Bashar Suradi: Herr Gysi, was denken Sie darüber, dass Flüchtlinge nach Deutschland kommen?
Gregor Gysi: Vor neuen Kulturen und auch anderen Religionen habe ich keine Angst. Im Gegenteil ich empfinde sie als Bereicherung. Außerdem müssen Sie eins wissen, jedes Jahr sterben mehr Deutsche als geboren werden. Wir sind sowieso darauf angewiesen, dass Menschen aus anderen Ländern zu uns kommen.
Flüchtlinge in Deutschland müssen sich zuerst beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge melden. Wissen Sie, wie das BAMF genau arbeitet?
Gregor Gysi: Das weiß nicht einmal das Bundesamt! Das BAMF steht ja vor völlig neuen Herausforderungen und sie lernen erst damit umzugehen. Der Herr Weise ist eigentlich keine schlechte Besetzung als BAMF-Chef. Aber da er zugleich noch die Bundesagentur für Arbeit leitet, scheint mir das eine Überforderung zu sein.
Viele meiner Freunde mussten in Berlin zuerst vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) schlafen. Ich wartete dort einige Tage. Wie haben Sie sich als Parlamentarier für Berlin dabei gefühlt?
Gregor Gysi: Also, die Situation ist so: In ganz Deutschland ist der Öffentliche Dienst abgebaut worden. Man ging immer davon aus, man müsse Geld sparen und so viele Beamte und so viele Angestellte seien gar nicht erforderlich. Nun ist uns das schwer auf die Füße gefallen. Wir haben in U-Bahnen und Bussen Überfälle. Da werden Leute zusammengeschlagen. Die Kameras, die da sind, die kommen ja nicht runter, um zu helfen. Das braucht Personal und das fehlt. Wir haben auch dieses Landesamt so unzureichend besetzt, dass es nicht in der Lage war, seine Aufgaben zu erfüllen. Und jetzt fehlen dem Land und den Kommunen die Gelder, um genügend Leute einzustellen. Eigentlich sind die Flüchtlinge sogar eine Chance, dass der ärmere Teil der deutschen Bevölkerung wieder richtige Jobs kriegt, die fair bezahlt werden. Dann wäre das auch aus Sicht der Ärmeren ein Gewinn.
Waren Sie selbst am LaGESo? Was haben Sie als Berliner Parlamentarier getan?
Gregor Gysi: Ich habe an den Regierenden Bürgermeister und an das Amt selbst geschrieben. Ich habe an das Bundesamt geschrieben und ich habe mit dem Bundesinnenminister darüber gesprochen. Aber ich bin nicht direkt hingefahren, weil ich wusste, dass ich den Leuten dort nicht helfen kann. Ich kann sie ja nicht unterbringen. Und deshalb habe ich das vermieden. Aber ich habe mir natürlich die Bilder angesehen.
Zuerst habe ich im Hostel, später im Flüchtlingsheim gewohnt. Jetzt suche ich eine Wohnung und finde keine. Selbst Deutsche finden keine. Was tut das Parlament?
Gregor Gysi: Naja, leider hört die Regierung nicht auf mich. Wenn sie auf mich hörte, würden wir Folgendes machen: Im Augenblick kostet Geld kein Geld. Man kann sich Darlehen ohne Zinsen nehmen. Wir könnten Steuergerechtigkeit herstellen. Außerdem haben wir auch Reserven. Wir müssen investieren. Wir müssen investieren in Infrastruktur, wir müssen in Bildung investieren, wir müssen in sozialen Wohnungsbau investieren, wir müssen eben deutlich mehr Lehrerinnen und Lehrer einstellen. Und wenn wir in den sozialen Wohnungsbau investierten, nutzte das den Flüchtlingen und auch dem ärmeren Teil unserer Bevölkerung. Seit Jahren sagen ich und andere, dass wir sozialen Wohnungsbau verstärkt brauchen, dass wir mehr Lehrerinnen und Lehrer brauchen. Die Regierung hat das immer abgelehnt. Durch die Flüchtlinge hat sie es jetzt erkannt. Insofern bin ich den Flüchtlingen dankbar, dass sie meiner Regierung zu einer Erkenntnis verholfen haben, die ich ihr nicht vermitteln konnte.
Ich arbeite als Freiwilliger für einen Verein in Kreuzberg. Am Kottbusser Tor sah ich viele schlimme Sachen: Dealer aus arabischen Ländern, viele Betrunkene, junge Leute aus Marokko, die Leute belästigen. Was kann ein Berliner Abgeordneter dagegen tun?
