Bades Meinung

In der ‚Flüchtlingskrise‘ vom Kopf auf die Beine kommen.

Europa steht Kopf in der ‚Flüchtlingskrise‘. Es wird erst wieder vom Kopf auf die Beine kommen, wenn begriffen wird, dass es hier nicht nur um eine Krise der anderen, sondern auch um unsere eigene Krise geht. Von Klaus J. Bade

Die politische Diskussion um Handlungskonzepte in Deutschland, innerhalb der EU und gegenüber der Türkei als dem europäischen Haupttransitland für Flüchtlinge aus dem Nahen Osten torkelt zwischen zwei Polen:

Kontingente und Zäune

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Auf der einen Seite steht die Rede von ‚Kontingenten‘, die rasch zur Lieblingsfloskel des konzeptlos unter Handlungsdruck geratenen Bundesministeriums des Innern geworden ist, aber auch von CDU, SPD und Bündnis90/Grüne mitgetragen wird. 1 Dies wäre aus zwei Gründen eine nur scheinbare Ersatzlösung sowohl für eine nationale Aufnahmequote als auch für die von Vielen erwünschte und von der Bundeskanzlerin mit guten Gründen – noch – verweigerte Entscheidung über eine ‚Obergrenze‘:

1. Ein deutscher Alleingang mit einem nationalen ‚Kontingent‘ bliebe nur eine einseitige Selbstverpflichtung und kein Beitrag zu einer EU-Entscheidung über entsprechende ‚Kontingente‘ der übrigen Mitgliedsstaaten, die sich dann insgesamt zu einer Art ‚europäischem Kontingent‘ (von welcher globalen Gesamtheit?) addieren könnten; denn eine solche europäische Entscheidung wäre nach dem konträren derzeitigen Stand der Verhandlungspositionen wohl ebenso wenig erreichbar wie diejenige über die bislang nicht zu vereinbarenden und nicht einmal in einem Notprogramm (40.000 / 160.000) umsetzbaren Verteilungsquoten.

2. Ein ‚Kontingent‘ wäre eine asylrechtlich nicht funktionierende semantische Tarnkappe für eine ‚Obergrenze‘; denn jenseits aller begrüßenswerten Kontingentverfahren, die Flüchtlingen legale Zugangswege ohne Selbstgefährdung eröffnen würden, müsste „der individuelle Anspruch auf Zugang zu einem Asylverfahren für diejenigen, die außerhalb solcher Aufnahmeverfahren nach Deutschland kommen“ im Sinne des Grundgesetzes gewahrt bleiben. 2 Das aber könnte bedeuten, dass Asylverfahren in Deutschland jenseits von Kontingentzulassungen mit legalen Zugangswegen individuell – und damit im ursprünglichen Sinne des Grundgesetzes – nur mehr auf illegalem Weg über die deutschen Landesgrenzen erreichbar wären. Das aber könnte gleichbedeutend sein mit einer Art asylpolitischen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für ‚Schlepper‘.

Auf der anderen Seite stehen nationale und europäische politische Bankerotterklärungen in der ‚Flüchtlingskrise‘: einerseits in Gestalt von schwimmenden Sperriegeln mit beiläufiger Rettungsfunktionen vor Libyen sowie zwischen der Türkei und den griechischen Inseln Kos und Lesbos; andererseits in Gestalt des Baus von Sperrzäunen mit für die Flüchtlinge im heraufziehenden Winter lebensgefährlichen Rückstaueffekten auf der ‚Balkanroute‘. 3

Die EU sei „heillos überfordert mit der Flüchtlingskrise. Durch ihre Inkompetenz gefährdet sie sich selbst“, warnte Joschka Fischer, Bundesaußenminister in rot-grünen Zeiten: „Auf Dauer wird die Politik der Bevölkerung erklären müssen, dass es beides – hohe Wettbewerbsfähigkeit und soziale Sicherheit einerseits und keine Zuwanderung andererseits – nicht geben kann, sondern dass es sich hier um eine historische Entweder-oder-Frage handelt, die entschieden werden muss.“ 4

Je mehr sich Politik auf nationaler und europäischer Ebene anstelle transparenter Gestaltungskonzepte und Handlungsstrategien für eine gemeinsame Zukunft mit vordergründigen Schein- bzw. Ersatzaktivitäten blamiert, desto mehr werden sich auf nationaler Ebene und in Europa Anti-Parteien- und Anti-Politik-Affekte aufstauen. Sie könnten am Ende einen Dammbruch verursachen und damit parlamentarische Demokratie und Europäische Union insgesamt gefährden.

