Nordafrikanische Flüchtlingskrise

Einfallslosigkeit und Zynismus der EU-Politik

Um die Zahlen der Flüchtenden zu verringern, sucht Europa nach einer neuen Nordafrikapolitik. Vor einem Jahr begann der „Khartum-Prozess“. Damit sollen die Rechte und die Sicherheit von Flüchtlingen gestärkt werden – auf dem Papier. In der Praxis wird Staatsmacht unterstützt. Von Paul Simon

Als vor zwei Wochen Angela Merkel bei Anne Will saß, um mit der Nation mal ganz in Ruhe die Flüchtlingssituation zu besprechen, schien sie in einigen Momenten mit den Gedanken schon ganz weit weg. Als die Kanzlerin gefragt wurde, was das denn für ein Deutschland sei, zu dem wir uns jetzt gerade entwickeln, sprach sie nicht von kultureller Vielfalt oder demografischer Verjüngung. Sie sprach stattdessen von Außenpolitik: „Wir werden ein Deutschland sein, dass sich mehr in der Außenpolitik engagiert, ein Deutschland, dass mehr für Entwicklungshilfe ausgibt.“ In Zukunft würden Außen- und Innenpolitik nicht mehr voneinander zu trennen sein. Besonders im Mittleren Osten, besonders in Syrien dürfe Deutschland nicht länger tatenlos zusehen, sondern müsse sich mehr engagieren, um Fluchtursachen zu bekämpfen.

Wie dieses verstärkte außenpolitische Engagement abseits von Entwicklungshilfe konkret aussehen würde, ließ Merkel dabei unausgesprochen – vielleicht auch, weil sie weiß, wie unpopulär in Deutschland vor allem ein militärisches Engagement im Nahen Osten nach wie vor ist. Wenige Wochen zuvor hatte Wolfgang Ischinger, der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, dem wie immer diese Rolle zu fiel, eine deutsche Beteiligung an den Militäreinsatzen in Syrien ins Gespräch gebracht. Doch in der Regierung will man diese Diskussion zur Zeit offenbar nicht.

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Schließlich ist schon die deutsche Offensive in der Türkei kontrovers genug. Angesichts der Verschärfung der dortigen innenpolitischen Lage zeugt die Annäherung an Erdoğan so kurz vor den Wahlen deutlich von den Prioritäten unserer Regierung: Kritik an der türkischen Regierung wird plötzlich sehr leise, wenn man auf ihre Zusammenarbeit bei der Abriegelung der östlichen EU-Grenze angewiesen ist.

Der Nahe Osten ist allerdings nicht die einzige Region, der gegenüber Europa angesichts der Flüchtlingszahlen seine Politik neu ausrichtet. Die große Mehrheit der Flüchtlinge kommt zwar im Moment über die Türkei und Griechenland, aber die Südmittelmeerroute – aus Libyen nach Italien oder Malta – hat keinesfalls an Bedeutung verloren. Der UNHCR zu Folge erreichten dieses Jahr allein bis August fast 120.000 Menschen auf diesem Weg Europa. Die meisten von ihnen stammen aus dem subsaharischen Afrika, vor allem aus Eritrea (23%), Nigeria (13%) und Somalia (8%).

Vor Jahren hat deshalb die EU schon beschlossen, seine Nordafrikapolitik neu auszurichten. Im Oktober 2014 begann der „Khartum-Prozess“, in dem sich die EU mit Eritrea, Äthiopien, Somalia, Südsudan, Sudan, Dschibuti, Kenia, Ägypten und Tunesien zur besseren Kontrolle und Regelung der nordafrikanischen Migration abstimmt. Die EU unterstützt diese Staaten durch Entwicklungshilfe sowie gezielt mit Projekten, welche die Situation von Flüchtlingen in Lagern oder auf der Reise in Nordafrika verbessern sollen: Von der Versorgung somalischer Kriegsflüchtlinge in Kenia bis hin zu Berufsausbildungsprogrammen für junge Eritreer in Äthiopien und der Forderung nach stärkerem rechtlichen Schutz von Migranten. Es geht darum, die Rechte und die Sicherheit von Flüchtlingen zu stärken – auch mit dem Ziel, ihnen den Anreiz für die lebensgefährliche Reise nach Europa zu nehmen, indem man ihr Elend lindert.

