Muslime

Mehr Spiritualität und weniger Politik bitte

Vertreter islamischer Religionsgemeinschaften agieren häufig wie Politiker. Das wird der „Sache“ aber nicht gerecht. Was Muslime brauchen, sind geistliche und spirituelle Personen und Gelehrte, die Richtungsweiser sein können in einem theologischen und spirituellen Sinne. Von Cemil Şahinöz

In Diskussionen über den Islam fällt sofort auf, dass es oft um politische Themen geht. Selbst wenn sozialwissenschaftliche Themen auf der Agenda stehen, drehen sich die Diskussionen um meist um Integration oder Migration. Und selbst dann ist die Semantik eine politische. Weiterhin fällt auf, dass muslimische Gemeinschaften eher auf Themen und Diskussionen reagieren, als eigene Diskurse in Gang zu setzen. Meist passiert etwas, woraufhin eine Reaktion folgt. So sitzt man, um es in der politischen Sprache auszudrücken, immer auf dem Oppositionsstuhl.

Auch wenn viele dieser Themen wichtig sind, bleibt der Kern des Islams immer im Schatten. Letztendlich ist der Islam eine Religion und keine politische Ideologie. Daher ist es wichtig, dass die Glaubenswahrheiten des Islams, seine Theologie und seine Spiritualität in den Vordergrund treten. Bisher kommen diese viel zu kurz. Seit Jahren hört man nichts mehr davon – außer im Ramadan, den man dieser Tage begeht. Ansonsten tritt der Islam meist als eine politische Kraft in Erscheinung. Das macht den Islam aber nicht aus und das kann auch nicht im Sinne der Muslime sein.

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Viele Vertreter der muslimischen Gemeinschaften agieren wie Verwaltungskräfte oder Politiker, von denen es aber genug gibt. Es ist natürlich klar, dass man in Moscheevereinen Geistliche (Imame) und Vorstandsvorsitzende unterscheidet. Letztere sind keine Gelehrten. Trotzdem bedeutet das nicht, dass sie einer politische Funktion nachtrachten müssen und dass die Gelehrten in den Diskussionen gar nicht zur Sprache kommen sollen.

Eren Güvercin formuliert dieses Phänomen präzise: „Funktionäre sind Politiker, das liegt in der Natur der Sache. Wir brauchen aber kein Politiksprech von muslimischen Verbandsfunktionären. Das bekommen wir von den politischen Parteien schon genug zu hören. Wir brauchen Akteure, die in der Lage sind, Positionen zu formulieren, die auf der islamischen Denktradition und Lehre basieren. Wir brauchen muslimische Gelehrte und Intellektuelle, die, aus dem Islam heraus argumentierend, zu aktuellen Fragen Stellung beziehen. Inhaltsleere Aussagen wie ‚Das hat nichts mit dem Islam zu tun‘ oder das freiwillige Anlegen eines politisch korrekten Korsetts helfen nicht dabei, Ressentiments und Vorurteile zu mindern, sondern stärken sie erst recht. […] Man hört oft, dass die muslimischen Verbände sogenannte Gelehrtenräte konsultieren. Gesehen oder gelesen hat man von ihnen bisher nichts.“

So nutzen viele Vertreter der Muslime auf der Bühne selbst eine politische Sprache. Im schlimmsten Fall wird dann auf politischer Ebene versucht, argumentativ religiöse Phänomene zu beschreiben. Dies kann selbstverständlich nicht gelingen und ist zum Scheitern verurteilt. Denn Religion und Politik sind unterschiedlich, ausdifferenzierte Systeme mit unterschiedlichen Regeln und Sprachen.

Zudem erhärtet sich diese Problematik durch sogenannte Berufsmuslime, die beruflich bedingt in die Rolle eines Islamexperten schlüpfen, jedoch gar keinen oder geringen Bezug im Privatleben zur immensen Spiritualität des Islams oder zur muslimischen Community haben. So hat das „Gesagte“ der Berufsmuslime in der sozialen Realität der Muslime keinen Bezug und findet auch keinen Einklang.

Kafka sagte einmal „Ich übertreibe, damit man mich versteht.“ Um es daher einmal zu „übertrieben“ – jedoch für die oben genannte Kategorie des Berufsmuslims mit Wahrscheinlichkeit ohne jegliche Bedeutung: Der Berufsmuslim wird nicht für das – im Islam so wichtige – rituelle Gebet in einer vermeintlich wichtigen Sitzung eine Pause einlegen. Dieses für ihn „verschiebbare“ oder gar aufhebbare Gebet ist aber umso wichtiger für die Hunderttausenden Muslime, die er ja zu vertreten in Anspruch nimmt. Wie also für die Muslime sprechen ohne diesen religiösen und spirituellen Charakter, was den Islam ausmacht, zu verinnerlichen?

Mitten im alltäglichen Gefecht der politischen Redewendungen und ständigen sozialen Umwälzungen ist auch die religiöseste Person davor nicht geschützt, seine spirituelle Kraft durch die Verweltlichung zu verlieren. Manche nehmen diesen Verlust vielleicht auch bewusst in Kauf, bzw. tauschen sie aus gegen bestimmte Statusrollen. Doch genau diese Kraft ist notwendig, vor allem im Zeitalter der großen Krisen in der Gesellschaft.

Was fehlt sind also ganz klar die geistlichen und spirituellen Personen und Gelehrten in der muslimischen Community in Deutschland und sogar in ganz Europa. Personen, die durch einen theologischen und spirituellen Blickwinkel, das bisher nicht beachtet wurde, Richtungsweiser sein können. Menschen, die sich vom alltäglichen politischen Schlagabtausch abwenden und die Sprache des Herzens, des Gewissens und der Liebe sprechen lassen.

Diese Menschen haben die Kraft und das Wort zu einen, statt zu spalten. Ihre Worte kommen vom Herzen und finden Einklang in der Gesamtgesellschaft. Sowohl Individuen, die auf der Suche nach innerem Frieden sind, als auch eine Gesellschaft, die nach Lösungen für große Krisen sucht, können durch diese Stimmen erreicht werden. In der Geschichte gibt es hierfür reichlich Belege.

So muss auch die muslimische Community in Deutschland diese Stimmen, die es doch mit Sicherheit gibt, in den Diskussionen hörbar machen. Es müssen Mechanismen geschaffen und Methoden entwickeln werden, diese in Diskurse miteinzubeziehen.