Auf nationaler Ebene verzeichnet die wie erwartet 5 vom euro-kritischen immer weiter ins europakritische und ‚islamkritische‘ Lager driftende ‚Alternative für Deutschland‘ nach Umfragen eine rasante Zuwachstendenz. Das ließ sie im November 2015 mit bundesweit 10,5 Prozent für einen Moment als drittstärkste Partei nach CDU/CSU und SPD erscheinen. Selbst die im Blick auf die Fünf-Prozent-Hürde schon totgesagte, nun im deutschen Osten emsig gegen „Asylschnorrer“ hetzende NPD erwacht dort zu neuem Leben jenseits dieser Hürde. Und der ‚Thüringen-Monitor‘, der in den letzten Jahren eine ständige Abnahme rechtsextremer Einstellungen dokumentierte, signalisiert eine Wende: Die Zahl rechtsextremer Einstellungen wuchs seit 2014 von 17% auf 24 %, das ist ein sprunghafter Anstieg, wie er zuletzt inmitten der Sarrazindebatte 2011 zu verzeichnen war. 6 Deutschland wirkt insgesamt gespalten zwischen einer kulturoptimistischen, menschenfreundlichen Willkommensbewegung mit rund 7 Millionen Aktiven und einem kulturpessimistischen, asylskeptischen Lager, an dessen Rändern rechtsextremistische, aber auch biedermännische menschenfeindliche Pyromanen toben, deren Leuchtfeuer die brennenden Dachstühle von Flüchtlingsheimen sind. 7

Im Süden und Osten der Europäischen Union reicht der Bogen der aggressiven Flüchtlings- und zunehmend auch Europakritik von der hasserfüllten Polemik rechtsradikaler italienischer Politiker gegen irregulär zugewanderte Flüchtlinge als „Schakale“, „Ratten“ und „Würmer“ über die Anti-Asyl-Agitation des ungarischen Populisten Orban und seiner Partei bis zu der nicht minder flüchtlingsfeindlichen und insbesondere ‚islamkritischen‘ Propaganda der neuen polnischen Regierung, die gefährlich zwischen verschämtem Rechtkonservatismus und offenem Faschismus schwankt.

Sie warnt vor „Parasiten und gefährlichen Krankheiten“, die angeblich von Flüchtlingen, die selber dagegen immun sind, eingeschleppt werden und verbindet das mit monströsen Monstermärchen: In Schweden gebe es in 54 Bezirken schon „keinerlei Kontrolle des Staates mehr“, weil dort „die Scharia verpflichtend“ sei, Schulen würden keine schwedischen Fahnen mehr zu hissen wagen, weil darauf ein Kreuz zu sehen sei. Und erst mal Italien: Dort würden sogar „Kirchen mitunter als Toiletten missbraucht“. Schuld an alledem sind angeblich die Flüchtlinge und die fehlende Abwehrbereitschaft gegen sie.

Im Westen und Norden Europas reicht die Front von der populistischen Konkurrenz zwischen Marine Le Pen (Front National) und Nicolas Sarkozy (UMP) in Frankreich um die unflätigsten xenophoben, auch anti-europäischen Argumente bis hin zu den asyl-, fremden- und europafeindlichen Rechtskonservativen in Dänemark und Schweden. 8 Europaweit wächst der Ruf nach Schließung der Grenzen gegen Flüchtlinge. 9

Die Willkommensbewegung als ‚Aufstand der Anständigen‘

Die Lage ist ernst. Die politische und gesellschaftliche Polarisierung in der Europäischen Union, in vielen ihrer Mitgliedsstaaten und auch in Deutschland wächst. Zeit ist nicht mehr zu verlieren.

Auf späte Erkenntnisprozesse des hier noch immer regierungsamtlich meinungsbildenden Bundesinnenministeriums zu warten, ist verlorene Zeit; denn hier dominiert weithin nach wie vor ein gesellschaftspolitischen Visionen ferner Rechtspositivismus. In den vorwiegend als Problemfelder betrachteten Bereichen Migration und Integration erschöpft er sich weitgehend in der Frage, was nach Maßgabe von Sicherheitspolitik und Gefahrenabwehr aufgrund welcher gesetzlichen Bestimmungen wie gestaltbar ist, getreu dem Amtsverständnis von Bundesinnenminister de Maizière: „Ich glaube, dass ein Tag dann gut zu Ende geht und wir dann gute Arbeit geleistet haben, wenn wir sagen können: Wir haben eine Aufgabe gelöst und dabei auch Vorschriften beachtet.“ 10

Die Reichweite ordnungspolitischer Rechtsklempnerei aber endet weit vor der unerbittlich anstehenden, in mancher Hinsicht geradewegs umgekehrten Frage: Was erscheint im Sinne von übergeordneten Perspektiven für die Zukunft der Einwanderungsgesellschaft im demographischen Wandel wichtig und was muss dazu an bestehenden Rechtsvorschriften geändert werden, die nicht wegen ihres schieren Bestandes heilig sind.