Im Vordergrund steht deshalb vor allem auch die engere Zusammenarbeit bei der polizeilichen Bekämpfung illegaler Migrationswege, die Verfolgung von Schleppern und die bessere Koordination und Ausbildung der nordafrikanischen Polizei. Als Gegenstück zur Verschärfung der europäischen Polizeiaktionen gegen Schlepper in den internationalen Gewässern des Mittelmeeres ab Oktober, versucht man so die Staaten Nordafrikas selbst zum stärkeren Grenzschutz anzuhalten.

Zu diesem Zweck wurde etwa an der Polizeischule Kairo unter europäischer Beteiligung ein Trainingszentrum für die Mitgliedsstaaten des Khartum-Prozesses eingerichtet. Ebenso ist schon in der Absichtserklärung vom Oktober 2014, ohne konkret zu werden, von der Möglichkeit des Einrichtens von „reception centers“ in den teilnehmenden Ländern Nordafrikas die Rede. In diesen „Centern“ sollen Flüchtlinge ihre Asylanträge stellen können – lange schon ein Ziel derer, die den Strom der Flüchtlinge nach Europa begrenzen möchten.

Von Anfang an ist der Khartum-Prozess als eine restriktive Maßnahme kritisiert worden, bei der es vor allem darum geht, die Zahlen der Flüchtlinge in Europa durch bessere polizeiliche Grenzsicherung in Nordafrika zu vermindern. Dabei wird eine Stärkung diktatorischer Regimes etwa im Südsudan oder Eritrea in Kauf genommen.

Das Internetportal statewatch.org veröffentlichte eine Erklärung eines Treffens des „Steering Committees“ des Khartum-Prozesses in Sharm el Sheikh vom April diesen Jahres. Darin ist von der „Stärkung der menschlichen und institutionellen Kapazitäten“ der Polizeikräfte in Eritrea und dem Südsudan die Rede. Wie diese Stärkung konkret aussehen soll und wie viel Geld von der EU an welche Stellen genau fließen wird, bleibt offen. Transparent ist dieser Prozess nicht, Informationen werden geheim gehalten. Vor Ort in Sharm el Sheikh war auch eine deutsche Gesandtschaft.

Eine Zusammenarbeit mit der Polizei aus diktatorischen Regimes in Afrika zwecks der Grenzsicherung ist dabei keineswegs eine neue Entwicklung. Vielmehr knüpft sie an die EU-Politik der vergangenen Jahre an und scheint besonders eine Fortsetzung der europäischen Zusammenarbeit mit Muammar al-Gaddafi zu sein, welche nur durch seinen Sturz im Jahre 2011 beendet worden ist.

Schon im Jahr 2000, lange vor den Tragödien vor Lampedusa, begann Italien seine Zusammenarbeit mit der libyschen Regierung. Diese war wegen ihrer Unterstützung des internationalen Terrorismus seit den 70er Jahren international geächtet, wollte sich im Zuge des „War on Terror“ allerdings als Verbündeter der USA neu erfinden und wieder diplomatische Beziehungen zur westlichen Welt knüpfen. Ab 2004 beteiligte sich auch die EU an dieser Partnerschaft, zunächst durch finanzielle Unterstützung beim Aufbau einer Grenzsicherungs- und Sicherheitsinfrastruktur, u.a. auch beim Bau von geschlossenen Lagern zur Festsetzung von Flüchtlingen.

Die neue Freundschaft mit dem libyschen Diktator ließ sich Italien einiges kosten. 2008 unterschrieben Italien und Libyen einen Freundschaftsvertrag, der die Beziehungen der beiden Länder endgültig neu regeln sollte. Zuvor hatte Berlusconi sich nicht nur in aller Form für die italienischen Kolonialverbrechen in Libyen entschuldigt, sondern auch ein gewaltiges Investitionsprogramm versprochen: 200 Millionen Euro jährlich wollte er in Libyen investieren. Im Gegenzug erhielten nicht nur italienische Ölkonzerne größeren Zugriff auf die libyschen Vorkommen, sondern auch die Kooperation bei der Grenzsicherung wurde vertieft. Italien kaufte der libyschen Grenzpolizei neue Patrouillenbote und eine moderne Radaranlage zum Schutz seiner südlichen Grenzen im Inland.

