In einer Flüchtlingsklasse

Wenn Männer weinen (und lachen)

Heute hat mir Ali Reza ein Foto seines blutüberströmten Bruders gezeigt. Eigentlich wollte ich gerade in die Pause gehen und mir etwas zu essen kaufen, aber natürlich bleibe ich hier. Im letzten Juni ist der Bruder Opfer eines Terroranschlages durch die Taliban geworden. Zum Glück hat er überlebt, aber er hat ein Auge verloren und ein paar Zähne, und er wird nicht mehr laufen können – ein Lehrer berichtet von seinen Erfahrungen aus dem Unterricht mit Flüchtlinglingen.

Zusammengesunken sitzt Ali Reza 1, der Junge mit den Karohemden und der gepflegten Frisur, neben mir. Ich frage ihn, wie es seiner Familie geht. Er antwortet, dass seine Schwester verheiratet ist und dass er schon seit zwei Monaten keinen Kontakt zu seiner Familie hat. Nicht immer bin ich mir sicher, ob er versteht, was ich sage, und ob ich ihn richtig verstehe. Was sollte ich tun (außer ihm die Hand auf die Schulter zu legen vielleicht)?

Ich stehe auf und laufe zur Tafel. „Manchmal ist das Leben sehr schwer“, sage ich. Was ist das, das Leben? Ich male ein Baby an die Tafel, einen erwachsenen Mann, einen alten Mann mit Krückstock und verbinde die drei Zeichnungen mit einem Pfeil. „Zendegi?“, fragt mich Ali Reza. Ich kann zwar ein bisschen Persisch, aber es ist ziemlich eingerostet. Ich sage einfach mal ja. Ali Reza nickt bedächtig und nimmt seinen Block zur Hand, um den Satz aufzuschreiben.

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Jamal meldet sich. „Me“, sagt er und legt seine Hand auf die Brust, „Me Leben viele, viele schwer.“ „Ja“, sage ich, „dein Leben ist auch sehr schwer. – Mein Leben ist sehr schwer“, korrigiere ich ihn und wiederhole seine Geste. „Schreiben?“, bittet er mich und deutet an die Tafel. Ich schreibe den richtigen Satz an die Tafel und er schreibt ihn ab. Jamal wurde von seinen eigenen Onkeln gefoltert.

Darf ich vorstellen? Meine Alphabetisierungsflüchtlingsklasse – sechs unbegleitete Flüchtlinge zwischen 16 und 17, vier aus Afghanistan, zwei aus Eritrea, und ich, ihr Deutschlehrer. Wir sind eine reine Männerrunde. Alle außer mir haben zwischen vier und 16 Monate Flucht hinter sich. Manche sind in ihrem Heimatland zur Schule gegangen, manche haben stattdessen im Supermarkt oder in einer Fabrik gearbeitet. Die deutsche Schrift können sie anfangs alle nicht.

Wieder einmal steht der Akkusativ auf dem Programm. Ich möchte ein Brot, ich möchte eine Banane. „Ich möchte Kuss“, ruft einer in die Klasse. Alle lachen. Die Lehrerpersönlichkeit erkennt sofort die grammatikalische Gelegenheit, die sich hier bietet. „Ich möchte einen Kuss. Mit -en am Ende.“ Nun zückt natürlich jeder sein Notizheft, um den Satz aufzuschreiben. Einen Kuss möchte schließlich jeder – und alle sind sich dessen gewahr, dass die richtige Grammatik die Kusschancen noch einmal mächtig steigert. „In Deutschland das sagen zu Frau in Straße, Problem?“, erkundigt sich Abraham.

Ich antworte ihm, dass es in den wenigsten Fällen eine gute Idee ist, eine unbekannte Frau auf der Straße mit „Ich möchte einen Kuss“ zu begrüßen. „Oh, nicht gut“, lacht Abraham, „Warten nicht gut. Schnell.“ Nun frage ich ihn, wie schnell man in Eritrea von einer Frau einen Kuss bekommt. „Nicht schnell“, antwortet Abraham zerknirscht und schaut traurig zu Boden. Jamal meldet sich. „In Afghanistan, das sagen Frau in Straße… – “ Er tut so, als würde er sich mit dem Finger den Hals durchschneiden. Abraham lacht herzlich: „Oh, Afghanistan, das crazy!“ Alle lachen.