Umso nötiger ist deshalb eine Mobilmachung der aufgeklärten Bürgergesellschaften in Europa im Sinne eines „Aufstands der Anständigen“, von dem der seinerzeitige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) einmal sprach und den der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) unlängst in einen Wechselbezug zur Mobilisierung der staatlichen Dimension rückte: „Die ‚Zuständigen‘ müssen sich bewegen, damit die ‚Anständigen‘ besser anschließen können.“ 11

Der Publizist Robert Misik hat die hilfsbereite Willkommensbewegung jenseits ihres humanitären Engagements sehr treffend auch als eine „Art Aufstand“ beschrieben: „Die Zivilgesellschaft, die die Sache selbst in die Hand nahm (…), sie ‚hilft‘ nicht einfach nur, sie protestiert auch implizit. Es ist ein Protest, aber fast ohne Parolen, einer des Handelns. Es ist unübersehbar ein Protest gegen Regierungspolitik, die nur versucht, sich Flüchtlinge vom Hals zu halten, es ist auch ein Protest gegen ein Dublin-Regime, das nicht nur versucht, das ‚Problem‘ auf die europäischen Peripheriestaaten abzuwälzen, sondern das frierende, hungernde und im Extremfall ersaufende Flüchtlinge sogar wünscht, als Abschreckung für alle anderen, als Botschaft: bleibt, wo ihr seid.“ 12

Auf Seiten der Bürgergesellschaft gehören in den Zusammenhang dieser breiten Willkommensbewegung die Demonstrationen gegen fremden- und besonders flüchtlingsfeindliche Gruppierungen, die nichtstaatlichen und privaten Initiativen zum Schutz und zur Hilfe für Flüchtlinge und für Asylsuchende im Verfahren. 13

Dazu gehören auf See die privaten Rettungsinitiativen mit dem ‚Alarmphone‘ im Mittelmeer 14 und den dort kreuzenden zivilen Rettungsschiffen, zu denen sich bald das – im Gegensatz zu den anderen, derzeit in den Häfen liegenden, weil nicht winterfesten Schiffen – erste Schiff der neuen Initiative ‚SOS Mediterranee – Europäische Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger im Mittelmeer‘ unter dem Kommando des Hochseekapitäns und promovierten Frühneuzeithistorikers Klaus Vogel gesellen wird. 15

Dazu gehören aber auch der politikkritische Empörungssturm in den Sozialen Medien, die Mahnungen der Kirchen in Deutschland 16 und der weltweite Appell des mutigen, aus der nichtmarxistischen südamerikanischen Befreiungstheologie stammenden Papstes in seiner Enzyklika ‚Laudato Si‘. Auch öffentlich engagierte Gesellschaftswissenschaftler und Philosophen schweigen dazu nicht. „Es sind die Bürger“, hat zum Beispiel Jürgen Habermas in einer Politikkritik in anderem Zusammenhang geschrieben, „die in europäischen Schicksalsfragen das letzte Wort behalten müssen.“ 17

Das alles sollte Politik in Regierungsverantwortung unter Druck bringen, ihre immer deutlichere Blamage durch eklatantes Versagen vor den Geboten der Menschlichkeit zu begrenzen 18 – in den Worten von Bundespräsident Joachim Gauck: „Es widerspricht jeder Vorstellung von Menschenwürde, wenn Menschen auf der Flucht vor Gewalt und Verfolgung, auf der Suche nach einem würdigen Leben, abermals ihrer grundlegenden Rechte beraubt werden oder sogar ihr Leben verlieren.“ 19

Meine vor anderthalb Jahrzehnten erschienene europäische Migrationsgeschichte endete mit den Worten: „Solange das Pendant der Abwehr von Flüchtlingen aus der ‚Dritten Welt‘, die Bekämpfung der Fluchtursachen in den Ausgangsräumen, fehlt, bleibt diese Abwehr ein historischer Skandal, an dem künftige Generationen das Humanitätsverständnis Europas im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert bemessen werden.“ Daran hat sich bis heute nicht nur nichts geändert. Die Dimensionen sind vielmehr noch grauenhafter geworden. Sage später niemand wieder, er habe das alles nicht gewusst. 20

Viel Zeit ist unnötig vergeudet worden, aber es ist bekanntlich nie zu spät für eine Umkehr: Politik muss lernen, über die Grenzen von Legislaturperioden hinaus in langen Entwicklungslinien zu denken. Das gilt auch für Migrationsfragen und damit auch für den Umgang mit den aktuellen Fluchtwanderungen.

