Familientrennung bei Nacht

„Aber die lassen dich einfach nicht normal leben.“

Seit sieben Jahren lebten Sami Bekir und Azbije Kamberovik mit ihren acht Kindern in Deutschland. Nun wurde die schwerkranke Mutter mit den drei jüngsten Kindern abgeschoben. An dem Fall wird das Schicksal vieler Roma-Familien in Deutschland nach den Asylrechtsverschärfungen deutlich.

Vor drei Wochen waren alle noch beisammen in ihrer Wohnung im sächsischen Riesa: Sami Bekir, seine Frau Azbije Kamberovik, die acht Kinder. Am 25.5. um zwei Uhr nachts kam die Polizei. Sie nahmen die Frau mit, dazu die drei jüngsten Kinder zwischen zwei und sieben Jahren. Abschiebung nach Mazedonien. Von Riesa mit dem Auto nach Berlin, weiter mit dem Flugzeug – zuerst nach Wien, dann nach Skopje.

Sami Bekir wollte von den Beamten wissen, warum nur ein Teil der Familie abgeschoben werde. „Sie telefonierten kurz und sagten: Bekir, pack deine Sachen, um 13.30 Uhr nehmen wir dich und die anderen Kinder mit“. Später wird sich herausstellen: Die Fluggesellschaft Austrian Airlines wollte nicht die gesamte Familie auf einmal mitnehmen, deshalb die Aufteilung auf zwei Flüge.

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Jetzt sitzt Sami Bekir in einem Plastikstuhl, in seiner rechten Hand qualmt eine Zigarette. „Meine Frau hätte tot sein können“, sagt er. Er spricht ruhig und klar, nur sein rechtes Bein wippt konstant auf und ab. Sami Bekirs Blick ist starr, Selbstbewusstsein spricht aus den Augen des 37-Jährigen.

Folgen des Asylpakets II: Abschiebung trotz Krankheit

Seine Frau Azbije ist krank. Ihr Herz schlägt nicht richtig, mehrfach wurde sie deswegen operiert. Hinzu kommen Lähmungserscheinungen, Depressionen, seit einiger Zeit nimmt sie starke Psychopharmaka. Vor einem Jahr schluckte sie 80 Tabletten, um sich umzubringen. Danach lag sie zwei Wochen im Koma. In Mazedonien bekommt sie die Medikamente nicht mehr. Eine plötzliche Absetzung kann schwere psychische Auswirkungen haben.

Bei der Abschiebung bat Sami Bekir darum, seine Frau vor dem Flug zu einem Arzt zu bringen, um festzustellen, ob sie reisen kann. „Die Beamten sicherten mir das zu.“ Passiert ist nichts. Die für die Abschiebung zuständige Landesdirektion Sachsen weiß von keiner Zusage. Zudem habe sie vor der Abschiebung sichergestellt, dass „der Maßnahme keine gesundheitlichen Gründe im Wege stehen.“

Seit der Verabschiedung des Asylpakets II im März 2016 sind Krankheiten nur noch in schweren Fällen Abschiebehindernisse. Es gilt ganz grundsätzlich die Vermutung, „dass der Abschiebung keine gesundheitlichen Gründe entgegenstehen“. Krankheiten müssen Asylsuchende unverzüglich melden. Azbije Kamberoviks Krankheitsgeschichte wurde der Landesdirektion mehrfach mitgeteilt. Das bestätigt der Sächsische Flüchtlingsrat, der die Familie unterstützt.

Nun ist Azbije Kamberovik mit drei Kindern in einem Land, in dem sie zuletzt vor 16 Jahren gelebt hat. Ohne Geld, ohne Medikamente, ohne die andere Hälfte ihrer Familie. Vorübergehend ist sie bei der Familie ihres Schwagers untergekommen, dort teilen sich jetzt 13 Personen 20 m² – ohne fließendes Wasser und Toilette, der Strom kommt aus einer Autobatterie. „Sie haben meine Frau einfach auf die Straße gesetzt“, sagt Sami Bekir.

Der Fluch der Staatenlosigkeit

Azbije Kamberovik ist mazedonische Staatsbürgerin, Sami Bekir hat keine Staatsangehörigkeit. Sein Vater wurde beim Zerfall Jugoslawiens staatenlos, in der Folge auch all seine Kinder. Für Sami Bekir bedeutet das ein Leben in konstanter Illegalität: Keine Krankenversicherung, keine Sozialhilfe, keinen offiziellen Job. Nicht einmal die Ehe mit seiner Frau wird staatlich anerkannt. Für die Abschiebung ist die Staatsangehörigkeit nicht relevant – einzig das Zielland muss der Aufnahme zustimmen. Laut Landesdirektion war die ausstehende Zustimmung der Grund, weshalb die Familie erst jetzt abgeschoben wurde.

Heimat kann die Familie Mazedonien sowieso nicht nennen. 1999 zündete eine Gruppe einer albanischstämmigen Minderheit ihr Haus aus rassistischen Motiven an, zwei ihrer Kinder erlitten schwere Verbrennungen. Ein Jahr später verließen sie Mazedonien gen Bosnien. Von da an ging es hin und her. Waren sie in Bosnien, wurde Azbije Kamberovik nach Mazedonien zurückgeschoben. Waren sie in Mazedonien, wurde Sami Bekir aufgrund seiner Staatenlosigkeit ausgewiesen. In Bosnien beantragte die Familie schließlich Asyl und lebt zunächst in einem Flüchtlingscamp des UNHCR. Sami Bekir arbeitete, die Kinder gingen zur Schule. Nach neun Jahren sollte Azbije Kamberovik erneut abgeschoben werden. Da beschloss die Familie in Deutschland Asyl zu beantragen. Es war Mitte Juli 2009.

