einigen Fällen nur ein politisches Feigenblatt, es fehle an Druck und dem tatsächlichen Willen aufzuklären.

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Kein Problembewusstsein für Rechtsterrorismus

Einig war sich das Podium weitgehend in der Gefahr, die in dem derzeitigen Rechtsruck in Deutschland liege: In der aktuellen Stimmung in Deutschland existiere ein Nährboden für Rechtsterrorismus, ähnlich wie Anfang der 1990er. Ein verändertes Problembewusstsein liege bei Ermittlungsbehörden jedoch nicht vor, aktueller Rechtsterrorismus werde nicht als solcher erkannt, so Felix Hansen, Vertreter der Beobachtungsstelle NSU-Watch. Um zu verhindern, dass das Thema NSU nach Abschluss des Prozesses und der Ausschüsse in Vergessenheit gerate, brauche es einen „langen Atem“. Dies sei eine Aufgabe, die vor allem unabhängige Stellen in der Zivilgesellschaft zu leisten haben, staatliche Stellen würde dies nicht tun. Andere Teilnehmer des Podiums ergänzten dies mit Forderungen nach unabhängigen Obhutsstellen und der Forderung nach Professionalisierung und klarer Positionierung in der Pädagogik. Der Politikwissenschaftler Fabian Virchow kritisierte, es gebe zwar viele Wissenschaftler an Universitäten, die zu Rechtsextremismus forschen, es fehle aber die Institutionalisierung. An der immens großen Bedeutung gemessen, welche die NSU-Morde haben, sei z.B. die Zahl der Publikationen hierzu noch immer gering.

Ähnliches kritisierte auch der Göttinger Professor Samuel Salzborn in seinem Vortrag: Es gebe in Deutschland keine einzige Professur für Rechtsextremismusforschung. Diese stehe aufgrund der Prioritätensetzung innerhalb der Universitäten auch fünf Jahre nach dem NSU noch immer so schlecht da wie zuvor. Ergebnisse seien vor allem zivilgesellschaftlichen Initiativen und einigen Wissenschaftler zu verdanken, die trotz unzureichender Förderung hierzu arbeiten. Problematisch sei zudem die Verbindung von Forschung und Sicherheitsbehörden, etwa wenn Wissenschaftler in dieser Funktion auch für den Verfassungsschutz tätig sind, der sich wie andere Exekutivorgane verselbstständigt habe.

Tagung zeigt Forschungslücken auf

Im Anschluss an den Vortrag begannen einzelne Workshops und Vorträge: In zwei Phasen konnten die Teilnehmer auf verschiedenen Veranstaltungen sich informieren und diskutieren. Während in der ersten Phase der Fokus stark auf den verschiedenen akademischen Disziplinen wie etwa Soziale Arbeit, Rechtswissenschaft und Gender-Studies lag, öffneten sich in der zweiten Phase die Veranstaltungen mehr, weg von der Einordnung in eine feste Disziplin. So gab es beispielsweise Vorträge zu Konzepten rechten Terrors, zur Inszenierung des NSU-Kerntrios in einem ARD-Film oder zu migrantisch situiertem Wissen. Letzterer betonte die Wichtigkeit, Erfahrungen und Perspektiven der von Rassismus betroffenen Personen nicht zu übersehen, wenn es darum gehe, Rassismus zu untersuchen, jedoch ohne daraus einen universellen Anspruch der betroffenen Personen auf stets richtige Positionen abzuleiten.

Kontrovers und teils heftig diskutiert wurden die Rollen, welche Rassismusforschung und Rechtsextremismusforschung in der wissenschaftlichen Untersuchung des NSU-Komplexes haben sollen und welche Bedeutung dabei migrantisches Wissen habe: Einige Teilnehmer warfen den Rechtsextremismusforschern unter anderem pauschal vor, die extremismustheoretische Gleichsetzung von linker und rechter Politik zu reproduzieren und zu wenig auf Wissen und Erfahrungen von Migranten zu setzen. Ein Teilnehmer versuchte den Vortrag des Rechtsextremismusforschers Samuel Salzborn bei Beginn zu stören. Salzborn distanzierte sich daraufhin mehrfach von der Gleichsetzung linker und rechter Ansichten. Er sehe es auch als Konsequenz aus dem NSU, Rassismus- und Rechtsextremismusforschung zusammen zu führen.

Die Organisatoren der Tagung zeigten sich zufrieden mit den Ergebnissen: Wichtige Fragen seien diskutiert und die bestehenden Forschungslücken aufgezeigt worden. „Für die folgende Auseinandersetzung ist es jedoch wichtig noch weitere Disziplinen hinzuzunehmen“, so Alice Blum von der FUAS. Dazu gehörten auch historische sowie politisch-ökonomische Ansätze. Zentral sei zudem, auch die Perspektive der von Rassismus Betroffenen einzubeziehen und vermehrt in einen Austausch zwischen Forschung und zivilgesellschaftlichen Akteuren zu treten.