Kurskorrekturen ohne Kursverlust

Die drei Worte der Bundeskanzlerin Angela Merkel „Wir schaffen das“ waren vor dem Hintergrund einer akut drohenden Flüchtlingskatastrophe historisch wichtig und richtig. Was aber für den Moment richtig war, muss dies nicht auf Dauer bleiben; denn im Wanderungsgeschehen dominieren nicht Momente, sondern Prozesse, die sich eigendynamisch so verstärken können, dass diese Dynamik unter Umständen, im schlimmsten, möglichst zu vermeidenden Falle, ohne den Einsatz des staatlichen Gewaltmonopol nicht mehr kontrollierbar erscheint.

Wer das vermeiden will, muss friedlich, aber bestimmt und vor allem rechtzeitig handeln, spätestens dann, wenn sich eine transnationale Migrationsdynamik erkennbar und zunehmend der staatlichen Kontrolle zu entziehen beginnt. Gänzlich ‚beherrschbar‘ war Migration in Europa nie, wie die Jahrhunderte übergreifende Geschichte der Versuche staatlicher Migrationssteuerungen zeigt. 21 Kaum begrenzbar ist mitunter auch der Ansturm derer, die um ihr Leben laufen, die nicht zurückkehren können oder wollen und im Zweifelsfalle Barrieren mit ihren Körpern erdrücken. Das hat das Niederrennen von Polizeiketten an europäischen Grenzen mehrfach gezeigt. Es kommt also darauf an, vor, an und innerhalb der Grenzen das ‚in Grenzen‘ Mögliche zu tun, pragmatisch und aller Migrationsromantik fern:

Vor den Grenzen, insbesondere in den Ausgangsräumen der Wanderungen, geht es nicht um semi-militärische Sperrriegel und Staatsverträge, die die Menschen am Verlassen ihrer Heimat hindern oder den Transit auf ihrem Weg nach Europa blockieren sollen. Nötig sind vielmehr gewaltige Investitionen und unter Umständen auch friedensichernde – möglichst nicht militärische, sondern politische – Interventionen, die das Leben in den Ausgangsräumen wieder möglich und sinnvoll erscheinen lassen. Dabei ist, wie die Rede vom „Migrationsbuckel“ lehrt, zunächst mit paradoxen Wirkungen zu rechnen: In unter Auswanderungsdruck stehenden Regionen werden von außen kommende, in ihrer Verwendung nicht zweckgebundene Mittel oft zunächst zur Auswanderung eingesetzt, bis sich die Verhältnisse so gebessert haben, dass das Bleiben wieder sinnvoll erscheint. Das darf die Bereitschaft, zu helfen, nicht mindern. Wir müssen teilen lernen. Spenden heißt noch nicht teilen. 22

Den Ausgangsräumen gegenüber nötig ist die Eröffnung von legalen Zugangswegen für Arbeitswanderer und Einwanderer. Sie werden deswegen immer begrenzt sein, weil über solche Zulassungen ausschließlich die Interessen des Zu- bzw. Einwanderungslandes entscheiden. Über Chancen und ‚Grenzen‘ von Arbeits-und Einwanderung, von Flüchtlingsschutz im weiteren und Asylgewährung im engeren Sinne muss in den Ausgangsräumen von Migration und Flucht zureichend informiert werden.

Dafür könnten zum Beispiel die seit Jahren vergeblich geforderten Migrationsbeauftragten in deutschen Auslandsvertretungen hilfreich sein. Bloße Warnungen vor der Flucht nach Deutschland und Europa sind kein Ersatz dafür. Die Geschichte lehrt überdies, dass solche Warnungen von ihren Adressaten – ähnlich wie bei den Auswanderungswilligen und ‚Auswanderungsagenten‘ in der Geschichte der deutschen überseeischen Massenauswanderung des 19. Jahrhunderts – nicht selten sogar als hinterhältige regierungsamtliche Gegenpropaganda verstanden werden und damit zusätzliche Wanderungsanreize stimulieren können.

