Das Experiment

Muslime und Juden im Glaskasten

Tiere werden in einen Glaskasten gesetzt. Sie gehören vermeintlich unterschiedlichen Spezies an. Ein Forscherteam hält das Zusammentreffen mit einer Kamera fest: Werden sich die beiden nun zerfleischen? Oder doch überglücklich in die Arme fallen? Wie geht das „Experiment“ aus? Hannah Tzuberi über ein Video, das in sozialen Netzwerken bereits hunderttausendfach angesehen wurde.

Die Spezieszugehörigkeit beider Tiere ist ganz leicht zu erkennen: Das eine Tier hat eine Kippa auf dem Kopf, es heißt „der Jude“. Das Forscherteam nimmt die Perspektive des Juden ein: Er ist das Individuum, das auf seinem Weg durch den Dschungel begleitet wird. Es ist eine Expedition des Menschen hin zu den Wilden, mitten rein in eine nicht näher differenzierte Masse von Barbaren: die Geflüchteten, die da hausen in der Mehrzweckhalle.

Mit erregter Spannung erwartet das Forscherteam den Ausgang des Experiments: Was wird passieren, wenn die Wilden das erste Mal in ihrem Leben einen Juden sehen? Ganz tief im Inneren weiß das Team natürlich: Nicht nur die Wilden, sondern auch die Forscher selber hatten in der Vergangenheit eher wenig mit Juden zu tun. Die unmittelbaren Vorfahren der Forscher nämlich löschten jüdisches Leben in ganz Europa aus. Als sie dann zum ersten Mal in ihrem Leben auf einen lebendigen Juden treffen, zittern daher vor allem sie selbst – nur gut, dass sie ihre Vergangenheit bewältigt haben, und „dem Juden“ so ganz ungezwungen gegenüber treten. So ungezwungen, dass sie ihn mitsamt seines Markenzeichens, der Kippa, in feindlicher Umgebung aussetzen, um dann mit Erregung festzustellen, dass der anti-Semitismus nun bei den Geflüchteten zu Hause ist. Welch Erleichterung!

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Die Geflüchteten selber drehen sich weg. Sie wollen am „Experiment“ nicht so richtig teilhaben, was schade ist, denn nur durch dieses Experiment können die Forscher erkennen, ob die Geflüchteten integriert werden können, in die zivilisierte Welt da draußen, jenseits der Mauern der Unterkunft: da, wo Antisemitismus allenthalben geächtet wird – wo es zwar auch kaum mehr Juden gibt, wo man ab und zu Mal die Beschneidung verbieten möchte, wo man die Sichtbarkeit nicht-protestantischer Religiosität mit dem Verweis auf die eigene Neutralität kriminalisiert. Wo man Juden vor allem dann wirklich sehr, sehr gerne hat, wenn sie sich zur Bestätigung des eigenen Selbstbildes benutzen lassen.

Yonatan Shay besucht das Flüchtlingscamp in Tempelhof

Geht ein Jude in eine Flüchtlingsunterkunft… Das Experiment.

Posted by DIE WELT Video on Sonntag, 24. Januar 2016

Nein, das ist keine Relativierung von Antisemitismus. Es ist auch nicht der Versuch, ein real existierendes Problem kleinzureden, unter den Tisch zu kehren, oder zu verharmlosen. Es ist ganz einfach ein Hinweis darauf, dass wirklich niemandem damit geholfen ist, wenn Juden und Muslime wie Versuchskaninchen in eine Glasbox gesetzt werden, um ihre Feindschaft und/oder Freundschaft vor deutschen Kameras zu demonstrieren.

Denn Antisemitismus ist kein mystisches Spaghettimonster, das sich wahlweise auf verschiedene Bevölkerungsgruppen setzt, dort sein Unheil anrichtet, und dann weiterfliegt, um sich ein neues Zuhause zu suchen. Antisemitismus ist, in diversen Ausformungen und Facetten, ein Bestandteil des christlichen Abendlandes, und wenn jetzt zur „Antisemitismus-Prävention“ Flüchtlingsunterkünfte und Moscheen brennen, dann schützt der weiße Europäer nicht die hier lebenden Juden, sondern benutzt sie zur Legitimation seines eigenen Rassismus.