Immigrierte Chefs

Wann wird der Gast zum Gastgeber, wann werden aus Flüchtlingen deutsche Bürger?

Wer ist Einwanderer und wer ist Gast? Um diese Frage dürckt sich die Politik seit Jahren herum. Dabei ist die Antwort elementar wichtig für Organisation des Landes. Wir sollten nicht den gleichen Fehler machen wie zu Zeiten der sogenannten „Gast“-Arbeiter. Von Tobias Busch

Die Flüchtlingssituation in Europa entwickelt sich dramatisch. Die Einzelstaaten agieren vollständig unkoordiniert, teilweise schlicht egoistisch und ohne jede partnerschaftliche Abstimmung. Zu den vielen Fehlern der letzten Jahre kommen täglich neue hinzu. Die akute Situation gerät trotz der Hilfsbereitschaft von Tausenden außer Kontrolle und die Deutschen sorgen sich über die mittelfristige Entwicklung, wenn sich schon die Gegenwart derart chaotisch darstellt.

Aber schon heute hat jedes zweite in Deutschland geborene Kind einen Immigrationshintergrund. Wenn die Deutschen sich sorgen, wer sorgt sich da eigentlich? Da gibt es einmal die rechtlich formale Antwort: Mit der Einbürgerung kommen ein deutscher Pass, das uneingeschränkte Wahlrecht und staatsbürgerliche Pflichten oder was davon übrig ist – die Wehrpflicht ist ja abgeschafft.

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Es gibt aber auch eine „gefühlte“ Seite des Themas; viele eingewanderte Menschen fühlen sich als Deutsche mit ausländischen Wurzeln, andere aber auch nach vielen Jahren eher als langjährige Gäste und wieder andere können die Frage nicht beantworten, weil sie sich als staatsbürgerliche Zwitter empfinden.

Die Ausfälle von Herrn Pirinçci, der im Alter von zehn Jahren mit seinen Eltern eingewandert ist und behauptet, Deutschland zu lieben, es aber trotzdem als „Scheißland“ bezeichnet, sind ein eher abstruses Beispiel. Hier fühlt sich ein Mann mit „Immigrationshintergrund“ wohl definitiv als Deutscher und dadurch legitimiert, gegen Ausländer und Muslime zu hetzen. Es gibt aber auch umgekehrt Menschen, die hier seit über 30 Jahren leben, zum Teil mit deutschem Pass, und die „die Deutschen“ und deren Deutschsein als etwas empfinden, das mit ihnen wenig zu tun hat.

Wahrscheinlich können sich die meisten Menschen darauf einigen, dass sich unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit Gäste in ihrem Gastland etwas Zurückhaltung auferlegen sollten, wenn es um negative Bewertungen geht. Dagegen haben diejenigen, die sich ihrer neuen Heimat zugehörig fühlen, in vollem Umfang auch das moralische Recht, ihre Meinung kund zu tun (im gesetzlichen Rahmen selbstverständlich). Unabhängig davon, ob sie einen Immigrationshintergrund haben und wie kritisch ihre Meinung ist.

Das führt unmittelbar zu der Frage, um die sich unsere Politik seit Jahren herumdrückt: die Unterscheidung von Einwanderern und Gästen. Das fing mit den „Gastarbeitern“ an, die per Definition keine Einwanderer sein sollten. Heute sprechen die Realitätsverweigerer gerne von „Wirtschaftsflüchtlingen“, die es auszusondern gelte. Solange die nach Deutschland strömenden Menschen nicht die Pflicht und die Option haben, sich zwischen einem Einwanderungsantrag und einer Bitte um politisches Asyl zu entscheiden, wird es bei einem hunderttausendfachen Missbrauch des Asylrechtes bleiben und das Recht auf politisches Asyl wird in seiner heutigen Form über kurz oder lang verschwinden, weil es diesen Missbrauch nicht aushalten kann.