Weil Smartphone-Informationen heute schneller sind als Auswandererbriefe damals und weil die sozialen Medien ganz andere, weitreichendere und tiefgestaffeltere Informationsplattformen bieten, gibt es hier eine Fülle von kommunikativen Möglichkeiten. Sie sollten auch im Zeichen der sogenannten ‚Flüchtlingskrise‘ nicht vorwiegend zu Warnung und Abschreckung genutzt werden. 23

An und in den Grenzen muss wieder deutlich werden, dass für die Öffnung und Schließung von Staatsgrenzen, auch in humanitären Ausnahmesituationen, ausschließlich der Staat oder, wie im Falle der Europäischen Union, der entsprechende Staatenverbund, zuständig und verantwortlich ist. Andernfalls kann das legitime Schutzbedürfnis derjenigen, die in diesen Grenzen leben, strapaziert und das demokratische Staatsverständnis selbst von Feinden des liberal-demokratischen Rechts- und Wohlfahrtsstaats auf eine gefährliche Probe gestellt werden. Alarmierende Anfänge dazu sind in verschiedenen europäischen Staaten, auch in Deutschland, schon erkennbar.

Innerhalb der Grenzen selbst muss im gemeinsamen Interesse alles getan werden, was das Zusammenleben im sozialem Frieden und aktiver kultureller Akzeptanz. Grundlage dazu sind die Werte, die im Grundgesetz stehen, das deshalb in der politischen Bildung mehr Platz einnehmen sollte als ein paar Stunden im Sozialkundeunterricht.

Darüber hinaus gibt es auch demographisch-kulturellen Informations- und Orientierungsbedarf: In den Vereinigten Staaten wird um die Mitte des 21. Jahrhunderts die aus Europa stammende Mehrheit der Amerikaner in der Bevölkerungsstatistik – cum grano salis – unter die Marke von 50 Prozent gesunken und damit zur größten einheimischen Minderheit geworden sein, gefolgt von ‚Blacks‘ und ‚Hispanics‘. Europa ist auch auf diesem Weg. In Städten wie Amsterdam, London und Brüssel ist der bevölkerungsstatistische Wendepunkt schon erreicht. In Deutschland werden als erste Städte Frankfurt, Augsburg und Stuttgart folgen. 24 Das ist kein Grund zur Panik. Es sollte aber Anlass sein, darüber nachzudenken, ob nicht die Zeit für die gemeinsame Diskussion über für alle verständliche neue ‚Leitbilder‘ gekommen ist.

Leitbilder für die Einwanderungsgesellschaft

Entsprechende Denkanstöße von Wissenschaftlern und Publizisten liegen vor und sind auch von anderen Seiten schon aufgegriffen worden. 25 Das Grundgesetz bleibt auch dafür die Basis aller gesellschaftspolitischen Architektur. Nötig ist zunächst ein auf seinen Wertebezügen ruhendes zentrales Leitbild mit daraus ableitbaren Spielregeln für den alltäglichen Umgang miteinander in der sich eigendynamisch stets weiter ausdifferenzierenden Einwanderungsgesellschaft. Das kann man als eine neue solidarisch wirkende kollektive Identität umschreiben oder anheimelnder als eine gemeinsame, Zusammenhalt stiftende kulturelle Heimat, die die verschiedensten darunter liegenden kulturellen Heimaten (im Plural) überwölbt.

Hilfreich dazu sind einprägsame Formeln als Botschaften. Das war auch bei den ‚klassischen‘ Einwanderungsländern nicht anders: Die amerikanische Leitidee „Nation of Immigrants“ stammt nicht aus der Gründerzeit, sondern erst aus den 1960er Jahren. Und das kanadische Leitmotto „Unity within Diversity‘ fand erst in den 1980er/90er Jahren Verbreitung.

Die Vorbereitung des wieder verstärkt diskutierten Einwanderungsgesetzes könnte eine Plattform für die gemeinsame Erarbeitung eines solchen neuen Leitbildes für Deutschland bieten. Am Ende könnte dessen Aufnahme in die deutsche Verfassung stehen, die – weil im Vereinigungsprozess nicht vom ‚gesamtdeutschen Volk‘ angenommen/verabschiedet – noch immer provisorisch ‚Grundgesetz‘ heißt, obgleich die Bundesrepublik seit der deutschen Vereinigung kein Provisorium mehr ist. Das sollte Anlass sein, auch in Fragen der Migrationspolitik endlich ‚erwachsen‘ zu werden. Dazu gehört, Realitäten nicht in defensiver Erkenntnisverweigerung zu verdrängen und die Mühen der Ebene auszuhalten.

