Kein Weg in die EU

Wie Europa Flüchtlinge auf das Mittelmeer drängt

Die europäischen Staaten sind verantwortlich dafür, dass es keine legalen Fluchtwege nach Europa gibt. Deshalb müssen Menschen auf die gefährlichen Routen über das Mittelmeer ausweichen. Jonas Seufert gibt einen Überblick über mehrfach verschlossene EU-Türen.

Bis zu 700 Menschen sind am Wochenende im Mittelmeer ertrunken, so schätzt die UN. Damit würde die Zahl der Toten allein im Jahr 2015 auf 1500 steigen. Politiker*innen in Europa und auch der UN-Sicherheitsrat haben die Schuldigen schnell ausgemacht: Das skrupellose Schlepperwesen, das scheinbar nicht davor zurückschreckt, Schutzsuchende zu Hunderten auf seeuntüchtige Kähne zu pferchen.

Diese Schleuser*innen gibt es, ohne Frage. Und es ist verwerflich, dass sie aus der Notsituation von Geflüchteten horrende Profite schlagen. Doch übersehen De Maizière, Hollande und Co. eines bei ihrer Analyse: Die europäischen Staaten sind verantwortlich dafür, dass es keine legalen Fluchtwege nach Europa gibt. Deshalb müssen Menschen auf die gefährlichen Routen über das Mittelmeer ausweichen.

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Schengen: der Start der Abschottung

Mit dem Beginn des Schengen- Abkommens 1985 beginnt auch die Geschichte des Aufbaus der „Festung Europa“. Die Grundidee: Freizügigkeit nach innen, Absicherung nach außen. So wurde der Grenzschutz an den Außengrenzen verstärkt, Visabestimmungen verschärft. Ziel war die Kontrolle über möglichst alle Migrationswege: über Land, Wasser und Luft.

Frontex in der Kritik

Ein Ausdruck dieser politischen Haltung ist die europäische Grenzschutzagentur Frontex. Gegründet im Jahr 2004 mit einem Etat von wenigen Millionen Euro wird sie im Jahr 2015 mit über 114 Mio. Euro von den EU- Ländern ausgestattet. Entgegen häufiger Annahmen ist Frontex selbst keine Grenzpolizei, koordiniert aber sehr wohl die Arbeit der Grenzpolizeien der EU- Mitgliedstaaten. Seit Dezember 2013 steht der Agentur dafür das satellitengestützte Überwachungssystem Eurosur zur Verfügung, das in Echtzeit Bilder von menschlichen Bewegungen im Mittelmeerraum und in Osteuropa liefert. Offiziell soll das Programm die Sicherheit der Geflüchteten gewährleisten und die Seenotrettung unterstützen. Durch das System kann aber zum Beispiel das Ablegen der Boote an der afrikanischen Nordküste verhindert bzw. Boote auf offene See zurückgedrängt werden.

Solche „Push-Backs“ hat es in der Vergangenheit immer wieder gegeben, immer wieder ist auch der Name Frontex gefallen. Dokumentiert sind Vorfälle in der griechischen Ägäis und vor der Küste Italiens, aber auch auf dem Landweg in Bulgarien oder Spanien. Nach der europäischen Menschenrechtskonvention hat jede Person das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Im Jahr 2012 erklärte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte deshalb Push-Backs für unrechtmäßig. Trotzdem finden sie nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen weiter statt.

Von „Mare Nostrum” zu „Triton”

Infolge der gestiegenen Todeszahlen von Geflüchteten auf hoher See hat die italienische Küstenwache vergangenes Jahr das Seenotrettungsprogramm „Mare Nostrum“ ins Leben gerufen. 140 000 Menschen sind dadurch nach Angaben des European Council on Refugees and Exiles in einem Jahr gerettet worden. Mehrfach hat die italienische Regierung die EU-Mitgliedstaaten aufgefordert, sich an den Kosten und der Durchführung zu beteiligen, vergebens: Auch auf Drängen von Innenminister De Maizière wurde das Programm eingestellt und im Herbst 2014 durch die Operation Triton unter der Leitung von Frontex ersetzt. Nicht nur ist der Einsatzbereich der Patrouillenboote auf dem Mittelmeer geringer, auch dient sie vornehmlich der Abwehr von Flüchtlingen und nicht der Seenotrettung, wie Frontex-Chef Gil Arias-Fernandez im Interview bestätigt.