Das Problem werden weder Zäune noch Transitzonen lösen. Menschen, die wegen Perspektivlosigkeit auswandern, haben – außer im Falle extremster Armut und Hunger – eine andere Motivation als solche, die um ihre Freiheit oder ihr Leben fürchten. Für sie ist die Auswanderungsentscheidung Ergebnis einer Abwägung zwischen Alternativen; sie bräuchten rechtzeitig Informationen zur Entscheidungsvorbereitung und Einschätzung ihrer Chancen, bevor sie sich auf einen Weg machen, auf dem man oft nicht umkehren kann.

Wer hier herkommt, weil er zu Hause verfolgt war, wird die Freiheiten der westlichen Gesellschaftsordnungen zu schätzen wissen. Er mag die allgegenwärtige Kommerzialisierung des Leben, den Genuss von Alkohol oder manches andere befremdlich, vielleicht sogar abstoßend finden. Er wird aber verstehen, dass die Grenzen der Freiheit schwer zu definieren sind und nicht im Belieben des Einzelnen stehen können. Diese Menschen müssen die Möglichkeit bekommen, sich über Deutschland zu informieren. Sie werden sich dann überwiegend für die Dauer ihres Aufenthaltes mit den hiesigen Gegebenheiten abfinden und sich bemühen, das Gastrecht nicht unangemessen zu strapazieren.

Wer einreist, weil er lieber hier leben möchte als in seiner Heimat oder in dem – meist deprimierenden – Provisiorium, in das er sich zuvor geflüchtet hat, ist in einer anderen Situation. Diese Menschen sind sich bewusst, dass die gewünschte neue Heimat Leistungserwartungen an sie stellt sowie die Kenntnis und Akzeptanz ihrer Gebräuche und Gesetze erwartet. Das Gerede von der Leitkultur ist in meinen Augen völlig irreführend. Es geht nicht um Anpassung, sondern um Lernen und Verstehen. Viele Immigranten erlernen die hiesige Kultur ohne ihr bisherige zu verlernen. Sie sind bi-kulturell und kommen auf diese Weise mit den Veränderungen gut zurecht. Wenn man diesen Ansatz unterstützt statt eine –unmögliche- Veränderung der individuellen Wertvorstellungen einzufordern, löst sich viel Konfliktpotential auf.

Es ist in diesen Tagen viel von Integration die Rede. Von der Notwendigkeit, den Flüchtlingen eine Integration in das hiesige Leben zu ermöglichen. Immerhin ist das ein positiver Aspekt des aktuellen Fiaskos: Es wird Aufmerksamkeit und Bewusstsein geschaffen. Einer breiteren Öffentlichkeit ist inzwischen klar, dass die Neuankömmlinge überwiegend den Wunsch haben, möglichst schnell etwas beizutragen; dass es meist nicht an gutem Willen mangelt, sondern Regeln und faktische Hindernisse im Wege stehen. Dass uns nach Jahrzehnten der Einwanderung zum Teil elementare Voraussetzungen fehlen, zeigt einfach nur, dass wir die Dinge haben laufen lassen. Monate- und jahrelange Asylverfahren haben nur die Betroffenen und die Bearbeiter aufgeregt, Hunderttausende von Hauptschülern ohne berufliche Perspektive waren das Problem der Lehrer.

Verkürzte Verfahren, Transitzonen, schnelle Abschiebung und was immer sonst uns administrativ noch einfällt werden nichts daran ändern, dass Deutschland – seit langer Zeit – ein Einwanderungsland ist und sich entsprechend organisieren muss. Man wüsste gerne, wie lange die deutsche Politik noch braucht, um das einzugestehen und die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen – von den Regularien bis zu den Investitionen in Auswahl und Integration. Ganz schnell werden die ersten asylberechtigten Flüchtlinge des Jahres 2015 die Frage stellen, unter welchen Voraussetzungen sie einwandern dürfen. Es wäre fair und sinnvoll, wir wären dann auf diese Frage vorbereitet.