Human Rights Watch sprach von einem „schmutzigen Deal„, dessen Ziel letztlich in der Integration Libyens in das europäische Frontex-Grenzschutz-System bestand, mit dessen Schiffen die libysche Marine jahrelang gemeinsam im Mittelmeer patrouillierte. Ab 2009 ging man dann dazu über, Menschen, die im Mittelmeer aufgegriffen wurden, zurück nach Libyen zu zwingen, ohne ihren Anspruch auf Asyl zu prüfen. So gelang es zwar, die Zahl der Flüchtlinge, welche über Libyen Europa erreichten, drastisch zu reduzieren, aber nur um den Preis der de-facto Aufkündigung des Rechtes auf Asyl und der Delegation der hierzu notwendigen polizeilichen Maßnahmen an den Unrechtsstaat Libyen. In Libyen hatte es nie ein Asylrecht gegeben und es war nie der UN-Flüchtlingskonvention von 1951 beigetreten. Human Rights Watch berichtete von willkürlichen Verhaftungen von Migranten und brutalen Zuständen in den Haftlagern. Flüchtlinge etwa aus Somalia und Eritrea, denen in ihren Heimatländern Folter und Verfolgung drohten, waren nicht vor der Zwangsrückführung geschützt.

Wird sich diese Geschichte jetzt wiederholen? Geht es also beim Khartum-Prozess vor allem um die Stärkung brutaler Polizeiregime, die für uns die Flüchtlinge fern halten sollen? Ist die geplante Entwicklungshilfe an verbrecherische Staaten wie den Südsudan oder Eritrea auch eine verdeckte Bezahlung für diesen Dienst?

Obwohl für diese Lesart vieles spricht, ist die Situation doch komplexer und verfahrener. Führt man sich die Ausmaße der nordafrikanischen Flüchtlingskrise vor Augen, ist man dankbar, dass sich Europa, wenn auch erst jetzt, wo das Problem an der eigenen Haustür angekommen ist, sich mehr an der Lösung dieser sozialen Katastrophe beteiligen will, anstatt wie bisher die Aufgabe an die UNHCR zu delegieren, welche im letzten Jahr für die Region Nordafrika nur über ein Budget von 180 Millionen Euro verfügte. Jene Flüchtlinge nämlich, die in Europa angekommen schon ein Gefühl der Überlastung produzieren, stellen nur einen Bruchteil der Menschen dar, die in Afrika ihre Heimat verlassen mussten.

Allein in Libyen leben hunderttausende unter instabilen, gefährlichen Bedingungen. Kriege und Instabilität im Südsudan und in Somalia, in Mali und der Zentralafrikanischen Republik haben Millionen entwurzelt. Und während in Europa Ressourcen zur Verfügung stehen, um die Integration zu betreiben, können diese Fluchtbewegungen in den Ländern Afrikas leicht destabilisierend wirken. In Äthiopien, welches seine Grenzen gegenüber Flüchtlingen nicht abschließt, rechnet die UNHCR bis zum Ende des Jahres mit einer Flüchtlingsbevölkerung von insgesamt 822.00 Menschen – vor allem aus dem Südsudan und Somalia, aber auch aus Eritrea. Viele der eritreischen Flüchtlinge in Äthiopien sind minderjährig. Dank eines EU-Programmes erhalten einige von ihnen in den Lagern eine berufliche Ausbildung – auch das ist der Khartum-Prozess.

In Kenia werden zum Ende des Jahres 662.000 Flüchtlinge leben. Nach den schrecklichen Terroranschlägen der letzten Jahre durch somalische „Islam“isten, vor allem der al-Schabaab-Miliz, nimmt dort jedoch die Bereitschaft ab, vor allem somalische Flüchtlinge weiterhin aufzunehmen. Die EU unterstützt als Teil des Khartum-Prozesses zwar finanziell die Lagerinfrastruktur in Kenia, aber auch die Versuche der kenianischen Regierung, Flüchtlinge zurück nach Zentralsomalia zu überführen. Im Sudan leben momentan allein 125.530 eritreische Flüchtlinge – viel dramatischer ist aber noch die innere Flüchtlingssituation: Laut UNHCR sind über 2 Mio. Menschen innerhalb des Sudans vertrieben. In Südsudan sind es ca. 1,5 Millionen, von denen nur 500.000 Hilfe von der UNHCR erhalten.