Nach außen gewendet: Wenn wir uns nicht um die Menschen der sogenannten Dritten oder Vierten Welt kümmern, dann kommen sie zu uns. Ein trotz aller Dramatik im globalen Vergleich noch durchaus überschaubares Beispiel dafür ist das, was in Deutschland und Europa heute ‚Flüchtlingskrise‘ heißt und doch in Wahrheit unsere eigene Krise ist. 26Vgl. Klaus J. Bade, „Und das ist wohl erst der Anfang…“, Interview (Georgios Chatzoudis) über Fluchtwanderungen und Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa, in: L.I.S.A. Das Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung, 13.10.2015; vgl. Harald Welzer, „Klimawandel wird Flüchtlingsströme verursachen“, Interview (Joachim Wille) über Flucht und Zuwanderung, in Frankfurter Rundschau online, 23.11.2015. Bleibt zu hoffen, dass Victor Hugos berühmtes Wort auch im Bick auf diese Erkenntnis gelten möge: Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.

  1. Robert Birnbaum/Hans Monath, Union, SPD und Grüne für ‚Kontingente‘, in: Der Tagesspiegel online, 24.11.2015; Der Begriff ‚Kontingentlösung‘ wird sehr verschieden interpretiert, in: Nürnberger Zeitung (dpa), 24. 11. 2015. Ein gleichermaßen vordergründiges Pendant auf nationaler Ebene ist der von Sachen-Anhalt ausgehende Versuch, die Weigerung der Kanzlerin, Obergrenzen für die Flüchtlingsaufnahme in Deutschland festzulegen, durch ‚Limits‘ auf Länderebene auszuhebeln – die sich am Ende logischerweise zu einer deutschen Obergrenze addieren würden , die dann vielleicht unter dem Tarnnamen als ‚Kontingent‘ firmieren könnte: „Entlastung erforderlich“. Gabriel plädiert in Asyl-Debatte für Kontingentlösung, in: SZ, 24.11.2015; Forderung nach Landeslimit: Sachsen-Anhalt will maximal 12.000 Flüchtlinge aufnehmen, in: Spiegel online, 24.11.2015.
  2. Hendrik Cremer, Stellungnahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte zur Debatte um „Obergrenzen“ beim Recht auf Asyl in Deutschland, Berlin 30.11.2015
  3. Rückstau auf der Balkanroute: Mehrere Länder lassen nur noch Syrer, Iraker und Afghanen einreisen, in: SZ, 24.11.2015; Norbert Mappes-Niediek, Der irrsinnige Zaun an der Grenze zu Österreich, in: Frankfurter Rundschau, 27.11.2015.
  4. Joschka Fischer, Europa muss sich entscheiden, in: SZ, 25.8.2015.
  5. Klaus J. Bade, Mit Fremdenfeindlichkeit nach Europa und zurück, in: Zeit Online, 30.11.2013.
  6. Frank Jansen, Rechtspopulismus und Neonazis: AfD und NPD im Aufwind, in: Tagesspiegel online, 17.11.2015; Erik Peter, Der neue Rechte, in: Die Tageszeitung, 23.11.2015; Der geteilte Himmel. Warum Pegida aus der Flüchtlingsfrage im Osten Kapital schlagen kann. Interview (Alex Rühle) mit dem Rechtsextremismusforscher David Begrich, in: SZ, 24.11.2015; Konrad Litschko, Die hässliche Trendwende, in: ebenda, 27.11.2015.
  7. Lena Kampf/Hans Leyendecker/Britta von der Heide, Die Mitte brennt. Rasend schnell breitet sich in Deutschland, wo es auch so viel Gutes gibt, der Fremdenhass aus, in: SZ, 30.11.2015; Ein Land in Flammen. Fast täglich gibt es Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Die Täter werden so gut wie nie gefasst. Sind Polizei und Justiz auf dem rechten Auge blind?, in: DIE ZEIT, 3.12.2015.
  8. Oliver Meiler, Von Schakalen, Ratten und Würmern, in: Süddeutsche Zeitung, 12.9.2015; „Bedrohung für die weiße Rasse“: Ostländer der Europäischen Union Flocken Flüchtlinge ab und gehen damit auf Konfrontation zu Brüssel und Berlin (dpa), in: Die Welt, 2.9.2015; Alexandra Mostyn, Totengräber der Samtenen Revolution: Präsident Milos Zeman nutzt den Jahrestag, um vor ausgesuchten Publikum gegen Flüchtlinge zu hetzen, in: Die Tageszeitung, 19.11.2015; Christian Wernicke, Valls: Europa muss Grenzen schließen, in: SZ, 25.11.2015; Gabriele Lesser, Medien in Polen sollen wieder polnisch werden: Die rechtsnationale Regierung will die Medien „repolonisieren“ – und beeinflussen, in: ebenda; Polen will keine Flüchtlinge mehr, in: ebenda, 27.11.2015; vgl Gabriele Lesser, Demokratie in Gefahr, in: ebenda, 5./6.12. 2015; Schweden macht Kehrtwende im Asylwesen, in: Neue Zürcher Zeitung, 27.11.2015; Rudolf Balmer, Frankreich: Mit der nationalen Eintracht ist es jetzt vorbei, in: Die Tageszeitung, 3.12.2015.