Traumata zeigen sich auf vielfältige Weise. Manche der Jungs haben immer wieder Kopfschmerzen, manche Bauchschmerzen, manche beides. An manchen Tagen will einfach kein neuer Stoff in den Kopf – was natürlich nicht immer das Resultat eines Traumas sein muss. Höhere Lehrerkunst ist: einen Jungen, der während des Unterrichts seine Partynacht ausschläft, von dem zu unterscheiden, der wegen seiner Sorgen und schrecklichen Erinnerungen nachts kein Auge zubekommt. Eine Kollegin meint: „Wer schläft, fühlt sich sicher. “ Na, dann. Schlaft. Danke für das Kompliment.

Abiel ist ein besonders krasser Fall. Während die anderen nach zwei Monaten Deutschkurs schon eine ganze Menge Dinge sagen und schreiben können, kann er noch immer nicht alle Buchstaben. Wahrscheinlich eine starke Lernschwäche – oder doch ein Trauma? Nicht einfach herauszufinden, wenn man keine gemeinsame Sprache hat. Abiel wartet seit Monaten darauf, dahingehend getestet zu werden – was auch vorerst so bleiben wird, da sich die zuständigen Ämter nicht einigen können, wer diesen Test bezahlen wird.

An einem anderen Tag weigert sich Farid, ein Puzzle mit einer Büroklammer zusammenzustecken, obwohl es direkt vor ihm liegt. „Ich müde. Ich viele Problem mit Familie. Du keine Problem.“ Ich bin sprachlos. „Ich habe auch Probleme“, ist meine wenig originelle Erwiderung. Die Afghanen beginnen zu lachen: „Farid viele, viele Problem mit Frau. Frau kaputt.“ Doch ein Teenagerproblem also?

Plötzlich bedeckt Jamal seine Augen mit einer Hand. Warum heißt es der Bus, aber die S-Bahn? Und wiederum der Zug? Jamal blickt nicht mehr durch, ihn ergreift die pure Panik. Er zieht seine Mütze tief über sein Gesicht, legt seinen Kopf auf den Tisch und bleibt minutenlang so liegen. „Jamal“, rufe ich, „was ist los?“ Jamal wird bald 18. Er hat Angst, es nicht rechtzeitig vor seinem Geburtstag auf die Berufsschule zu schaffen und deswegen abgeschoben zu werden.

Eine nicht unbegründete Angst: Zwar habe ich in meinem Umfeld noch von keinem unbegleiteten Flüchtling gehört, der abgeschoben wurde. Jedoch genießen nur die unter 18-Jährigen den größten rechtlichen Schutz. Der Gesetzgeber möchte im Falle einer Abschiebung sichergestellt haben, dass der abgeschobene Flüchtling in seinem Herkunftsland von seiner Familie oder einem Vormund in Empfang genommen wird. Dies lässt sich in den meisten Fällen natürlich nicht sicherstellen. Mit dem 18. Geburtstag jedoch werden die Karten rechtlich neu gemischt.

Die Angst vor dem Ungewissen, so unwahrscheinlich die negativen Folgen auch sein mögen, verbindet alle Flüchtlinge in der Klasse. An einem Wochenende demonstriert ein lokaler Pegida-Schwund-Ableger auch in unserer Stadt. Polizei und Gegendemonstranten sind trotzdem jede Menge da – was am Ende auch die Flüchtlinge erfahren: „Am Wochenende viele, viele Polizei. Warum?“, fragen sie mich. „Öhm-“, antworte ich. „In Deutschland viele Person sagen: Afghanistan gehen Afghanistan?“ Was soll ich antworten? Ja?