Gregor Gysi: Erstens: Wenn Flüchtlinge Straftaten begehen, dann müssen sie genau so konsequent verfolgt werden wie Deutsche, die Straftaten begehen. Da mache ich gar keinen Unterschied. Zweitens brauchen wir eine andere Form von Integration. Wenn man den Menschen verbietet zu arbeiten, wenn man sie in Parallelgesellschaften schickt, wenn man sie ghettoisiert, dann werden solche Verhaltensweisen immer üblicher. In Notunterkünften entstehen Aggressionen. Es gibt ja kein Privatleben.
Wie soll Deutschland Flüchtlinge integrieren?
Gregor Gysi: Erstens müssen Flüchtlinge die Chance bekommen, so schnell wie möglich die deutsche Sprache zu erlernen. Zweitens müssen die Qualifikationen der Flüchtlinge so schnell wie möglich anerkannt werden. Außerdem müssen sie weitere Qualifikationsangebote bekommen, damit sie dann so schnell wie möglich auf dem Arbeitsmarkt integriert werden können. Wenn es keine Integration auf dem Arbeitsmarkt gibt, dann gibt es auch keine Integration. Dann muss als Drittes eine Ghettoisierung verhindert werden. Flüchtlinge müssen an verschiedenen Stellen untergebracht werden. Und dann kommt das Vierte: Ich möchte, dass die Flüchtlinge mit den Werten unseres Grundgesetzes vertraut gemacht werden.
Ich sage Ihnen mal ein Bespiel. Da kommt ein Flüchtling aus Saudi Arabien. Der ist so aufgewachsen, dass seine Mutter nicht einmal halb so viele Rechte hat wie sein Vater. Dass die Mutter nicht Auto fahren darf. Dass sie ohne Genehmigung seines Vaters nicht ins Ausland fahren darf. Und er ist aufgewachsen in dem Bewusstsein, dass Homosexualität eines der schwersten Verbrechen ist, deshalb wird es mit dem Tode bestraft. Bei uns gelten ganz andere Werte. Wir haben die Gleichstellung der Geschlechter. Die Frau hat die gleichen Rechte wie der Mann. Zweitens stehen wir kurz davor zu genehmigen, dass homosexuelle Männer und Frauen heiraten dürfen. Ergo müssen wir doch diesem jungen Mann aus Saudi Arabien unsere Werte erklären.
Deshalb sage ich, wir brauchen einen neuen Beruf, den Beruf des Integrationslehrers. Integrationslehrer müssen Deutschkenntnisse, berufliche Qualifikationen, die Werte des Grundgesetzes beherrschen und vermitteln. Sie müssen wissen, aus welchem Land der Flüchtling kommt. Dazu muss der Lehrer oder die Lehrerin wissen, was dort für Bedingungen herrschen. Sie müssten auch Fremdsprachen sprechen, so dass sie dann wirklich in der Lage sind, diese Integrationshilfe zu geben. Sie sollen in den Flüchtlingsheimen und auch an anderen Stellen arbeiten können.
Haben Sie selbst Erfahrungen mit Flüchtlingen in ihrer Familie?
Gregor Gysi: Ja, selbstverständlich. Während der Nazidiktatur in Deutschland zwischen 1933 und 1945 mussten Angehörige von mir fliehen. Ich bin Ländern sehr dankbar, dass sie überhaupt die Chance hatten, dorthin zu fliehen. Und sie haben die Spielregeln des Landes, in das sie geflohen sind, immer akzeptiert. Das ist auch wichtig. Wenn ich in ein Land fliehe, dann muss ich wissen, in welches Land ich fliehe und welche Regeln dort herrschen. Und die habe ich zu respektieren. Auch wenn ich sie nicht teile, ich habe sie zu respektieren. Und das haben sie gemacht.
Wenn Sie aus Deutschland flüchten müssten, welches Land wählen Sie?
Gregor Gysi: Das Problem ist ja, wenn ich flüchten müsste, dass ich mir das Land gar nicht aussuchen kann. Ich muss das Land nehmen, dass mich dann aufnimmt. An sich lebe ich ganz gern hier. Aber wenn ich flüchten müsste, würde ich versuchen ein Land zu finden, wo es vier Jahreszeiten gibt. Ich halte es kaum aus, wenn es nur Sommer oder nur Winter gibt. Ansonsten muss ich mich dort einbringen und die Spielregeln akzeptieren und sehen, dass ich eine Arbeit finde, die ich verrichten kann. Ich muss die Sprache des Landes lernen.
Und welches Land würden Sie wählen?
Gregor Gysi: In Europa gibt es schöne Länder. Ich bin gern in Italien. Ich bin gern in Spanien. Ich bin auch gern in Portugal. Ich bin auch gern in Frankreich … (Gregor Gysi nennt noch weitere europäische Länder, erwähnt Russland, die USA, Afrika und Asien, Ecuador, Bolivien …) Aber eigentlich will ich schon hierbleiben. Ich finde, die Deutschen haben mich als Strafe verdient! Ein bisschen Strafe muss sein!