Es steht zu hoffen, dass die Situation von Flüchtlingen in Afrika nicht länger als eine weit entfernte humanitäre Katastrophe empfunden wird, sondern dass sich Europa – und sei es aus der Motivation heraus, die Abwanderung nach Norden zu minimieren – beginnt, sich stärker konstruktiv in Afrika zu engagieren. Dabei ist es leicht, aus der sicheren Warte in Europa darüber die Nase zu rümpfen, dass unsere Regierungen – unzweifelbar auch mit dem Ziel der Einhegung der Flüchtlingszahlen – mit Polizeikräften zusammenarbeiten, die oft schlimmer Verbrechen an ihrer eigenen Bevölkerung schuldig sind. Bedenken muss man aber auch, dass eine funktionierende Polizei den einzigen Schutz für Opfer krimineller Schlepperbanden bedeuten kann und so einen Beitrag, wie im Khartum-Prozess intendiert, für humanitärere Migrationsbedingungen leisten könnte.

Gewalt gegenüber Migranten in Nordafrika geht nämlich oft nicht von Staaten aus, sondern von Schlepperbanden und anderen nichtstaatlichen Akteuren, denen die Flüchtlinge in den rechtlosen Räumen der Bürgerkriegsgebiete oft schutzlos ausgeliefert sind. Als „violent entrepreneurs“ profitieren sie vom Zusammenbruch staatlicher Strukturen. Beispiel Sinai: Seit der ägyptischen Revolution 2011 nahmen die Aktivitäten radikaler „Islam“isten auf der Halbinsel zu, es kam immer wieder zu Unruhen und Terroranschlägen. Unter dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung leiden vor allem Flüchtlinge aus Zentralafrika, besonders Eritrea. Hunderte wurden auf dem Weg nach Norden Opfer gewalttätiger Banden, die sie unter schrecklichen Bedingungen gefangen halten und foltern, um von ihren Angehörigen per Handy Lösegeld zu erpressen.

Besonders aber in Libyen sind seit dem Umsturz Gaddafis Hunderttausende Flüchtlinge kriminellen Banden schutzlos ausgeliefert. Nicht nur wegen der westlichen Verantwortung für das dort herrschende Chaos (aus der EU ist besonders Frankreich angesprochen), sondern auch weil wir lange Gaddafi zum Handlanger des europäischen Grenzregimes gemacht hatten, darf Europa dort nicht wegsehen.

Dabei ist es fast ironisch, dass selbst unter dem Diktator Gaddafi die Situation für Migranten noch sicherer war als sie es jetzt ist. Libyen war einmal ein Einwanderungsland: Relativ reich und offen für Menschen aus Afrika und sogar Asien, etwa Bangladesch. Fast drei Millionen Arbeitsmigranten lebten in Libyen unter strenger, oft brutaler staatlicher Kontrolle. Bedeutsamerweise war Gaddafi, der sich nach dem Scheitern seiner panarabischen Träume gerne als Vorkämpfer Afrikas darstellte, aber auch vielleicht der einzige arabische Machthaber, der sich jemals für die historische Schuld des Sklavenhandels entschuldigte. Seit seinem Tod hat sich die Situation vor allem für afrikanische Flüchtlinge dramatisch verschlechtert.

An die Stelle der Regierung sind verschiedene bewaffnete Gruppen gerückt, die sich auch über die Organisation und die Ausbeutung der Flüchtlingsbewegungen finanzieren. Seit Beginn des Bürgerkrieges versuchen selbst viele Libyer das Land zu verlassen, vor allem jedoch die ehemaligen Arbeitsmigranten und Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten weiter im Süden, aus Eritrea, aus dem Sudan, oder aus Somalia.