  9. „Spielen Sie die Sicherheitsfrage nicht herunter“. Interview (Daniel Brössler) mit dem EU-Ratspräsidenten Donald Tusk, in: Süddeutsche Zeitung, 3.12.2015; Eric Bonse, Flüchtlingspolitik: Die EU-Chefs verlässt der Mut. Ratspräsident Tusk fordert Kurswechsel von Deutschland, in: Die Tageszeitung, 5.12.2015; „Diese Flüchtlingswelle ist zu groß“. SZ-Interview mit dem EU-Ratspräsidenten Donald Tusk, in: Süddeutsche Zeitung, 13.12.2015.
  10. Rede des Bundesinnenministers anlässlich der 1. Lesung des Bundeshaushalts 2016 (Innen, EP 06), 08.09.2015; vgl. Issio Ehrich, Kritik am Innenminister: Ist de Maizière krisenfest?, in: n-tv.de, 17.9.2015.
  11. Forderung von Gerhard Schröder als Bundeskanzler in Reaktion auf den Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge am 2.10.2000 und als Ex-Bundeskanzler im Dezember 2014 als Antwort auf ‚Pegida‘; Anschlag auf Synagoge: Schröder fordert „Aufstand der Anständigen“, in: Der Spiegel, 4.10.2010; Schröder fordert „Aufstand der Anständigen“ gegen ‚Pegida‘, in: Die Zeit, 23.12.2014, Ministerpräsident Bodo Ramelow auf der Tagung (Die Linke im Bundestag) ‚Refugees welcome‘ in Berlin, 28.11.2015.
  12. Robert Misik, Der Aufstand der ‚freiwilligen Helfer‘. Warum die Flüchtlingshilfe keineswegs nur ‚karitativ‘ ist, in: prager frühling, 5. 11. 2015. Diesen Hinweis verdanke ich dem Einführungsvortrag von Dietmar Bartsch, MdB (Die Linke) auf der Konferenz ‚Refugees welcome‘ (Die Linke im Bundestag), Berlin, 28.11.2015.
  13. Vgl. hierzu u.v.a.: „Bei Flüchtlingsaufnahme gibt es keine Obergrenze“. Pro Asyl-Geschäftsführer Burkhardt über den Umgang mit Schutzsuchenden in der EU und richtige Willkommenskultur. Interview (Marcel Leubecher), in: Die Welt, 9.7.2015.
  14. Mareike Barmeyer, Die Grenzen wegdenken. ›Watch the Med‹ hat ein Notrufsystem für Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer organisiert, in: taz, 25.7.2015; Simon Sontowski, „Keine Lösung, aber eine notwendige Intervention“. Das Watch The Med Alarmphone, in: movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung, 1. 2015
  15. Hierzu: www.SOSMEDITERRANEE.org; facebook.com/SOSMEDITERRANEE; vgl. Selber retten. Warum der Schiffskapitän Klaus Vogel eine zivile europäische Seenotrettung für das Mittelmeer gründet, in: Tagesspiegel, 1.6.2015; Martin Klingst, Wo Tritons Hilfsbereitschaft aufhört, in: ZEIT online, 11.5.2015.
  16. Erinnert sei hier an das Ökumenische Wort der Christlichen Kirchen in Deutschland, zu dem ich als Berater der evangelischen Seite die migrationshistorischen und gesellschaftspolitischen Kerntexte „Geschichtliche Erfahrungen und Einsichten in Deutschland“ entworfen habe: „… und der Fremdling, der in deinen Toren ist“. Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht (Gemeinsame Texte der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nr. 12), Bonn/Frankfurt a.M./Hannover 1997, S. 9–30.
  17. Jürgen Habermas, Sand im Getriebe. Nicht Banken, sondern Bürger müssen über Europa entscheiden, in: SZ, 23.6.2015.
  18. Belege dafür finden sich zunehmend, besonders bei der Regierungspartei SPD, vgl. SPD fordert EU-Asyl für Hunderttausende, in: Die Welt, 1.6.2015; Syrien: Gabriel will Flüchtlinge mit Fähren nach Europa holen, in: ZEIT online, 4.6.2015.