Jamal bekommt ein Arbeitsblatt. Nach wenigen Minuten zerreißt er es, weil er es nicht bearbeiten kann – zugleich natürlich ein Frontalangriff auf die Lehrerautorität, die das Arbeitsblatt noch bis spätabends erstellt hat. Die Lehrerautorität wird (irgendwie) wieder hergestellt. Jamal entschuldigt sich. Der Schultag geht vorüber und die letzten zehn Minuten der Hausaufgabenvorbesprechung brechen an. Jamal stellt eine Frage. Abraham lacht und sagt: „Jamal crazy.“ Innerhalb von drei Sekunden eskaliert die Situation komplett. „Ich crazy?“, fragt Jamal. „Ja“, ist die Antwort. Jamal wirft Abraham seinen Spitzer ins Gesicht. Sodann springt er gewissermaßen über zwei seiner Mitschüler und beginnt Abraham ins Gesicht zu schlagen. Dieser wehrt sich nach Kräften. Zu fünft trennen wir die beiden (gar nicht so einfach, wenn noch Tische im Weg sind).

Eine Prügelei hatten schon viele meiner Kolleginnen und Kollegen im Klassenzimmer. In meinem Fall sind zum Glück dem Augenschein nach zwei sehr unerfahrene Kämpfer aufeinandergetroffen. Außer ein paar verschobenen Tischen ist nichts passiert. Letztes Jahr hat ein Jugendlicher aus einer anderen Klasse in seiner Wut den Handtuchhalter aus der Wand gerissen und ist auf einen anderen losgegangen, der sich wiederum mit einer Flasche gewehrt hat. Meine Illusion, ich könne solche Vorfälle rechtzeitig entschärfen, hat sich aufgelöst. Drei bis fünf Sekunden sind schon eine sehr kurze Zeit für eine rechtzeitige Intervention.

Es ist Pause. „Janosch, ich habe eine Frage“, sagt Masut, „ du hast eine Freundin und die Familie von Freundin wissen, ist das ein Problem?“ Meistens nicht, antworte ich. „Und ich habe eine andere Frage.“ Ja, Masut? „Alle Leute sagen: Masut, du bist Müslüman, das kein Problem. Aber in Deutschland nur eine Frau! Ich sagen ok, in Deutschland nur eine Frau. Aber gestern ich habe ein Serie geschauen, Berlin Tag und Nacht. Und dort ist eine Frau mit zwei Mann. Warum?“

Als ich nach der Pause zurück ins Klassenzimmer komme, ist es in eine Theaterbühne verwandelt. In der Hauptrolle: Farid, als eine sehr resolute afghanische Mutter mit Kopftuch (eben noch das vergessene Halstuch meiner Kollegin), die ihre Kinder mit Schlägen zum Lernen animieren will. „Bechan! Bechan!“ – „Lies! Lies!“ Abraham sitzt lachend im Publikum und filmt das Schauspiel mit seinem Handy. Für Abwechslung ist gesorgt in der Alphabetisierungsklasse. Und jetzt: Deutsch! Denn Deutsch machen wir auch noch.

Eines Tages erfahre ich Masuts Geschichte. Auf seiner Flucht hat er sein Handy mit allen Kontaktdaten seiner Familie verloren. Er und die anderen Flüchtlinge mussten auf ihrer Schiffsfahrt von der Türkei nach Italien kurz vor der Küste ins Wasser springen. Ein kurzer Moment, und der einzige Kontakt nach Hause – weg.

Der Schultag neigt sich seinem Ende. Für einen Clearing-Bericht besuche ich Ali Reza, den Jungen mit den Karohemden und der gepflegten Frisur, im Wohnheim. Ich tausche mich mit seiner Betreuerin über ihn aus. „Schon so bedacht und einer meiner besten Schüler“, sage ich. „Eigentlich noch ein Kind“, antwortet sie. Immer wenn ein Dolmetschertermin in ihrem Büro ansteht, erzählt sie, setzt sich Ali Reza mit seinen 16 Jahren zuerst auf den Boden und spielt mit dem Stoffpony, das in der Spielzeugkiste für kleine Kinder ist. Nachts schläft Ali Reza übrigens in Micky-Maus-Bettwäsche. Wenn es nicht die Realität wäre, würde man es kaum glauben.

Unser Klassenzimmer ist alles: Grundschulklasse, Therapieraum, Boxring, Krankenzimmer, Kaffeekränzchen, Grammatiklehrstube, Dr.-Sommer-Ecke. Es ist der schwierigste und schönste Job, den ich bislang hatte.

  1. Namen geändert