Aus den ehemaligen geschlossenen Lagern für Migranten, deren Bedingungen immer von Human Rights Watch kritisiert worden waren, sind heute oft Gefängnisse geworden, in denen Banden Flüchtlinge unter noch schlimmeren Bedingungen als Geiseln festhalten, bis diese sich irgendwie freikaufen können. Aus der ins nach Nordafrika ausgelagerten Migrationskontrolle ist die kriminell organisierte Migration geworden.

Aber auch der Rassismus gegenüber dunkelhäutigeren Afrikanern spielt eine große Rolle. Immer wieder lesen wir in europäischen Medien von dem Detail, dass zum Zeitpunkt des Aufstandes gegen Gaddafi viele Rebellen überzeugt waren, dass Schwarzafrikaner aus dem Süden als Söldner für das Regime arbeiteten und es deshalb zu Massakern an Afrikanern kam, die oft nur als Wanderarbeiter oder Flüchtlinge nach Libyen gekommen waren. Aber bedarf es dieser Erklärung überhaupt? Muss nicht auch daran erinnert werden, dass in den Haftenstädten Tripoli und Bengasi noch bis ins 19. Jahrhundert mit Sklaven gehandelt wurde? Besonders „islam“istische Milizen, die sich auf den „Islamischen Staat“ (IS) berufen, verfolgen Afrikaner, die oft dem christlichen Glauben anhängen, mit großem Hass. Im Frühjahr etwa veröffentlichte der IS Libyens ein Video, das die Exekution von mehreren Dutzend Christen aus Äthiopien und Eritrea zeigt. Solche Terroraktionen bilden den Hintergrund, vor dem Milizen Schutz- und Lösegeld von Flüchtlingen erpressen. Die Grenzen zwischen Kriminalität, Bürgerkrieg und religiös motiviertem Terror verschwimmen.

Seit Jahren ertrinken immer wieder Menschen auf der gefährlichen Reise über das Mittelmeer – das ist mittlerweile, langsam und unvollständig, ins europäische Bewusstsein getreten, obwohl die europäischen Rettungsaktionen immer noch hinter den Möglichkeiten weit zurück bleiben. Weniger bewusst sind wir uns allerdings der Tatsache, dass selbst der Weg bis zur Mittelmeerküste für viele lebensbedrohlich ist. Lange haben wir das „Management“ der Situation auf der anderen Seite des Mittelmeeres Unrechtsstaaten wie Libyen überlassen und ansonsten weggeschaut. Jetzt, da dies nicht länger möglich ist, sind wir umso mehr in der Verantwortung.

Eine Stärkung polizeilicher Kräfte zur Bekämpfung organisierter Schlepperkriminalität ist angesichts dieser Situation zwar ein verständlicher Schritt, aber wird dem Problem offensichtlich nicht gerecht, gerade in Libyen, wo es kaum staatliche Autorität gibt, mit der man kooperieren könnte. Verlässt man für einen Moment die Perspektive der „Festung Europa“, dann wird klar, dass das eigentliche Problem nicht darin besteht, dass noch so viele Menschen nach Europa gelangen, sondern dass so viele von ihnen auf dem Weg zu uns sterben.

Die Verbesserung der Lebensbedingungen für Flüchtlinge in den Lagern Nord- und Zentralafrikas, um ihnen dort eine Perspektive zu bieten, ist deshalb ein wichtiger Teil der neuen europäischen Afrikapolitik. Mehr noch als syrische Bürgerkriegsflüchtlinge bräuchten aber die Eritreer, Somalis oder Sudanesen legale Wege, um ins europäische Asyl zu gelangen, Wege, die ihnen die lebensgefährliche Reise durch Libyen oder über den Sinai ersparen könnten. Diese Möglichkeit wird im Moment jedoch nicht einmal mehr diskutiert, obwohl sie zum Beispiel noch im September letzten Jahres vom EU-Kommissar für Migrationsfragen, Dimitris Avramopoulos, in Gespräch gebracht worden war. Er forderte, dass europäische Botschaften in Afrika berechtigt werden sollen, direkt Asylanträge entgegen zu nehmen. Es hätte viele Menschenleben gerettet.