Zäune an den Grenzen

Nicht nur auf dem Mittelmeer, auch an Land hat die EU effektive Mechanismen zur Abwehr von Geflüchteten entwickelt. Meterhohe und mehrstufige Zäune sichern die Grenzen der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla zu Marokko und die griechische Landgrenze zur Türkei. Beides sind beliebte Fluchtrouten nach Europa. Berichte über Push-Backs gibt es auch hier. Erst im Februar letzten Jahres sind 15 Menschen an der Grenze zu Ceuta ums Leben gekommen, da die spanische Polizei Gummigeschosse und Tränengas gegen die Geflüchteten einsetzte.

Die Auslagerung der Grenze

Doch die EU scheint nicht nur auf die Abwehr an der Grenze selbst zu setzen, sondern bezieht Nachbarstaaten in ihre Migrationspolitik mit ein. In Libyen sperren die Behörden Geflüchtete regelmäßig in Gefängnisse – finanziert von der EU. Vor einigen Wochen wurde bekannt, dass auch in der Ukraine solche Einrichtungen existieren, in die Asylsuchende ohne Anklage für bis zu ein Jahr eingesperrt werden. Ihr einziges „Vergehen“: Das Durchqueren der Ukraine auf dem Weg in die EU. In diesen Tagen auch so kein ungefährliches Unterfangen.

Die „Externalisierung“ der Grenze, d.h. das Abfangen der Geflüchteten schon bevor sie das Territorium von EU-Staaten betreten ist auch offizieller Teil der EU- Politik. Dabei spielen so genannte „Rücknahmeabkommen“ eine zentrale Rolle. Hierbei verpflichten sich EU- Nachbarstaaten, Geflüchtete aus der EU aufzunehmen, die über ihr Territorium eingereist sind. Das Problem: In den betroffenen Staaten besteht häufig kein funktionierendes Asylsystem, die Geflüchteten landen in der Illegalität oder werden direkt weitergeschoben. Die EU hat mit der Türkei Ende 2013 das 14. Rücknahmeabkommen unterzeichnet, auch mit der Ukraine besteht ein solches Abkommen. Darüber hinaus gibt es bilaterale Verträge zwischen einzelnen Staaten der EU und Anrainerstaaten, so z.B. zwischen Libyen und Italien. Das Prinzip ist immer ähnlich: Für das Unterzeichnen eines solchen Abkommens gibt es im Gegenzug etwas von der EU. Es kann eine Beitrittsperspektive sein, ebenso Visaerleichterungen (so im Fall Türkei) oder die Verbesserung der Handelsbeziehungen.

Die EU unterstützt auch selbst Grenzkontrollen in umliegenden Staaten aktiv oder schickt Ausbilder*innen, um die Polizeieinheiten vor Ort zu schulen. Im Rahmen der EU Border Assistance Mission bestehen solche Programme in der Ukraine, in Moldawien und in Libyen. Vor allem in Libyen gibt es nach wie vor keine rechtstaatlichen Strukturen, die die Maßnahmen des Grenzschutzes kontrollieren könnten.

