Herr Axworthy, Kanada gilt in Sachen Migrationspolitik vielen als Vorbild. Bislang hat es aber lediglich 25.000 Syrern Schutz gewährt.
Lloyd Axworthy: Es gibt in Kanada eine bemerkenswerte Hilfsbereitschaft – sowohl auf Seiten der Bevölkerung als auch bei der Regierung. Diese nimmt Multikulturalismus und Diversity sehr ernst. Es gibt eine große Zahl an Kirchen, Nachbarschaftsgruppen und zivilgesellschaftlichen Initiativen. Diese schließen Verträge mit dem Staat und verpflichten sich für zwei Jahre, sich um die Flüchtlinge zu kümmern.
Was beinhaltet diese Verpflichtung?
Lloyd Axworthy: Das Sammeln von Geld für die Versorgung, Bemühung um eine Unterkunft, um Ausbildungsplätze und Sprachkurse. Die Kosten für die syrischen Flüchtlinge werden zur Hälfte durch solch privates Sponsoring getragen.
Wie hoch sind die Kosten für eine, sagen wir, vierköpfige Flüchtlingsfamilie, die Helfer aufbringen müssen?
Lloyd Axworthy: Etwa 15.000 bis 20.000 Dollar. Der Staat zahlt den Rest. Es wird viel Wert darauf gelegt, dass private Initiativen Verantwortung übernehmen. Dann ist die Aufnahme auch viel effektiver.
So wird Flüchtlingsschutz privatisiert. Es ist kein Rechtsanspruch, sondern ein Wohltätigkeitsprojekt.
Lloyd Axworthy, 78, war Außen- und Einwanderungsminister seines Landes. Derzeit ist er Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Academy
Lloyd Axworthy: Der Vorteil ist: Die Flüchtlinge sind nicht so isoliert, weil es Menschen gibt, die sich verbindlich um sie kümmern. So finden sie viel schneller Eingang in die Gesellschaft. Und das Modell ist sehr konsensfähig. In Umfragen befürworten bis zu 78 Prozent der Kanadier, auf diese Weise Menschen Schutz zu gewähren. Als Rechtspopulisten versucht haben, dagegen Stimmung zu machen, sind sie sofort heftig kritisiert worden. Ich habe Familien besucht, die sich in diesem Modell engagieren. Es ist ein unglaubliches, herzerwärmendes Engagement. Und das Budget der Regierung reicht so, um mehr Menschen Hilfe zu gewähren.
Trotzdem nimmt Kanada in erster Linie Menschen auf, die als wirtschaftlich nützlich eingestuft werden.
Lloyd Axworthy: In den letzten Jahren waren es jeweils zwischen 220.000 und 250.000, die Regierung will die Zahl in den nächsten Jahren auf 300.000 erhöhen. Es gibt im wesentlichen drei Möglichkeiten der Einwanderung: Resettlement, also die kontingentierte Flüchtlingsaufnahme, eine substanzielle Investition in einen eigenen Betrieb sowie Einwandern nach einem Punktesystem. So kommen etwa zwei Drittel der Migranten ins Land. Interessenten werden dabei mit Punkten bewertet, etwa für berufliche Fähigkeiten, Sprachkenntnisse oder Bildung. Beamte in den Botschaften sind mit dieser Bewertung betraut. Auf dieser Grundlage wird über das Einreiserecht entschieden.
Das Punktesystem wird als starr kritisiert. Der Bedarf des Arbeitsmarktes ändert sich schnell. In der Folge sind hochqualifizierte Einwanderer gezwungen, Arbeit anzunehmen, die ihrer Qualifikation nicht entspricht, wenn sie im Land bleiben wollen.
Lloyd Axworthy: Das System ist insgesamt sehr sinnvoll. Man weiß so genau, wer kommt und kann dem Bedarf gemäß steuern. Und was dabei sehr wichtig ist: Die Menschen sollen Bürger des Landes werden, sie sollen bleiben, und nicht nur auf Zeit kommen. Das ist das Ziel der Einwanderung. Die Chancen sind dabei für alle gleich, es geht nicht um Kultur oder Ethnie, sondern allein um Fähigkeiten. Früher kamen viele Menschen aus Europa, heute sind es viele aus Asien und Afrika.
Sie empfehlen Deutschland, das Modell zu übernehmen. Wie viele Menschen sollten denn mit einem Punktsystem kommen dürfen?
Lloyd Axworthy: Das kann ich nicht sagen. Ich empfehle aber, das Projekt sofort anzugehen, um die Industrie betriebsfähig zu halten.
In der Vergangenheit gab es sehr vorsichtige Versuche, den Arbeitsmarkt für Fachkräfte aus Drittstaaten zu öffnen. Die wollten aber lieber in die anglophonen Länder. Was lässt sich da tun?
Lloyd Axworthy: Es gibt verschiedene Faktoren für die Beliebtheit eines Landes als Einwanderungsziel. Deutschland ist sehr attraktiv wegen seiner hervorragenden Ausbildungsmöglichkeiten. Gleichzeitig gibt es aber das Narrativ, dass es kein Einwanderungsland sei, dass die Menschen hier nur auf Zeit willkommen sind.
Das ist kein Narrativ, das war die Politik.
Lloyd Axworthy: In Kanada ist das wie gesagt anders. Wir haben von Anfang an das Ziel, die Menschen zu Bürgern zu machen. Das ist ein positives Signal, das Deutschland auch aussenden sollte.
Durch seine geografische Lage ist Kanada kaum Ziel irregulärer Einwanderung – ganz anders als Deutschland.
Lloyd Axworthy: Was im letzten Jahr passiert ist, war ein Weckruf. Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, dass Menschen sich in großer Zahl auf den Weg machen. In den großen Flüchtlingslagern sollten deshalb Aufnahmezentren entstehen, um Menschen für die Resettlement Programme auszuwählen. Dafür müssen Ressourcen bereit gestellt werden. Aber die Vorteile liegen auf der Hand. Die Menschen sind nicht mehr auf Schlepper angewiesen. Den Menschen könnten Mentoren vermittelt bekommen, noch bevor sie einreisen. Das wichtigste aber sind ernsthafte Entwicklungsinvestitionen. Denn nur die führen dazu, dass die Menschen ihre Länder gar nicht erst verlassen müssen.
Erstveröffentlichung: Migration Online