Gedankengänge

Meine ersten Stunden mit dem Pariser Terroranschlag

Als ich von den Terroranschlägen in Paris erfahre, sind schon mehr als zwölf Stunden vergangen. Meine ersten Stunden danach sind geprägt von Sprachlosigkeit, Wut, Verwirrung und einem inneren Konflikt.

Es ist wieder passiert. Terroristen haben in Paris an mehreren Orten gleichzeitig ein Blutbad angerichtet. 127 Menschen wurden ermordet und noch mehr verletzt. Von einem gezielten und organisierten Terroranschlag ist die Rede. Die Hintergründe der Tat sind noch offen. Die Bestürzung ist groß und weltweit.

Das sind die ersten Informationen, die ich über diesen grausamen Abend lese. Es ist schon der Morgen danach. Nach solchen Schreckensmeldungen kreisen sich meine Gedanken normalerweise immer um dieselben Fragen: Wer war es und aus welchen Motiven? Und jedes mal hoffe ich insgeheim, dass es keine „Islamisten“ waren. Ich weiß, dass es keinen deut besser wäre, wenn die Täter andere Motive hätten. Dieser unbegründeten Hoffnung kann ich mich trotzdem nicht entziehen.

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Diesmal ist es anders. Ich schalte die Nachrichten aus und gehe zum Fenster. Ich brauche einige Minuten, um meine Gedanken und meine Gefühle zu sortieren. „Bestimmt waren es wieder irgendwelche verkappten Idioten, die in ihrer kranken Vorstellung im Namen des Islam unterwegs waren. Jetzt geht’s wieder los. Ein gefundenes Fressen für die Rechtspopulisten. Die werden das ausschlachten“, denke ich mir „und noch mehr Angst schüren gegen Muslime, gegen Flüchtlinge…“. Meine Gedanken springen Hin und Her zwischen dem, was uns erwartet und den Opfern. Unschuldige Zivilisten. „Das wird uns viele Wochen beschäftigen“, geht mir durch den Kopf.

Ich nehme mein Handy. Rufe meine Mails ab, öffne Facebook und Twitter. Es ist voll mit #ParisAttacks. Die ersten Scharfmacher sind auch schon unterwegs. Paris ändere alles – auch die Flüchtlingspolitik. Bundeskanzlerin Merkel werde ihre Politik nicht aufrecht halten können, schlagzeilen schon die ersten Medien. Manchen Arschlöchern sieht man ihre Freude über diesen Anschlag förmlich an. Sie schmücken ihre geschmacklosen Kommentare sogar mit Smileys.

Eigentlich, denke ich mir, müssten wir den Flüchtlingen jetzt doch viel näher sein. Eigentlich müssten wir doch jetzt am besten nachempfinden können, wovor diese Menschen flüchten. Eigentlich müssten wir sie jetzt doch erst Recht aufnehmen bei uns, ihnen helfen und Schutz gewähren, Empathie entwickeln. Eigentlich. Ich weiß, dass diese Gedanken nicht mehrheitsfähig sind – pardoxerweise nicht nach einem solchen Anschlag.

Eine Journalistin twittert, wo denn die ganzen Muslime sind. Sie echauffiert sich darüber, dass sich noch keine einzige islamische Religionsgemeinschaft zu den Anschlägen geäußert hat. Ihr Tweet hat sehr viele Herzchen bekommen. Offenbar gefällt das den Leuten. Ich würde ihr gerne schreiben, das ich schon beim Abrufen meiner Mails vier Pressemitteilungen von großen islamischen Religionsgemeinschaften überflogen habe. Ich lasse es.

Ich könnte vielen dieser Social-Media-Besserwissern meine Wut entgegenschleudern, sie fertigmachen, ihre Dummheit entblößen. Ich beschließe aber, an diesem Tag sprachlos zu bleiben. Ich finde ohnehin keine Worte für meine Gedanken, für mein Unbehagen, für meine Verwirrung.

Bin ich jetzt Paris oder Frankreich, wie viele auf ihren Profilbildern jetzt zeigen? Ich empfinde wahrscheinlich nicht anders wie Millionen andere auch. Also ja, je suis Paris. Aber hätte ich dann in den vergangenen Wochen und Monaten nicht schon X-Mal Beirut oder Syrien, Ankara oder Afghanistan sein müssen? Sind dort nicht auch Zivilisten gestorben? Waren es nicht die gleichen Täter mit vermutlich ähnlichen Motiven? Ich werde meinen inneren Konflikt nicht los. Ich komme mir verlogen vor – ein sehr unangenehmer Gedanke. Dass ich mich davon ablenken möchte, macht es nur noch schlimmer.