Passkontrollen auf dem Luftweg

Die EU- Außengrenzen selbst werden stark kontrolliert. Zudem hat die EU in Kooperation mit den Anrainerstaaten ein „Pufferzone“ errichtet, um Schutzsuchende schon vorher abfangen, oder sie möglichst schnell ausweisen zu können. Bleibt noch die Möglichkeit, mit dem Flugzeug einzureisen. Doch auch hier greifen die Prinzipien der Externalisierung. Eine EU- Richtlinie besagt, dass Beförderungsunternehmen, die Personen ohne gültige Dokumente transportieren, die Kosten für deren Rückflug tragen und Geldstrafen von mehreren tausend Euro zahlen. (Council Directive 2001/51/EC vom 28. Juni 2001) Auf dieser Grundlage hat die Bundesregierung im Jahr 2012 knapp 1500 Zwangsgelder in Höhe von insgesamt 2,35 Mio. Euro gegen Flugunternehmen verhängt. Viel bedenklicher ist jedoch, dass private Flugfirmen dazu angehalten werden, eigenständig Passkontrollen durchzuführen, um den Strafen zu entgehen. Die hoheitliche Aufgabe der Grenzkontrolle wird so auf private Firmen übertragen. Wer flieht hat häufig nicht die passenden Dokumente und kann so auch per Flugzeug die EU nicht erreichen.

In Deutschland: Flughafenverfahren

Zudem gilt in Deutschland für all diejenigen, die am Flughafen keine Dokumente vorweisen können oder aus einem per Gesetz ernannten „sicheren Herkunftsstaat“ kommen, das Flughafenverfahren. Hierbei bleiben die Menschen für die Zeit des Verfahrens im Transitbereich des Flughafens, eine Entscheidung über den Antrag wird in wenigen Tagen gefällt. Menschenrechtsorganisation kritisieren die gefängnisähnlichen Zustände und die mangelnden rechtlichen Widerspruchsmöglichkeiten. Der EGMR hat das Flughafenverfahren in Frankreich bereits gerügt. Fraglich ist, ob diese Entscheidung auf das deutsche System übertragbar ist. Das Bundesverfassungsgericht hat das Flughafenverfahren 1996 als verfassungskonform eingestuft.

Die Fortsetzung der Logik: Asylzentren in Nordafrika

Die Logik der Auslagerung greift auch bei dem jüngsten Vorschlag der EU- Innenminister*innen, in EU- Nachbarstaaten so genannte „Willkommenszentren” zu errichten. Dort sollen Asylanträge direkt geprüft werden, ohne dass die Betroffenen in die EU einreisen müssen. Vor 10 Jahren vom heutigen Finanzminister Schäuble noch als „Internierungslager am Rande der Sahara” diffamiert ist heute Bundesinnenminister de Maizière einer der größten Befürworter dieser Asylzentren.

Sicherlich, Schutzsuchende müssten so zunächst nicht den gefährlichen Weg in die EU antreten. Doch was, wenn deren Anträge in den Lagern abgelehnt werden? Es ist nachvollziehbar, dass Menschen sich dann trotzdem auf den Weg in die EU machen.

Auf dem Territorium der EU- Staaten steht den Geflüchteten ein effektiver Rechtsschutz zu, um gegen die Entscheidungen der Behörden zu klagen – im Notfall bis zum EGMR in Straßburg. Dieser Schutz wäre ihnen jedoch in einem Zentrum in Nordafrika versagt. Durch die Auslagerung der Asylprüfung würde die EU ein rechtsstaatliches Asylverfahren nicht mehr garantieren können.

Das Flüchtlingslager in Choucha, Tunesien zeigt, wie wahrscheinlich es ist, dass die EU darauf setzt, dass Geflüchtete EU- Boden nicht mal mehr erreichen. Tausende Menschen saßen dort ab 2012 über 18 Monate fest – trotz internationaler Zusagen. Deutschland hat schließlich 195 Betroffene aufgenommen.

Das Schlepperwesen ist eine unmittelbare Folge der EU- Asylpolitik. Ein Sammelsurium an Strategien verhindert, dass es legale Fluchtwege in die EU gibt. Entscheidungsträger*innen müssen hier nun selbstkritisch ansetzen. Sonst ist es nur eine Frage der Zeit bis sich Katastrophen wie die des vergangenen Wochenendes wiederholen.