Ein Leben in der Duldung

Nach einem Jahr die Ablehnung: Offensichtlich unbegründet. Danach beantragte die Familie einen Aufenthalt aus humanitären Gründen und zog nach Riesa. Erneute Ablehnung, die Familie legte Widerspruch ein. Seit Ende 2011 liegt dieser Widerspruch beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Für die Familie bedeutet das seitdem: Duldung. Abschiebung jederzeit möglich. Fünf Jahre in ständiger Angst. „Das System hier hat meine Frau krank gemacht“, sagt Sami Bekir. Bevor sie nach Deutschland kam, habe sie keine psychischen Probleme gehabt.

Ein neuer Anwalt bemerkte im März 2016, dass der Widerspruch 2011 nie begründet wurde und reichte die Unterlagen nach. Die Hauptgründe: Sami Bekirs Staatenlosigkeit führt in der Praxis dazu, dass die Familie weder in Bosnien noch in Mazedonien zusammen leben kann, zusätzlich Azbije Kamberoviks Krankheit. Anfang Mai wurden Sami Bekirs Duldungspapiere auf dem Amt eingezogen. Der zuständige Beamte sagte, das sei kein Grund zur Sorge. „Er hat mich schlicht angelogen“, sagt Sami Bekir. Zwei Wochen später folgte die Abschiebung.

Sami Bekir verdient in Deutschland Geld mit wechselnden Jobs, die Kinder gehen zur Schule. Die jüngsten Kinder sind in Deutschland geboren, auch sie sind staatenlos. In Mazedonien kennen sie niemanden. „Mit einem solchen Vorgehen werden Biographien vernichtet“, sagt Patrick Irmer vom Sächsischen Flüchtlingsrat.

Mazedonien – „sicheres Herkunftsland“

Bekir engagiert sich auch politisch gegen Antiromaismus. Er erzählt vom Schicksal vieler Roma-Familien bei Filmvorführungen und Diskussionsveranstaltungen. Er will allen sagen, was ihnen hier widerfährt, aber auch, dass die Westbalkanländer für Roma keine sicheren Herkunftsländer sind.

Für Mazedonien gilt genau das aber seit September 2014. De facto bekommt von dort seitdem fast niemand mehr Asyl. Aus den zwei Rückführungszentren in Bayern ist noch kein Antrag positiv beschieden worden. Auch in Sachsen steigt die Zahl der Abschiebungen. Allein 2016 waren es bis Ende Mai 1.643 – so viele wie im gesamten Vorjahr. Viele sind Roma aus den Balkanländern. Einige sind seit Kurzem da, andere seit vielen Jahren wie die Familie von Sami Bekir und Azbije Kamberovik.

Ein Denkmal für Roma – gesperrt für Roma

20 Roma-Familien und Unterstützer besetzten deshalb Ende Mai in Berlin unweit des Reichstags das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma um für ihr Bleiberecht zu protestieren. Um zwei Uhr nachts räumte die Polizei. Das Denkmal sei ein „Ort des Gedenkens und der Trauer“, politische Veranstaltungen verboten.

„Wir waren mit vollem Respekt vor unseren Verstorbenen da“, sagt Kenan Emini, Aktivist und Filmemacher. „Deutschland hat aus den Gräueln des Nationalsozialismus nicht gelernt, darauf wollten wir an diesem Ort aufmerksam machen.“ Beim Völkermord an den Sinti und Roma im Nationalsozialismus – dem Porajmos – sind bis zu 500.000 Menschen getötet worden.

Anfang Juni setzten die Roma ihren Protest vor dem Mahnmal fort, die Polizei hinderte sie erneut am Betreten. Aus Angst vor Abschiebung haben sich viele Protestierende zurückgezogen. Trotzdem wollen sie weiter demonstrieren und mit Politikern verhandeln: „Langjährige Geduldete müssen einen Aufenthalt hier in Deutschland kriegen, die Asylanträge in einem fairen Verfahren geprüft werden“, sagt Kenan Emini. Ein Anliegen, das auch Patrick Irmer vom Sächsischen Flüchtlingsrat teilt. „Deutschland müsste sagen: Wir haben aus der Geschichte gelernt, die Diskriminierung von Roma muss ein Ende haben. Dazu hat es das wirtschaftliche und politische Gewicht.“

Sami Bekir hat Widerspruch gegen die Abschiebungen eingelegt. Über den 30-seitigen Antrag inklusive 50 Anlagen entschied das Verwaltungsgericht Dresden innerhalb von einem Tag – negativ. Nun will er vor der nächsten Instanz erreichen, dass zumindest die 30-monatige Wiedereinreisesperre seiner Frau aufgehoben wird. Sonst bleiben sie vorerst getrennt. „Ich habe ein komplettes Leben gehabt hier“, sagt Bekir und zieht an seiner Zigarette. „Aber die lassen dich einfach nicht normal leben.“