  19. Bundespräsident Joachim Gauck im Zusammenhang seiner Forderung nach mehr Einsatz für Flüchtlinge beim Empfang für den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Berlin im Mai 2015, zit. nach: Gauck: Flüchtlingen helfen, in: SZ, 23.5.2015.
  20. Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000, S. 452; vgl. ders., Migration und Integration in Deutschland – Pragmatismus und Hysterie, in: Rüdiger Runge/Ellen Ueberschär (Hg.), 33. Deutscher Evangelischer Kirchentag, Dresden 1.–5.6.2011, Gütersloh 2011, S. 80–113, hier S. 113.
  21. Hierzu zuletzt: Jochen Oltmer (Hg.), Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, Berlin 2015; vgl. Bade u.a. (Hg.), Enzyklopädie Migration; unter globaler Perspektive: Dirk Hoerder, Cultures in Contact. World Migrations in the Second Millennium, Durham 2002; Immanuel Ness (Hg.), The Encyclopedia of Global Human Migrations, 5 Bde., Malden, MA 2013; Überblick: Jochen Oltmer, Globale Migration. Geschichte und Gegenwart, München 2012.
  22. Elinor Ostrom/Silke Helfrich, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, München 2011; zuletzt hierzu: Reiner Metzger, Teilen, die andere Ökonomie. Sharing könnte eine Alternative zum Eigentum sein – tatsächlich verschafft es dem Kapitalismus neue Märkte, in: Le Monde diplomatique, Atlas der Globalisierung. Weniger wird mehr, Berlin 1915, S. 146-149.
  23. Matthias Meisner, Warnung vor ‚Wirtschaftsasyl‘ in Deutschland, in: Tagesspiegel online, 25.6.2015; Bund rät via Facebook von Asylgesuchen ab, in: Die Welt, 12.8.2015; Thomas Brey, Video soll alle Träume von Deutschland zerstören. BMI will mit einem tristen Kurzfilm Einwanderer vom Balkan abschrecken, in: Nürnberger Zeitung, 17.8.2015; Stefan Aust, Friede, Freundschaft, Eierkuchen: 2014 ließ das BAMF einen Werbefilm für das Asylverfahren drehen. Ein neuer Clip dient der Abschreckung, in: Die Welt, 31.8.2015; Kabul: Plakate warnen Afghanen vor Flucht nach Deutschland, in: Spiegel online, 15.11.2015
  24. Jens Schneider/Maurice Crul/ Frans Lelie, Generation Mix. Die superdiverse Zukunft unserer Städte – und was wir daraus machen, Münster 2015.
  25. Hierzu und zum Folgenden: Klaus J. Bade, Das Ende der Ersatzdebatten: von negativer Integration zu neuer Identität in der Einwanderungsgesellschaft, in: ders., Kritik und Gewalt. Sarrazin-Debatte, ›Islamkritik‹ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft, Schwalbach/Ts. 2013 (3. überarb. Aufl. als e-book 2014), S. 365-374; Naika Foroutan, Neue Deutsche, Postmigranten und Bindungs-Identitäten. Wer gehört zum neuen Deutschland?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 46-47/2010, S. 9-15; dies., Wir brauchen ein neues Leitbild. Spiegel-Gespräch (Frank Hornig/Maximilian Popp), in: Der Spiegel, 10.10.2015; dies., Ein neues Leitbild für Deutschland. Pluralität als gesellschaftliche Aufgabe für die Zukunft, in: Reschke (Hg.), Und das ist erst der Anfang. Deutschland und die Flüchtlinge, Hamburg 2015, S. 283-293; Esra Kücük (Junge Islamkonferenz), Denkfabrik Zukunft Deutschland. Ein Projektvorschlag in Kooperation mit der Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration, Ms. Berlin 2014; Fabio Ghelli, Migrationsforscher fordern neues Leitbild für Deutschland, in: Mediendienst Integration, 5.1.2015; Farhad Dilmaghani, Für ein anderes Grundgesetz: „Vielfalt und gleichberechtigte Teilhabe“ sollten in der Verfassung verankert werden, in: SZ 12.10.2015; Armin Nassehi, Wir müssen reden. Über das Fremde spricht es sich viel leichter als über das Eigene. Das sollte nicht so bleiben, in: SZ, 21./22.11.2015; Beispiele aus Politik und Verbänden: Renate Künast, Das deutsche ›Wir‹ neu definieren, in: FAZ, 5.2.2015; Willkommen in Deutschland! Die Zukunft der Einwanderungsgesellschaft. Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung und Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin, 8.6.2015.